Aus Politische Berichte Nr. 02/2019, S.22 InhaltsverzeichnisPDFPB-Archiv

kalenderblatt – 19.Januar – 1973– Finnland

01 Das Recht auf Kinderbetreuung förderte die Gleichberechtigung auf den Arbeitsmärkten

02 „Yhdistys 9“ fordert Gleichstellungsdebatte

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Das Recht auf Kinderbetreuung förderte die Gleichberechtigung auf den Arbeitsmärkten

Von Juhani Lohikoski, Helsinki

In Finnland ist die Verstädterung ab 1960 schnell voran geschritten, und gleichzeitig begann der zielstrebige Aufbau des finnischen Wohlfahrtsstaates. Eine der zentralen Neuerungen war in diesem Zusammenhang das zu Beginn der siebziger Jahre verabschiedete „Gesetz über die Kinderbetreuung“.

In den sechziger Jahren befand sich die finnische Gesellschaft in einem großen Umbruch. Noch zwei Jahrzehnte zuvor war Finnland ein stark von der Landwirtschaft geprägtes Land. Ungefähr die Hälfte aller Finnen arbeitete in der Primärproduktion, und etwa drei Viertel der Bevölkerung unseres Landes wohnte in ländlichen Gebieten.

Wichtige industrielle Bereiche gab es in Forstwirtschaft, Metallverarbeitung und Textilindustrie. Infolge der Verstädterung gab es auch im Baugewerbe viele Arbeitsplätze. Im Dienstleistungssektor bestand Bedarf an Arbeitskräften im Transportwesen, im Handel und in der Verwaltung. Der noch bescheidene öffentliche Sektor beschäftigte unter anderem Lehrkräfte, Ärzte und Polizisten. Auch die Bahn war damals ein ausgesprochen großer Arbeitgeber.

Aufgrund der Technisierung in der Land- und Forstwirtschaft sank der Bedarf an Arbeitskräften, viele Kleinbetriebe rentierten sich nicht mehr. Gleichzeitig begann die Industrie, Arbeitskräfte aus dem ländlichen Raum in die Städte abzuziehen. Mit der Schwächung der Stellung von Kleinbetrieben wanderten junge Menschen auf der Suche nach Arbeit vom Land in die Städte. Im Zeitraum 1950 bis 1960 ging die Bevölkerungszahl auf dem Land in Millionenhöhe zurück. Im Jahr 1970 wohnte weniger als die Hälfte der finnischen Bevölkerung auf dem Land.

Die Stellung der Frau auf dem Arbeitsmarkt wird gestärkt

Der finnische Wohlfahrtsstaat nahm im Wesentlichen zwischen 1950 und 1970 Gestalt an. In dieser Zeit wurde die Sozialversicherungspflicht eingeführt und auch das Angebot an Sozial- und Gesundheitsdiensten erheblich erweitert.

Hintergrund der Erneuerung war nach einer langjährigen Spaltung die Einigung innerhalb der Gewerkschaftsbewegung sowie der Wahlsieg der Linksparteien bei den Parlamentswahlen Ende der sechziger Jahre.

In der Folge entstand auch eine der wichtigsten familienpolitischen Neuerungen der siebziger Jahre: das im Jahr 1973 verabschiedete „Gesetz über die Kinderbetreuung“.

Frauen waren bereits seit Beginn der Industrialisierung am Ende des 19. Jahrhunderts am Erwerbsleben beteiligt gewesen. Frauendomänen waren zum Beispiel die Streichholz- und Textilindustrie. In der Anfangsphase der Industrialisierung schieden die Frauen jedoch üblicherweise mit der Familiengründung aus dem Arbeitsleben aus. Gesellschaftliche Umstrukturierung und Verstädterung führten zu einem wachsenden Arbeitskräftebedarf in Dienstleistungs- und Wirtschaftszweigen mit überwiegend weiblichen Beschäftigten sowie im öffentlichen Sektor. Hierdurch entstand der Bedarf, eine Kinderbetreuung einzurichten. Der Zeitraum, in dem Frauen dem Arbeitsmarkt zur Verfügung standen musste verlängert werden.

Die politischen Parteien hatten sehr unterschiedliche Vorstellungen zur Organisation der Kinderbetreuung. Häufig drehten sich die Diskussionen um die Streitfrage, wer Anspruch auf die kommunale Kinderbetreuung haben sollte. Einige waren der Meinung, dass die Höhe des Einkommens Einfluss darauf haben sollte, ob die Familien einen Platz in der kommunalen Kinderbetreuung erhalten, andere wieder drängten die Mütter zurück in den Haushalt. Die linksgerichteten Parteien unterstützten vehement eine öffentlich finanzierte Kinderbetreuung, die Zentrumspartei vertrat ein Kinderbetreuungsgeld für Mütter, die Kinder zu Hause betreuten, und die rechtsgerichtete Sammlungspartei schlug Steuererleichterungen zur Finanzierung einer Haushaltshilfe vor.

Die Organisation der Kinderbetreuung war ein drängendes Problem in den Familien der Arbeiterklasse, wo beide Eltern der Erwerbsarbeit nachgingen und die Mittel der Erziehungsberechtigten für die Bezahlung einer Kinderbetreuung nicht ausreichten. Frauen standen unter dem Druck, wenn irgendwie möglich, zu Hause zu bleiben und die Kinder zu betreuen. Verschiedene Berufszweige und Bürgervereinigungen machten mit unterschiedlichen Petitionen und Demonstration am Ende der sechziger Jahre massiv auf diesen Missstand aufmerksam.

In dieser gesellschaftlichen Situation entstand das Kinderbetreuungssystem. Die Kinderbetreuung wurde zu einer der zentralen gesellschaftspolitischen Maßnahmen, um die Verhältnisse der finnischen Gesellschaft in einem Finnland mit rasch voranschreitender Verstädterung auf eine vernünftigere Basis zu stellen. Die Ideologie hinter der Entstehung der „Dienstleistung Kinderbetreuung“ war stark durch arbeits- und sozialpolitische, aber auch durch Aspekte des Kinderschutzes geprägt.

Vorrangig als Antwort auf die Bedürfnisse der Beschäftigungspolitik konzipiert, beeinflusste die Entstehung des Kinderbetreuungssytems das Wirtschaftswachstum der Gesellschaft sowie insbesondere die Teilnahme der Frauen am Arbeitsleben und die Schaffung von Ausbildungsmöglichkeiten. Es förderte die Gleichberechtigung in der finnischen Gesellschaft.

Vor der Gesetzesreform war die Zahl der Kinderbetreuungsplätze begrenzt gewesen, und dies hatte den Übergang in das Erwerbsleben für Frauen erschwert. Das 1973 in Kraft getretene Gesetz über die Kinderbetreuung verpflichtete die Kommunen dazu, die Verfügbarkeit von Betreuungsplätzen sicherzustellen, wodurch sich innerhalb von wenigen Jahren die Zahl der Betreuungsplätze mehr als verdoppelte.

Das Kinderbetreuungsgesetz beendete auch eine andere Phase in der Geschichte der Früherziehung unseres Landes – die traditionellen Bezeichnungen für die Betreuungseinrichtungen unterschiedlicher Altersgruppen, wie Kindergarten oder Krippe, wurden durch den einheitlichen Begriff „Kindertagesstätte“ (päiväkoti) ersetzt. Gleichzeitig verbesserten sich auch die Betreuungsbedingungen, die über lange Zeiträume nicht einheitlich geregelt und von höchst unterschiedlicher Qualität gewesen waren: zum Beispiel wurde die Qualität der privaten Betreuung durch Tageseltern (perhepäiväkoti) von keiner amtlichen Stelle überprüft. In der Vergangenheit wurde nur im Kinderschutzgesetz darauf hingewiesen, dass es Aufgabe der Kommunen sei, die Tagesbetreuung bedarfsgerecht zu regeln.

Mit der Gesetzesreform entstand Raum für den neuen Gedanken, dass auch Frauen berechtigt sind, eine berufliche Laufbahn zu wählen, und Kinder ein Recht auf gute, fördernde und hochwertige Betreuung außerhalb der häuslichen Umgebung haben.

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„Yhdistys 9“ fordert Gleichstellungsdebatte

Von Juhani Lohikoski, Helsinki

Die sechziger Jahre sind in Finnland eng mit der lebhaften Diskussion über die Gleichstellung der Geschlechter verbunden.

„Im Sommer 1965 hatten Kati Peltola und Ritva Majuri die Absicht, im Restaurant Vanha ein Bier zu trinken. Der Türsteher – Fürst der Eingangstür – kannte seine Anweisungen: Keine Frauen ohne männliche Begleitung! Unzählige weibliche Patrouillen hatten in der letzten Zeit systematisch die Nerven des Berufsstandes getestet, indem sie sich festlich gekleidet und ausgiebig und mit Nachdruck argumentierten. Der Türsteher, Wachhund der Türschwellen, bellte auch jetzt zurück, bis die Frauen schließlich kapitulierten.“

Jetzt ist für Kati das Maß voll. Etwas muss geschehen. – ‚Eine Vereinigung muss her!‘“

Johan von Bonsdorff erzählt in seinen Memoiren* anschaulich, wie alltäglich die Vorurteile gegenüber Frauen in den sechziger Jahren waren. Obwohl die Welt sich in vielerlei Hinsicht veränderte, überdauerten doch viele altmodische Gedanken und behielten ihre Gültigkeit in den Köpfen der Menschen und vor allem in den Amtsstuben der Behörden. Ihre persönlichen Erfahrungen motivierten die Frauen zur Gründung einer neuen gesellschaftspolitischen Organisation.

In den Zeitschriften der neuen Linksbewegung wurde angeregt über die Geschlechterrollen debattiert, und im Februar 1966 wurde in einem vollbesetzten Saal die Yhdistys 9 in Helsinki gegründet.

Yhdistys 9 forderte die volle gesellschaftliche Gleichstellung von Mann und Frau. Die Vereinigung lehnte die Unterordnung der Frau ab, aber auch besondere Freistellungen oder Vorrechte – die Vorstellung politischer Frauenorganisationen, es gäbe in der Politik spezifische „Frauenangelegenheiten“, wurde entschieden zurückgewiesen. Die traditionellen Frauenorganisationen duldeten wiederum keine Demontage des Muttermythos. Ihrer Meinung nach war das Vorrecht der Mutter in der Kindererziehung unanfechtbar.

Im Zuge der Gleichstellungsdebatte taten sich sowohl die in der Arbeiterbewegung als auch in der breiteren Zivilgesellschaft gegründeten Frauenorganisationen stark hervor, um auf Verbesserungen in der Gleichstellungsfrage hinzuwirken.

Die neue Linksbewegung diskutierte ausgiebig darüber, ob das Bestehen unterschiedlicher Frauenorganisationen eine gute Sache wäre. Als problematisch wurde die Frage empfunden, wie auch Männer beteiligt werden könnten, die den Wunsch verspürten, sich für die Gleichberichtigung einzusetzen.

Yhdistys 9 verfolgte von Anfang den Grundsatz, Männer zu beteiligen, und ihre Beteiligung war tatsächlich auch erwünscht. Anfragen wurden positiv aufgenommen. Ein Drittel der Mitglieder der Vereinigung waren dann auch Männer. Im Vorstand fand man sie ebenfalls, und phasenweise übernahmen sie auch die Aufgabe des Vorstandsvorsitzenden.

Yhdistys 9 hat auch das Arbeitsleben nicht vergessen. Durch eine engere Zusammenarbeit mit den Gewerkschaften sollten Verbindungen zur organisierten Arbeiterschaft aufgebaut werden. Ziel war es, die Stellung der Frau sowohl im Arbeitsleben als auch in der Gewerkschaftsbewegung zu stärken.

Gleichberechtigung und Fragen des Berufslebens standen im Mittelpunkt, als die Aktiven von Yhdistys 9 Ende der sechziger Jahre auf einer Demonstration in Helsinki die kommunale Familientagespflege forderten.

Yhdistys 9 ließ in seiner Tätigkeit etwas nach, als spürbar wurde, dass die eigenen Maßnahmen zum Erfolg führten und die Forderungen in die Parteiprogramme und in die gesellschaftlichen Entscheidungsprozesse aufgenommen wurden. Viele Aktive der Bewegung begannen, sich in der Parteipolitik zu engagieren. Zeitgleich entstand 1972 zur weiteren Förderung der Gleichberechtigung der staatliche Beraterausschuss für Gleichstellungsfragen.

* Bonsdorff, Johan: Kun Vanha vallattiin. Tammi, Helsinki 1986, S. 166

Abb. (PDF): Demonstration in Helsinki im Jahr 1968 für eine kommunale Kinderbetreuung. Foto: Nationalarchiv

Abb. (PDF): Auf der Titelseite der finnischen Sozialdemokraten wird der „Yhdistys 9“ am 15. Februar 1966 vorgestellt. Die erste Pressekonferenz des Vereins wird von Kimmo Leppo, Kati Peltola, Ritva Turunen, Klaus Mäkelä und Margaretha Mickwitz vertreten. Arbeiter-Archiv.

Original Finnisch, Übersetzung: Nordica, Zelzate/Belgien. Abb.: www.tyovaenliike.fi/tyovaenliikkeen-vaiheita/alasivu-7/yhdistys-9-ja-laki-paivahoidosta