Aus Politische Berichte Nr. 01/2019, S.22 InhaltsverzeichnisPDFPB-Archiv

Kalenderblatt 3.Mai 1900 Deutschland

01 Gemeinde Kollegium München startet „fachliche obligatorische Fortbildungsschule“ . Martin Fochler, München

02 Fortbildung für Mädchen – Helene Sumper (1854 bis 1926), Eva Detscher, Karlsruhe.

03 Helene Sumper, Biografische Daten:

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Gemeinde Kollegium München startet „fachliche obligatorische Fortbildungsschule“

Am 3. Mai 1900 beschloss das Gemeinde-Kollegium der bayerischen Landeshaupstadt München, einstimmig „die bisherige allgemeine obligatorische durch die fachliche obligatorische Fortbildungsschule zu ersetzen.“

Martin Fochler, München

Die Organisation der Fortbildungsschulen nach Fachrichtungen und Berufsgruppen wurde mit großem Elan angepackt und war 1907 weitgehend vollendet. Der Grundzug der neuen Organisation, so zitiert Walter Demmel* in einer 1978 erschienen Schrift den damaligen Stadtschulrat Kerschensteiner, „bestünde darin: ,das berufliche und staatsbürgerliche Leben des jugendlichen Arbeiters zum Mittelpunkte des Schulunterrichtes zu machen und zwar unter möglichster Betonung der praktischen Arbeit‘. Die Hauptmerkmale seien: ,eine streng berufliche Gliederung der gesamten Fortbildungsschule in fachliche Gruppen, die Einführung von Werkstätten als Grundlage des gesamten Unterrichtsbetriebes, die Ausschaltung jeglichen Abendunterrichtes und die Anstellung geeigneter Fortbildungsschullehrer im Hauptamte.‘“ (Walter Demmel, S. 13*)

Fortbildungsschulen im 19ten Jahrhundert

Für die gebildeten Klassen endete der Bildungsprozess mit der Reifeprüfung, der Pforte zu Studium und Führungsaufgaben. Für den Nachwuchs der arbeitenden Klassen insgesamt und darüber hinaus für den großen Teil der Frauen war nach der Schulpflicht die Arbeit im Gewerbe oder im Haushalt das Übliche. Die Fortbildungschulen schließen an die allgemeine Schulpflicht an.

Mit dem beginnenden Industriezeitalter erfahren die Gewerbetreibenden, dass sie dem beruflichen Nachwuchs im engen Rahmen ihres Geschäfts die nötigen Fachkenntnisse nicht ausreichend vermitteln können. Es entstehen Fachschulen zur Vermittlung von Kenntnissen. Handelsrecht, Korrespondenz, Fremdsprachen, aber auch Rechnen, technisches Zeichnen, Konstruktion werden neben der Arbeit, namentlich an Sonn- und Feiertagen, oftmals auch am Abend angeboten.

Neben diese technisch-praktischen Bedürfnisse treten politische: Der Staat und die Kirchen beanspruchen, die jungen Leute den Gesetzen gehorsam und den Geboten der Religion treu zu schulen, kritischen Strömungen dagegen geht es um die Entwicklung der Urteilskraft.

Als Sonntags- und Feiertagschulen lassen die Fortbildungsschulen das Zeitbudget der Arbeitgeber bzw. der Hauswirtschaft unberührt. Gehen sie zu Lasten der Freizeit der Jugend? Eher nicht, denn die Ausgangslage ist das umfassende Kontroll- und Züchtigungsrecht der Arbeitgeber, sie vertreten die elterliche Gewalt. Müssen sie den Besuch von Fortbildungsschulen zulassen, ist das für die Jugendlichen wohl auch ein Schritt in die Gesellschaft, die Öffentlichkeit.

Der gesetzliche Rahmen

Im 1871 gegründeten Deutschen Reich ist die Frage der Fortbildungsschulen in die Gesetzgebung zur Gewerbeordnung eingebettet. Wieso? Der Übergang vom Zunftwesen zur Marktwirtschaft und zur Gewerbefreiheit vollzog sich in den deutschen Ländern langsam. Aus dem 1833 gegründeten Zollverein entstand nach Kriegen unter Führung Preußens das Wilhelminische Kaiserreich, das nach Großbritannien und den Vereinigten Staaten die drittgrößte Industriemacht der Welt darstellte. Im politischen Rahmen des Reichs blieben den Bundesstaaten – vier Königreiche, sechs Großherzogtümer, fünf Herzogtümer, sieben Fürstentümer und drei freien Städte – erhebliche Regelungskompetenzen und in diesen Herrschaftsgebieten hatten die Städten Gestaltungskompetenzen. So konnte München im Königreich Bayern eigene Konzepte entwickeln.

Nachdem 1873 die Zollunion durch reichsweite Freizügigkeit ergänzt wurde, wurden Rahmenbestimmungen unentbehrlich. Eine jahrzehntelange Arbeit an der Gewerbeordnung versucht sich an der Einbettung des Handwerks in die moderne Industriegesellschaft. Dabei kommt auch die innere Organisation des Handwerks, seine Gliederung nach Lehrlingen, Gesellen und Meistern und die Fortbildung als Aufgabe der öffentlichen Hand zur Sprache.

Die Reichsgesetze in Sache Fortbildungsschule gelten durchweg „fakultativ“, d.h. die Einrichtung wird dem „eigenen Ermessen“ der Bundesstaaten, der Kommunen und bis zu einem gewissen Grade sogar dem der jeweiligen Handwerksinnungen und -kammern anheimgestellt. Das bedeutet: Wenn die zuständigen Behörden solche Einrichtungen beschließen, müssen die davon belasteten Privaten – Gewerbetreibende, Haushaltsvorstände usw. – den damit verbundenen Eingriff in ihre gewohnten Rechte hinnehmen.

Das Verfahren ermöglicht Anpassungsprozesse, die der Konfliktvermeidung mit den traditionsgebundenen Bevölkerungsteilen dienen. Den sozialen und politischen Emanzipationsbewegungen wiederum bietet es Chancen, vor Ort und im Verein mit anderen etwas Konkretes durchzusetzen. Obwohl sich auf dem Bildungssektor eine große Zahl sozial und emanzipativ motivierter Menschen einsetzt, schlägt sich dieses Engagement kaum in Initiativen für die Reichsgesetzgebung oder die Parteiprogrammatik nieder. Wieso?

Lesen wir in einer Petition, die der Rheinisch-Westfälische Frauenverband am 1. November 1905 mit dem Ziel einreicht, die Fortbildungsschule auch für Mädchen obligatorisch zu machen: Durch ortsstatuarische Bestimmung einer Gemeinde oder eines weiteren Kommunalverbandes sollen auch in gewerblichen Betrieben beschäftigte weibliche Gehilfen, Lehrlinge und Arbeiterinnen unter 18 Jahren zum Besuche einer Fortbildungsschule verpflichtet werden können, soweit die Verpflichtung nicht landesgesetzlich besteht. Der Reichtagsberichterstatter zitiert wörtlich aus der Begründung des Verbandes:

„Die Zahl der aus der Volksschule entlassenen Mädchen, welche einen gewerblichen Beruf ergreifen, wächst von Jahr zu Jahr. Da diese Mädchen meistens nach der Schulentlassung dem Erwerbe nachgehen, haben sie selten Zeit und Gelegenheit, sich die nötigen theoretischen Kenntnisse für ihr Gewerbe sowie eine gründliche Ausbildung für ihren zukünftigen Hausfrauenberuf anzueignen. Mit mangelhafter, häufig auch gar keiner Vorbereitung auf diesen verantwortungsvollen Beruf treten sie in die Ehe, und ihre Unkenntnis in der Haushaltführung hat in gesundheitlicher, wirtschaftlicher und sittlicher Beziehung die traurigsten Folgen für das Familienleben und somit für die Gesamtheit.

Sollen nicht die größten Schäden für unser Volk daraus erwachsen, so muß hier für Abhilfe gesorgt werden, indem die Mädchen geordneten Unterricht sowohl in häuslichen als auch gewerblichen Fächern erhalten und zwar in Fortbildungsschulen mit Pflichtbesuch.“

Hier wird aus entgegengesetzten Richtungen argumentiert, denn es kommt nicht auf die Logik der vorgebrachten Kritik an, sondern auf die Wirkung der angestrebten punktuellen Gesetzgebung. Die Argumentationen zur Begründung der fachlichen Fortbildung der arbeitenden Jugend sind immer gemischt. So wie bei den Frauen die Mutterschaft geht es bei den Männern um die Tauglichkeit zum Soldaten.

Den Parteien der Zeit aber geht es um politische Geschlossenheit. Sie können solche Impulse nicht verarbeiten. Zudem kann die fachliche Ausrichtung des Unterrichts als Entzug von Allgemeinbildung gedeutet werden.

Arbeit und Facharbeit – eine These

Trotzdem gehört der Vorgang unter die Wegemarken der Emanzipation. Es geht um die Gestaltung der Arbeit als Facharbeit, um die Entwicklung des Menschen von bloßen Anhängsel der Maschine oder sprachlosen Rädchen im Getriebe zur Person mit eigenem Urteil über den Arbeitsprozess. Schon die Chance, einer unerträglichen Arbeitssituation durch Kündigung zu entrinnen, nimmt sprunghaft zu, wenn die Fachausbildung breit angelegt ist. Es verschiebt sich auch etwas im Verhältnis zum Vorgesetzten. Mit der „Fachkunde“ kommt ein Element von Diskurs in die Beziehung von Befehl und Gehorsam. Das Recht zur Anweisung muss sich sachlich rechtfertigen.

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Abb.(PDF): b: Schulentwicklung Diagramm bzw. Schulbauten

* Walter G. Demmel, Feiertagsschule und Fortbildungsschule. Ein Beitrag zur Schulgeschichte Mündchens im 19. Jahrhunderts. München 1978.

Abb.(PDF): . ebd. S. 52 Diagramm) bzw. 196. (Schulbauten).

**https://www.reichstagsprotokolle.de/Blatt_k12_bsb00003334_00981.html

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Fortbildung für Mädchen – Helene Sumper (1854 bis 1926)

Eva Detscher, Karlsruhe. Die Münchner Hauptlehrerin Helene Sumper wirkte „auch überregional an der Gestaltung des Mädchenschulwesens und einer Verbesserung der beruflichen und sozialen Stellung der Lehrerinnen mit. Mit ihrem Beitrag auf der fünften Generalversammlung des Vereins 1899 in Danzig trug sie entscheidend dazu bei, die polarisierende Sichtweise hinsichtlich allgemeiner und hauswirtschaftlich-praktischer Ausgestaltung der Mädchenfortbildungsschule auf eine einheitliche Perspektive hinzulenken“.[2] Der Anteil der erwerbstätigen Bevölkerung war zwischen 1882 und 1895 um 17,8 Prozent gestiegen und zwar vornehmlich aufgrund des steigenden Anteils erwerbstätiger Frauen. Auch die Anzahl der verheirateten Frauen am Arbeitsmarkt war gestiegen. In Landwirtschaft und Handels- und Verkehrsgewerbe zeigt sich vor allem in den höheren Berufen ein hoher Zuwachs an Frauen, wenn auch dieser Bereich – aufgrund der für Frauen gegebenen Ausbildungsbeschränkungen – damals nur 2,6 Prozent aller weiblichen Erwerbstätigen umfasste (zitiert nach[2]). Die Lebensrealität für Mädchen war im Wandel. „Die weibliche Fortbildungsschule darf weder einen bloß allgemeinen, noch einen rein fachlichen Charakter haben, sondern sie hat am praktischen Stoff allgemeine Bildung zu vermitteln, d.h. sie hat solche Gegenstände in ihren Plan aufzunehmen, welche die Mädchen auf ihren künftigen Beruf vorbereiten“.[3] Damit korrespondiert der Grundsatz, daß der Lehrplan „sich in unmittelbare Verbindung mit dem Leben setzen müsse.[3] Sumper hielt ungezählte Vorträge, vor allem die Frauen- und Mädchenbildung sowie Rationalisierung der Hauswirtschaftsführung betreffend.

Helene Sumper setzte sich vehement für eine Reform der Mädchenbildung ein. Eine Hospitantin der Klenzeschule schrieb: „Vor allem aber arbeitet Frl. Sumper, die Oberleiterin des gesamten hauswirtschaftlichen Unterrichts, unermüdlich am Ausbau einer Methode, die von echt pestalozzischem Geiste durchdrungen, das Arbeits- und Anschauungsprinzip verwirklicht. Davon zeugt die prächtige Sammlung von Verauschaulichungsmitteln, die auf ihre Anregung hin von Lehrerinnen und Schülerinnen selbst geschaffen worden ist. Wir sehen da die Entwicklung der menschlichen Wohnung und Bekleidung, der Beleuchtung usw., die Feinde des Hauses und die Mittel zu ihrer Vertilgung, Spielzeug des Kindes, die zur Kinderpflege notwendigen Gebrauchsgegenstände, eine Zusammenstellung von Nahrungsmitteln usw. Es ist ein kleines Museum, das hier entstanden ist und stets fort vermehrt und verbessert wird“[4] (zitiert nach Wikipedia).

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[5] Helene Sumper, Biografische Daten:

20. Juli 1854 in München, gestorben: 10. Juni 1926 – Tochter eines Metzgermeisters – Volksschule, dann Besuch des Lyceums im Servitenkloster in München[1] – 1872 bis 1875 Kreislehrerinnenseminar in München – Ab 1878 in München als eine der ersten bayerischen Lehrerinnen, die nicht mehr nur provisorisch, sondern mit einer Festanstellung über 30 Jahre lang die fakultative 8. Volksschulklasse unterrichtete. – 1891 Gründerin und Vorsitzende des Münchner und später auch des Bayerischen Lehrerinnenvereins, aktiv im Allgemeinen Deutschen Lehrerinnenverein (gegründet 1890 als Dachverband regional tätiger Vereine) – Ab 1895 auch an der „Fortbildungsschule für Mädchen“ in München, die Kerschensteiner (siehe Haupttext dieses Kalenderblatts) eingeführt hat. Ab November 1918 gehörte sie für die Berufsgruppe der bayerischen Lehrerinnen für zweieinhalb Monate (Dauer der Regierung Eisner) dem Provisorischen Nationalrat an.

[1] Das Kloster hatte die Säkularisationszeit überdauert, indem „die Schwestern 1801 eine neue Aufgabe übernahmen, eine Schule für Mädchen: Volks-, Mittelschule und Lyzeum. 1869 wurde die Schule von ca. 700 Schülerinnen besucht.“ http://www.serviten.de/servitinnen_muenchen/anbetung_2.html. [2] Christine Mayer: „… und daß die staatsbürgerliche Erziehung des Mädchens mit der Erziehung zum Weibe zusammenfällt“ – Kerschensteiners Konzept einer Mädchenerziehung; in Zeitschrift für Pädagogik Jahrgang 38 – Heft 5 – September 1992 [3] Helene Sumper: Fortbildungsschulen für Mädchen. Vortrag im Rahmen der V. Generalversammlung des Allgemeinen Deutschen Lehrerinnenvereins in Danzig 1899 vom 21. bis 23. Mai 1899. In Die Lehrerin in Schule und Haus 15 (1898/99), S 918-925, 953-969 [4] Schweizerische Lehrerinnenzeitschrift 1912/13, H. 1, S. 9 [5] http://gei-digital.gei.de/viewer/image/PPN79997644X/3/

Abb.(PDF): Titelblatt und Textauszug aus dem unter maßgeblicher Mitwirkung von Helene Sumper enstandenen Lesebuch für weibliche Fortbildungs- und Feiertagsschulen.