Aus Politische Berichte Nr. 01/2019, S.18 InhaltsverzeichnisPDFPB-Archiv

Niedriglohnsektor in Europa: Uneinheitliche Entwicklung

Rolf Gehring, Brüssel

01 Deutschland: Bis zu 17,1 Prozent mehr Entgelt in der Geldtransportbranche

02 Estland: unbezahlte Überstunden

03 Portugiesische Reinigungskräfte im Streik

04 Rumänien: Lohnstreik bei der U-Bahn

05 Deliveroo-Fahrer vom spanischen Gericht als Arbeitnehmer anerkannt

06 Großbritannien: Gericht verweigert Deliveroo-Fahrern Recht auf Tarifverhandlungen

07 Schwedischer Gewerkschaftsverband startet Aktionen gegen wachsende Ungleichheit

08 UK: wachsende Armut

dok: Blick in die Presse – thema: Niedriglohnsektor – Rosemarie Steffens, Langen

09 Niedriglohnsektor in Ostdeutschland deutlich größer.

10 Zwangstarife sind überflüssig, höhere Löhne kommen fast von selbst, Fachkräfte aber nicht!

11 Lohnerhöhungen im Gebäudereiniger-Handwerk. (Bonn)

Tarifvertragliche Bindung und gewerkschaftliche Organisationsgrade sind in vielen Ländern unter Druck und rückläufig. Auf der anderen Seite haben Gewerkschaften, z. B. Verdi im Logistikbereich oder die IG Bau im Reinigungssektor, Organisationserfolge und sind hier und da auch in Bereichen streikfähig, denen man das bis dato nicht zugetraut hätte. Gleichzeitig finden sich aber auch übelste Ausbeutungsformen, die auf (in der Gesellschaft teils akzeptierten) Geschäftsmodellen wie Scheinselbständigkeit, betrügerischer Entsendung, Briefkastenfirmen oder direkter Sklaverei (in Teilen der englischen Bauwirtschaft) beruhen. Die folgenden Meldungen zeigen einige Aktionen und Entwicklungen aus den letzten Monaten. Es ist keine umfangreichere Übersicht, aber die Uneinheitlichkeit der Verläufe springt doch ins Auge. Dänemark mit einem Tarifvertragsprojekt für die Plattformökonomie (PB 11/2018, S. 17) oder England mit einem wachsenden Herr von Armen in Arbeit oder auch die widersprüchlichen Gerichtsentscheidungen zum Arbeitnehmerstatus bei Deliveroo zeigen dies.

01

Deutschland: Bis zu 17,1 Prozent mehr Entgelt in der Geldtransportbranche

Der Tarifkonflikt in der Geld- und Wert-Branche ist beendet, die Warnstreiks sind beendet. Verdi hat sich in der fünften Verhandlungsrunde mit den Arbeitgebern auf ein Ergebnis geeinigt, das deutliche Entgelterhöhungen für die rund 11 000 Beschäftigten der Branche bringt. Der Tarifvertrag, der eine Laufzeit von zwei Jahren hat, sieht eine Anhebung der Entgelte in zwei Stufen zwischen 7,7 und 17,1 Prozent vor. „Das ist ein hervorragendes Ergebnis. Die hohe Beteiligung der Beschäftigten an den Warnstreiks zum Jahresauftakt hat dies möglich gemacht“, sagte Verdi-Verhandlungsführer Arno Peukes. Das Tarifergebnis sei zudem ein weiterer wichtiger Schritt hin zur Angleichung der Entgelte zwischen den Bundesländern. Das Tarifergebnis steht noch unter dem Vorbehalt der Zustimmung der Tarifvertragsparteien, Erklärungsfrist bis zum 24. Januar 2019.

https://www.verdi.de/

02

Estland: unbezahlte Überstunden

Laut einer kürzlich in Tallin veröffentlichen Studie, die auf Befragungen von mehr als 4 000 Beschäftigten beruht, macht etwa jeder fünfte Arbeitnehmer in Estland Überstunden. 21 Prozent der Beschäftigten erhalten keine zusätzliche Vergütung für Überstunden, und nur 24 Prozent der Arbeitnehmer werden für ihre Überstunden korrekt vergütet, im Jahr vorher waren dies noch 26 Prozent. Überproportional verbreitet sind Überstunden bei Führungskräften; mehr als die Hälfte (56 Prozent) gaben an, dass sie in letzter Zeit oft Überstunden gemacht haben. Die Studie vermutet hier einen direkten Zusammenhang mit der Beschäftigtenzufriedenheit. Bis zu zwei Drittel der Befragten sind mit der Qualität der Führung nicht zufrieden. Überstunden sind besonders in der Bauwirtschaft, dem Transportgewerbe, der Logistik und den IT-Sektoren verbreitet. Die geringsten Überstunden wurden im Bereich Unterstützung und Finanzen gemacht.

Quelle: https://m.baltictimes.com/article/jcms/id/142552/

03

Portugiesische Reinigungskräfte im Streik

Im November 2018 haben portugiesische Reinigungskräfte der Gewerkschaft STAD in Portugal Arbeitskampfmaßnahmen eingeleitet und durchgeführt. Reinigungskräfte in Portugal sind seit 14 Jahren ohne Tarifvertrag. Konkrete Forderungen sind unter anderem eine Prämie von 30 bis 50 Prozent für Nachtarbeit, Urlaubsgeld, eine Sonntagsprämie und Beschäftigungssicherheiten bei Betriebsübergängen. Gewerkschaftsvertreter aus ganz Europa unterstützen die portugiesischen Reinigungskräfte in ihrem Kampf um Tarifverträge und angemessene Löhne.

Quelle: https://www.uniglobalunion.org/news/solidarity-stad-and-portuguese-cleaners-strike

04

Rumänien: Lohnstreik bei der U-Bahn

Ende November hatten die U-Bahn-Beschäftigten in der rumänischen Hauptstadt einen zweistündigen Streik durchgeführt, um ihre Lohnforderungen durchzusetzen … Die Gewerkschaft fordert eine Lohnerhöhung von 42 %, das Management hatte bis dahin 18 % angeboten. Der Verkehrsminister sprach von einer Erpressung. Aktuell erhalten die U-Bahn-Beschäftigten einen durchschnittlichen Monatslohn von 7300 Lei (1558 Euro), und damit deutlich mehr als im nationalen Durchschnitt.

Quelle: https://o.canada.com/pmn/business-pmn/subway-workers-stage-strike-over-wages-in-romanian-capital/wcm/1be31cd6-9f11-4d5e-b339-b1da61af3ba6

05

Deliveroo-Fahrer vom spanischen Gericht als Arbeitnehmer anerkannt

Deliveroo-Fahrer sollten künftig als Beschäftigte und nicht als Selbständige behandelt werden, entschied ein spanisches Gericht, das den ersten europäischen Präzedenzfall für die Rechte der Angestellten der Food Courier Group befasste. Der valencianische Lieferer Victor Sanchez hatte gegen die Kündigung durch Deliveroo geklagt. Laut Gerichtsurteil hätte Deliveroo hätte ihn als einen Angestellten und nicht als selbständigen Auftragnehmer behandeln sollen. Das Unternehmen gab bekannt, dass es auf seine Beschwerde verzichtet.

Quelle: https://www.thenational.ae/world/europe/deliveroo-rider-recognised-as-employee-by-spanish-court-1.789583

06

Großbritannien: Gericht verweigert Deliveroo-Fahrern Recht auf Tarifverhandlungen

Den Fahrern von Deliveroo wurde das Recht auf Tarifverhandlungen verweigert, so das oberste Gericht in London im jüngsten Rechtsstreit, der die Gig-Economy betraf.

Die Unabhängige Arbeitergewerkschaft Großbritanniens (IWGB – Independent Workers Union of Great Britain) versuchte, eine Entscheidung aufzuheben, in der festgestellt wurde, dass die Fahrer des Unternehmens kein Recht auf Kollektivverhandlungen haben, weil sie „selbständig“ sind. Die Gewerkschaft zielt darauf, Deliveroo-Fahrer vertreten zu können, um mit dem Unternehmen über Fragen der Arbeitsbedingungen zu verhandeln. Im vergangenen November lehnte das Central Arbitration Committee (CAC) den Antrag des IWGB auf Vertretung von Fahrern im Norden Londons ab, da die Fahrer eine Stelle an einen Stellvertreter übergeben konnten, was bedeutet, dass sie nicht verpflichtet waren, einen „persönlichen Dienst“ zu erbringen und nicht als „Arbeiter“ eingestuft werden konnten. Bei einer Anhörung hat das Gericht nach Ansicht des Anwalts der Gewerkschaft den Begriff des Arbeitnehmers falsch ausgelegt. Er sagte, die Fahrer wollten, dass ihre Gewerkschaft mit Deliveroo kollektiv insbesondere über Bezahlung, Arbeitstage und Feiertage verhandelt. Das Gericht interpretierte die Stellung als Form der Selbständigkeit, da sie Aufträge weitergeben könnten. Sie seien auch nicht in ihrem Recht beschnitten, einer Gewerkschaft beizutreten.

Quelle: https://www.ft.com/content/51fb5da8-f879-11e8-af46-2022a0b02a6c

07

Schwedischer Gewerkschaftsverband startet Aktionen gegen wachsende Ungleichheit

Der Dachverband der schwedischen Gewerkschaften (LO, Landsorganisationen) hat ein Programm zur Umverteilung von Wohlstand aufgelegt. Schweden war lange Zeit eines der fünf egalitärsten Länder der Welt, ist jedoch in den letzten zehn Jahren auf Platz 10 dieser Rangliste gerutscht. Die Kampagne hat zum Ziel, Schweden in Bezug auf die Gleichstellung wieder an die Spitze zu bringen. Dies soll durch eine veränderte Besteuerung von Kapitaleinkommen erreicht werden. Elemente des Steuersystems, die eine Umverteilung auf Kosten der Lohnempfänger bewirken, sollen korrigiert werden. Zweitens sollten die Unterschiede in Bezug auf Wohlstand und Dienstleistungen zwischen den städtischen und ländlichen Gebieten des Landes ausgeglichen werden. Drittens sollten die Arbeitslosenversicherung und die Krankenversicherung novelliert werden, um Arbeitnehmern bei Arbeitslosigkeit und Krankheit 80 Prozent der aktuellen Löhne zu sichern. Viertens soll das Rentensystem reformiert werden. Zielsetzung: mindestens 70 Prozent des vorherigen Entgeltes als Rente. Fünftens sollte das System der Sozialhilfe für Menschen in sozialen Notlagen verbessert werden.

Quelle: http://www.lo.se/start/nyheter/lo_presenterar_program_for_ekonomisk_omfordelning

08

UK: wachsende Armut

Die Zahl der Arbeiter, die in die Armut leben, steigt schneller als die Beschäftigung, sagt die Joseph Rowntree Foundation (JRF), eine englische Wohltätigkeitsorganisation. Im Vereinigten Königreich sei im 21. Jahrhundert mit dem Eintritt in die Arbeitswelt immer weniger das Erreichen einer halbwegs guten Lebenssituation verbunden. Laut JRF leben mehr als 14 Millionen Menschen in Armut oder etwa jeder fünfte Einwohner des Vereinigten Königreichs. Davon sind 8,2 Millionen Erwachsene im erwerbsfähigen Alter, 4,1 Millionen Kinder und 1,9 Millionen Rentner. Acht Millionen Menschen leben in Armut in Familien, in denen mindestens eine Person arbeitet. Dies entspricht etwa einem Achtel der Gesamtbeschäftigten. Grund hierfür seien schwache Lohnzuwächse, einer Erosion der Sozialhilfe und steigende Lebenshaltungskosten. Es bleibe immer weniger Geld für Lebensmittel, Kleidung und Unterkünfte.

Als direkte Folge sind in den letzten fünf Jahren eine halbe Million mehr Kinder in Armut geraten und erreichten im vergangenen Jahr 4,1 Millionen, so ein Bericht der Wohltätigkeitsorganisation. Das bedeutet, dass in einem typischen Klassenzimmer mit 30 Kindern neun aus einem Haushalt in Armut kommen würden.

Quelle: https://www.theguardian.com/business/2018/dec/04/four-million-british-workers-live-in-poverty-charity-says

dok: Blick in die Presse – thema: Niedriglohnsektor – Rosemarie Steffens, Langen

09

Niedriglohnsektor in Ostdeutschland deutlich größer. Der Anteil der Niedriglohnempfänger hat sich in den letzten zwei Jahren leicht verringert, trotzdem beträgt der Anteil in Deutschland ca. 20 Prozent der Arbeitnehmer. In Sachsen, Sachsen-Anhalt und Thüringen arbeiten 36 Prozent der Erwerbstätigen im Niedriglohnsektor. Im Klartext heißt das ein Stundenlohn von etwa 10 Euro. Deutlich weniger Arbeitnehmer seien gewerkschaftlich organisiert. I. Dingeldey vom Institut Arbeit und Wirtschaft der Universität Bremen: „Die Tarifbindung ist in Ostdeutschland wesentlich geringer als in Westdeutschland.“

(MDR aktuell Radio, 8.12.18)

10

Zwangstarife sind überflüssig, höhere Löhne kommen fast von selbst, Fachkräfte aber nicht! Die Bundesagentur für Arbeit (BA) meldet für Dezember 2018 rund 24 000 offene Stellen in der Altenpflege und stellt in allen Bundesländern einen gravierenden Fachkräftemangel dort fest. … „Diese Zahlen machen deutlich, dass trotz rasant steigender Beschäftigungs- und Ausbildungszahlen in der Altenpflege, der Arbeitsmarkt hier schon längst zu einem Arbeitnehmermarkt geworden ist. D.h. nach den Gesetzen der Sozialen Marktwirtschaft, Bewerberinnen und Bewerber bestimmen für eine Stelle die Konditionen, denn sie können zwischen zahlreichen Angeboten auswählen. … Das macht auch der kräftige Anstieg der Löhne in der Altenpflege deutlich. Die Löhne sind von 2016 auf 17 nicht nur stärker als die Löhne in der Gesamtwirtschaft gestiegen, sondern sie stiegen auch stärker als es die Tariflohnerhöhung für die Beschäftigten in der Altenpflege vorsah. Der Fachkräftemangel ist also bei den Löhnen angekommen und dieser Trend wird noch einige Jahre anhalten“, so der Präsident des bpa- Arbeitgeberverbands R. Brüderle.

9.1.19. Pressemitteilung BPA- (Bundesverband privater Anbieter soziale Dienste)

11

Lohnerhöhungen im Gebäudereiniger-Handwerk. (Bonn) – Seit 1.1.19 tritt eine weitere Lohnerhöhung für die Beschäftigten des Gebäudereiniger-Handwerks in Kraft. Der tarifliche Mindestlohn beträgt jetzt 10,56 Euro im Westen und 10,05 Euro im Osten statt bislang 10,30 Euro bzw. 9,55 Euro. Damit liegen die tariflichen Mindestlöhne hier deutlich über dem gesetzlichen Mindestlohn von aktuell 9,19 Euro.

(Innung des Gebäudereiniger-Handwerks.)