Aus Politische Berichte Nr. 03/2019, S.04 • InhaltsverzeichnisPDFPB-Archiv

Für eine neue Entspannungspolitik

Dr. Erhard Crome, Vorstandsmitglied des Forschungsinstituts für Internationale Politik der Zeitschrift „Welttrends“ aus Potsdam (siehe Politische Berichte 9/2018), hat am 15. Februar in München einen Vortrag zu Folgerungen aus der Kündigung des INF-Vertrags gehalten.

Dr. Erhard Crome, Potsdam

Als die Mauer fiel und die deutsche Vereinigung vollzogen wurde, hofften viele Menschen in den beiden Deutschländern auf eine gute und vor allem friedliche Zukunft. Heute stehen deutsche Truppen am Hindukusch und in Mali, versehen Aufgaben einer „Schutztruppe“ in Südosteuropa und deutsche Kriegsschiffe sind auf den Weltmeeren unterwegs. Deutschland ist wieder Zentralmacht Europas, dominiert die EU und wurde zu einer geo-ökonomischen Macht mit globalen Interessen. Die Hoffnungen auf ein dauerhaft verfriedlichtes Deutschland wurden getäuscht. Mit dem Aufbau eigenständiger militärischer Kapazitäten der EU sollen Möglichkeiten geschaffen werden, auch unabhängig von den USA Militärmacht einsetzen zu können.

Die Außenpolitik des vereinten Deutschlands hat inzwischen eine eigene Geschichte von fast drei Jahrzehnten. Nach dem Kalten Krieg erstand in der Mitte Europas das vereinigte Deutschland neu, als habe es den Kalten Krieg gewonnen. Die deutsche Außenpolitik wurde schrittweise verselbständigt. Grundsatz bundesdeutscher Außenpolitik – bereits der westdeutschen vor 1989 – war es, Alleingänge zu vermeiden und stets im Bündnis bzw. im Rahmen internationaler Organisationen zu handeln, sei es die Europäische Union, die Nato oder auch die UNO. Kam es zu einer Differenz in der Positionierung der USA oder Frankreichs, entschied sich die bundesdeutsche Außenpolitik dann für eine der beiden Positionen.

So verweigerte die Schröder-Regierung 2003 die Teilnahme Deutschlands am Irak-Krieg der USA, sah sich dabei aber in demonstrativer Übereinstimmung mit Frankreich. Die deutsche Enthaltung im UNO-Sicherheitsrat zur Resolution 1973 (17. März 2011), die den Weg zum Krieg westlicher Länder in Libyen öffnete, war der erste Fall, dass Deutschland nicht mit den USA, Frankreich und Großbritannien, wohl aber mit China, Russland, Indien und Brasilien stimmte – den aufstrebenden Mächten des 21. Jahrhunderts. Das war Signal an die früheren westlichen Besatzungsmächte und langjährigen Verbündeten in Nato und EU, dass Deutschland nur dann mit ihnen übereinstimmt, wenn es seinen Interessen entspricht. Deutsche Interessenwahrnehmung in der internationalen Politik ist keine abgeleitete Funktion von „Bündnisverpflichtungen“ mehr, die andere definieren.

Im Jahre 2017 betrugen die weltweiten Rüstungsausgaben lt. Friedensforschungsinstitut SIPRI 1.739 Milliarden US-Dollar. Das sind erneut mehr als im Vorjahr, der Anstieg lag bei 1,1 Prozent, und deutlich mehr, als am Ende des Kalten Krieges: 1989 wurden weltweit etwa 1400 Milliarden US-Dollar für die Rüstung ausgegeben. An der Spitze wieder die USA mit 610 Milliarden US-Dollar – in diesen Zahlen war die Erhöhung des Rüstungsbudgets der USA für das Folgejahr auf 716 Milliarden US-Dollar noch nicht einmal enthalten. Auf Platz zwei China mit 228 Milliarden US-Dollar, gefolgt von dem kriegsführenden Saudi-Arabien mit einer Steigerung um 9,2 Prozent gegenüber dem Vorjahr auf 69,4 Milliarden US-Dollar. Russland hat ein Fünftel weniger als im Vorjahr ausgegeben und liegt mit 66,3 Milliarden US-Dollar auf dem vierten Platz. Deutschland schlägt in der SIPRI-Liste mit 44,3 Milliarden US-Dollar (36,7 Milliarden Euro) zu Buche und rangiert auf einem 9. Platz. Die 29 Nato-Staaten haben zusammen 881 Milliarden US-Dollar für das Militär ausgegeben. Das ist mehr als das Dreizehnfache Russlands, das von Nato-Protagonisten als große Gefahr an die Wand gemalt wird. Die Fragen von Krieg und Frieden haben nach dem Ende des Kalten Krieges nicht an Relevanz verloren, sondern wieder an Bedeutung gewonnen.

US-Präsident Donald Trump hatte bereits am 20. Oktober 2018 verkündet, die USA seien entschlossen, den Vertrag über das Verbot nuklearer Mittelstreckenwaffen (Intermediate Range Forces – INF-Vertrag) aus dem Jahre 1987 aufzukündigen, mit dem beide Seiten auf landgestützte Nuklearraketen mit kürzerer (500 bis 1 000 km) und mittlerer Reichweite (1 000 bis 5500 km) verzichteten. Damit wird ein zentraler Tragpfeiler des am Ende des Kalten Krieges geschaffenen Systems der Europäischen Sicherheit zerstört. Der US-Präsident erklärte, Russland würde gegen den Vertrag verstoßen und neue Mittelstreckenraketen entwickeln.

SpiegelOnline verwies darauf, dass John Bolton bereits vor sieben Jahren im Wall Street Journal unter der Überschrift: „Ein Raketen-Vertrag, der uns schadet“, für den einseitigen Austritt der USA aus dem Vertrag plädiert hatte. Der notorische Gegner von Rüstungsbegrenzungsvereinbarungen hatte damals kein offizielles Amt. Seit April 2018 ist er Sicherheitsberater von Donald Trump. (SpiegelOnline, 23. Oktober 2018) Er dürfte als Vater oder zumindest Haupteinflüsterer der Idee eines INF-Austritts gelten. Gleichwohl würde Boltons Sicht nicht so bedeutsam sein, passte sie nicht in Trumps Grundposition, die USA müssten in Sachen militärischer Rüstung „an der Spitze des Rudels“ bleiben.

Geostrategisch ist es Folge der Osterweiterung der Nato bis an die Grenzen Russlands, dass der INF-Vertrag mittlerweile fragwürdig scheint. Aus Sicht Russlands sind die Maßnahmen in Rumänien und Polen zum Aufbau eines Raketenabwehrsystems der Nato nicht gegen Nordkorea oder Iran, sondern von Anfang an gegen Russland gerichtet. Das Aegis-Kampf- und Feuerleitsystem, das die US-Marine für den Einsatz von See entwickelt hatte, wurde in Rumänien erstmals landgestützt aufgestellt und fällt damit unter das INF-Verbot. Die USA erklären, das seien Abwehrsysteme. Nach russischer Auffassung könnten die jedoch auch Atomsprengköpfe tragen. Das trifft ebenfalls auf die US-Langstreckendrohnen zu, deren technische Merkmale mit den nach INF-Vertrag verbotenen landgestützten Marschflugkörpern übereinstimmen. Hier lautet die US-amerikanische Ausrede, „eine Kampfdrohne sei kein Marschflugkörper, weil sie an den Standort zurückkehren könne“. Dass es den Opfern eines Atomschlages egal sein dürfte, ob das Trägermittel eine Cruise Missile war, die mitexplodierte, oder eine Drohne, die an den Ausgangsort zurückfliegt, um eine weitere Nuklearbewaffnung aufzunehmen, wird bei einer solchen Argumentation unterschlagen. Zudem konnte es auf dem technischen Stand von 1987 keine Antizipation von Kampfdrohnen geben. Insofern müssten hier die Verifikationsmechanismen des Vertrages greifen, die jedoch nicht genutzt wurden. Russland hatte den USA Vertragsbruch vorgeworfen, aber den Vertrag nicht aufgekündigt.

Nach westlicher Einschätzung ist Russland im Vergleich zu Sowjetunion und Warschauer-Pakt-Organisation während des Kalten Krieges gegenüber der heutigen erweiterten Nato strategisch ins Hintertreffen geraten, weshalb es (im Sinne eines Kriegsführungs-, nicht eines Kriegsverhinderungsdenkens) auf einen früheren Einsatz von taktischen und operativ-taktischen Atomwaffen setzen müsse. Deshalb habe Russland neue Marschflugkörper für den Mittelstreckenbereich entwickelt, die nach westlicher Lesart gegen den INF-Vertrag verstoßen. Die USA beschuldigten Russland nicht erst durch Bolton und Trump, sondern bereits unter Barack Obama 2014, landgestützte Marschflugkörper mit einer Reichweite von 2.600 km getestet und produziert zu haben. Zudem argumentieren die USA mit einer militärstrategischen Unterstellung: Da etliche Staaten in seiner östlichen und südlichen Peripherie – gemeint sind Iran, Pakistan, Indien und China – über Mittelstreckenwaffen verfügen, die Russland verboten sind, könne es geostrategisch nicht mehr an den Begrenzungen des INF-Vertrages interessiert sein.

Die deutsche Bundesregierung ließ durch ihre stellvertretende Sprecherin, Ulrike Demmer, bereits am 21. Oktober 2018 mitteilen, sie würde die Entscheidung Trumps, sich aus dem INF-Abkommen zurückzuziehen, bedauern. Der INF-Vertrag sei ein wichtiges Element der Rüstungskontrolle und diene in besonderer Weise auch europäischen Interessen. Dann kritisierte sie aber nicht etwa Trump, sondern forderte Russland auf, „die schwerwiegenden Zweifel an seiner Vertragstreue auszuräumen, die durch einen neuen russischen Raketentyp aufgekommen sind.“ Die Folgen der US-Entscheidung müssten im Kreis aller Nato-Partner beraten werden. Das neuerliche Gefühl, die Wiederkehr landgestützter atomarer Mittelstreckenwaffen würde erneut heißen: „Je kürzer die Reichweite, desto deutscher die Toten“, führte nicht zu einer Intervention in Washington, sondern zum Einlenken gegenüber den USA. Die Nato-Außenminister warfen auf ihrem Treffen am 4. und 5. Dezember 2018 Russland geschlossen vor, mit neuen Marschflugkörpern gegen den INF-Vertrag zu verstoßen, und forderten Russland auf, diese zu verschrotten. Das war kein Schritt zur Rettung des Vertrages in deutschem Interesse, sondern nur eine neue Drehung in der anti-russischen Kampagne. Deutschlands Regierende sind bei der Schuldzuweisung an Russland geblieben und behaupten weiterhin, gegen eine neuerliche Stationierung atomarer Mittelstreckenraketen in Mitteleuropa zu sein. Sie tun aber nichts, weder im nationalen Rahmen noch innerhalb der Nato, um dies wirklich zu verhindern. Damit wurde erneut eine friedenspolitische Chance vertan.

zuerst veröffentlich in „MitLinks“ 67/2019