Aus Politische Berichte Nr. 03/2019, S.09 • InhaltsverzeichnisPDFPB-Archiv

BürgerInnenentscheid Freiburg: Mehrheit für neuen Stadtteil

Dietenbach ökologisch und sozial gestalten

Gregor Mohlberg, Freiburg

In Freiburg fand ein intensiver Wahlkampf statt. Ausgangspunkt war ein von den BürgerInnen initiierter Bürgerentscheid zu der Frage, ob ein vom Stadtrat zur Bebauung vorgesehenes Gelände bebaut werden solle oder nicht. Der Bürgerentscheid zwang die Stadtgesellschaft sich zu den aktuellen Fragen unserer Zeit zu verhalten, diese zu diskutieren und sich eine Meinung zu bilden. Wie sollen wachsenden Städte die Wohnraumfrage lösen, wie soll bezahlbarer Wohnraum geschaffen und erhalten werden? Welche Antworten müssen wir auf die Klimafrage finden und wie wollen wir mit der knappen Ressource Boden umgehen?

Bürgerentscheid – knappes Ergebnis

Die FreiburgerInnen entschieden sich nach einem kurzen aber heftigen Wahlkampf mit 60 zu 40 für den Bau eines neuen Stadtteils. Die Mehrheit der BürgerInnen brachte damit zum Ausdruck, dass sie einen sozialen Stadtteil befürwortet, der eine klare Antwort auf die Frage der knappen Wohnraumversorgung gibt. Das Ergebnis war am Ende relativ deutlich, wenngleich die Tatsache, dass hinter dem Beschluss für einen neuen Stadtteil 90% der Gemeinderatsmitglieder standen, aber nur 60% der wählenden Bevölkerung diese Überzeugung per Stimmabgabe zum Ausdruck gebracht haben.

Die Gründe für das dennoch relativ knappe Ergebnis scheinen in der Nachbetrachtung des Wahlkampfes vielfältig und sie reichen, von einem grundsätzlichen Vertrauensverlust in die „herrschende“ Politik, über tatsächliche gemachte Fehler bei der Errichtung der letzten neuen Stadtteile Rieselfeld und Vauban – die heute zu den teuersten Gebieten der Stadt zählen – bis hin zu grundsätzlicheren Abschottungsvorstellungen von einem Freiburg ohne neue Auswärtige. Eine Bestandsaufnahme von erheblicher Sprengkraft, die nicht ohne Auswirkung auf den kommenden Kommunalwahlkampf bleiben wird.

Politik der Linken Liste

Die Planungen für den Stadtteil Dietenbach stammen noch aus der Zeit als Dieter Salomon Bürgermeister der Stadt war und gehen auf einen Beschluss des Gemeinderats von vor ca. 5 Jahren zurück. Eingebracht wurde der Antrag damals vor allem von CDU und SPD. Der Stadtteil sollte die Antwort darstellen auf die damals vorliegenden Bevölkerungswachstumsprognosen und die zunehmend erreichten Grenzen der Innenverdichtung. Die Linke Liste hatte allerdings schon damals darauf hingewiesen, dass ein neuer Stadtteil ohne eine feste Quote für den sozialen Wohnungsbau das Wohnungsproblem nicht lösen würde und sich dem Projekt gegenüber sehr verhalten positioniert. Für Bürgermeister Salomon war immer klar, dass es für den Stadtteil keine Quote bräuchte und das allein die bloße Erweiterung des Wohnungsangebots den Markt als solche entlasten sollte.

Dass sich die Linke Liste im Wahlkampf ganz eindeutig für den Stadtteil ausgesprochen hat, kann man nur vor dem Hintergrund entscheidender politischer Veränderungen und Weichenstellungen in der Stadtpolitik verstehen. Der Umgang mit dem neuen Stadtteil wurde mit der OB-Wahl vom Mai 2017 interessanter und zum Thema stadtpolitischer Auseinandersetzungen. Mit dem von der Linken unterstützten Wahlkampf um die Bündniskandidatin Monika Stein wurde die Frage der 50%-Quote für den neuen Stadtteil prominent platziert und dann auch von dem durch die SPD unterstützen Kandidaten und heutigen OB Martin Horn zunehmend aufgegriffen. Die folgende Abwahl Salomons, der als einziger bis zuletzt diese Quote ablehnte, festigte eine tendenzielle Mehrheit für die Quote im Gemeinderat und brach die bis dato bestehende schwarz-grüne Mehrheit im Gemeinderat auf. Mit dem aufkommenden Bürgerentscheid ergriffen wir als Linke Liste dann erneut erfolgreich die Chance, die 50%-Quote als verbindliche Planungsgrundlage im Gemeinderat beschließen zu lassen. Die hier gefundene Mehrheit umfasste neben der SPD, den Linken und diverse progressiven kleineren Listen auch die Stimmen der CDU und der FDP und war sicher auch von der Furcht getrieben, dass ohne soziale Zugeständnisse der neue Stadtteil vorzeitig scheitern könnte.

Die Linke Liste hat damit ihre Chancen geschickt genutzt und verfolgt damit sehr planmäßig und zielgerichtet die politische Umsetzung einer ihrer zentralen politischen Forderungen. Freiburg braucht mehr bezahlbaren Wohnraum, errichtet und betrieben als Sozialwohnungen und in öffentlicher bzw. in gemeinwohlorientierter Hand (u.a. Genossenschaften und Mietshäusersyndikat). Über einen von der Stadt entwickelten Stadtteil besteht genau dafür die beste Chance. Als Linke Liste haben wir unter der Vorgabe einer Einhaltung der 50%-Quote und einer Vergabepolitik, die die gemeinwohlorientierten Träger bevorzugt, einem Fortgang der Planungen für den neuen Stadtteil Dietenbach zugestimmt und schließlich auch im Bürgerentscheid klar Position bezogen. Genauso konsequent werden wir allerdings den weiteren Planungsprozess auch ablehnen, sollten diese Vorgaben – wider Erwarten – nicht eingehalten werden.

Grundsätzlich und im Bezug auf neue Flächenversiegelungen war es immer Position der Linken Liste, dass ökologische und soziale Fragen nicht gegeneinander in Position geführt werden dürfen. Die letztendliche Entscheidung haben wir uns daher auch nicht einfach gemacht. Wir sind nach diversen Mitgliederversammlungen aber immer wieder zu der Auffassung gelangt, dass wenn dieser Wohnraum in Freiburg nicht entsteht, es verschieden soziale und ökologische negative Folgen haben wird. Soziale in dem Sinn, dass die Verdrängung weiter voranschreitet. Menschen mit viel Geld nehmen sich den Wohnraum in der Stadt, den sie brauchen und bezahlen können, mit allen Vorzügen (nahe Kitas und Schulen, Infrastruktur (die wir übrigens alle bezahlen), Theater, Kinos, Straßen, Freizeit, Tram usw. Menschen mit wenig Geld müsse die Stadt sukzessive verlassen und dann teuer einpendeln, ohne Sozialticket im Landkreis, um dann die Besserverdienenden als Pfleger, Bäckereifachverkäuferinnen und Kindergärtner zu bedienen. Ökologische Folgen hat es, weil Wohnraum zwangsläufig weiter im Umland entstehen wird, als Punktbauten und mit einer wesentlich geringeren Pro-Kopf-Flächen-Quote als über dichtes urbanes Bauen und Wohnen, mit effektiver Nutzung von teurer Abwasser- und Wärmeinfrastruktur. Zusätzlich nähmen PendlerInnen-Verkehre weiter zu, und damit auch Straßennutzung und CO2-Eintrag.

Es gab auch gute und nachvollziehbare ökologische und wachstumskritische Argumente gegen den Stadtteil. Eine Lösung für die sozialen Fragen boten sie für uns aber leider nicht. Diese wäre aber notwendig angesichts der realen Gefährdung des sozialen Zusammenhalts der Gesellschaft. So lassen die benannten „Alternativen“ der GegnerInnen keine Auflösung mit 3000plus Sozialwohnungen zu, Nachverdichtung lässt die benötigte sozio-kulturelle Infrastruktur (Kitas, Schulen, Parks, Räume) nicht mitwachsen und Aufstockungen, dort wo sie baurechtlich und statisch überhaupt möglich sind, entstünden vornehmlich auf privaten Gebäuden und hier dann nicht als preiswerte geförderte Sozialwohnungen.

Gemischte Kritik an der Neubebauung und wichtige Diskussion in der Stadtgesellschaft

Was im Wahlkampf sehr gewundert hat, ist wie stark auch in den Reihen der GegnerInnen immer wieder eine Kritik an der Finanzierbarkeit der von uns geforderten 50%-Quote vorhanden war. Wer eine Kritik an der Wachstums- und Konsumgesellschaft hat, muss doch sehr dafür sein, wenn für SOZIALES und ökologische Bauen auch öffentliche Mittel und Zuschüsse in Anspruch genommen werden und die Wohnungsbestände in öffentlicher Hand bleiben und nicht durch renditeorientierte Investoren realisiert werden. Dieser Fakt muss nachdenklich machen, denn er macht deutlich wie vielschichtig auch das Lager der GegnerInnen war und dass es eben nicht vornehmlich auch umweltpolitisch engagierten Menschen bestand, sondern eben auch aus einer Personengruppe, die ganz grundsätzlich Angst vor Veränderung hat und auch keine Notwendigkeit für die Umverteilung von gesellschaftlichem Reichtum sieht.

Mit 60 zu 40 haben sich am 24. Februar die FreiburgerInnen schließlich aber für einen neuen Stadtteil Dietenbach entschieden und damit einen beispielhaft zentralen politischen Diskurs ausgetragen, im Spannungsfeld zwischen Ökonomie, Ökologie und sozialem Fortschritt. Zum anderen haben sie einen wichtigen politischen Meilenstein gesetzt für die wohnungspolitischen Debatten bundesweit. Ganz konkret wird die 50%-Quote für den sozialen Mietwohnungbau bei Neugebieten damit aktueller State-of-the-Art. Diesen Fakt können Wohnungs- und MietenpolitikerInnen nun bundesweit für sich wirksam machen. Was das bedeuten kann, kann nicht wertvoll genug eingeschätzt werden.

Dahinter steckt das Verständnis und die Erkenntnis (in Freiburg einer faktischen Mehrheit), dass substanzielle politische Maßnahmen, auf Basis auch massiver öffentlicher Kosten und Güter, nicht länger rein-ökonomischen Interessen weniger geopfert werden dürfen, sondern einen massiven sozialpolitischen Impact haben müssen, insbesondere dann wenn sie auch mit ökologischen Einschränkungen verbunden sind.

Politische Kultur weiter fördern

Zudem fand der Bürgerentscheid an den Grenzen politischer Kultur statt, durchsetzt von schrillen Tönen, unterkomplexen Problemaufrissen- und Beschreibungen (FakeNews) und wurde doch letztendlich durch politische Kultur aufgelöst, hier durch eine klare und sachliche Antwort verschiedener politischer Akteure und sozialer Initiativen und Verbände (ganz faktisch vom Mietshäusersyndikat, über die Gewerkschaften, linkspolitische Kräfte, über die SPD, Grüne, Freie WählerInnen bis hin zur CDU). Wer dahinter allerdings so etwas wie das Establishment wähnt, greift zu kurz, denn es gab und gibt keineswegs keine Differenzen, sondern eben nur eine gemeinsame sachliche Antwort auf Teil-Debattenbeiträge, die entweder unterkomplex blieben und wirkten oder die instrumentalisierend mit einem „Die-da-oben“ gegen „Die-da-unten“-Duktus operierten.

Und auch das ist klar: Mietenpolitik hört in Freiburg nicht mit dem Bürgerentscheid auf. Der Dietenbach ist eine langfristige und richtige Maßnahme, wenn er gut gemacht wird, es bleiben aber massive Probleme bestehen. Wir müssen gleichzeitig dafür sorgen, dass die Freiburger Stadtbau ein zentrales Mittel wird, jetzt bezahlbare Wohnraum zu schaffen und zu erhalten. Und wir müssen jetzt, alles daran setzen, dass dem gemeinwohlorientierten Sektor eine Vorrangrolle zukommt.

Grundsätzlich müssen Bürgerentscheide auch zu Bauleitfragen begrüßt und weiter erhalten werden und die politische Kultur dafür muss weiter wachsen. Ein Bürgerentscheid schafft Raum für Debatten und Politisierung. In einem solchen Prozess konnte die Art und Weise der Umsetzung des neuen Stadtteils in Freiburg und ein konkreter sozialer Mehrwert weiter festgezurrt werden. Bewusst machen müssen wir uns aber, dass es auch an uns liegt in einer solchen Debatte den sachlichen Kern zu wahren und Populismen entgegenzutreten. Auch nach dem Bürgerentscheid in Freiburg ist nicht endgültig entschieden, ob die Lösung der Wohnungsfrage in Nachverdichtung oder Neubau liegt. Die Wahrheit liegt vermutlich weiter dazwischen und wir stehen nach wie vor zwischen vielen Gleichzeitigkeiten. Wohnungsnot und Mangel. Überbordender privater Flächenverbrauch und den Resten für das Kollektive. Politische Machtfragen und ideeller politischer Wille. Wie löst man das auf, ohne an konkreten sozialen Härten vorbei zu handeln und ohne sich mitschuldig zu machen an einem unkritischen Weiter-so? Vermutlich nur mit harter und ehrlicher politischer Arbeit und dem Mut auch schwierige Debatten zu führen – immer wieder.

Abb. (PDF): Mitglieder der Linken Liste/Solidarische Stadt Freiburg beim Wahlkampf für den Bebauungsplan und die Schaffung von 3 000 Sozialwohnungen

Abb. (PDF): Holbeinpferd oder Holbeinpferdle ist die umgangssprachliche Bezeichnung einer Pferdeplastik in Freiburg im Breisgau, die durch zahlreiche anonyme Umgestaltungen gewisse Bekanntheit erreicht hat … Seit den frühen 1970er Jahren wird die Skulptur immer wieder von Unbekannten sorgfältig bemalt und dekoriert.Früher geschah dies nur in der Nacht, wird inzwischen aber auch tagsüber gemacht. Dabei wird meist kreativ versucht, ein bestimmtes Thema darzustellen (aus wikipedia). Im akuellem Bild haben sich anonyme Künstler für den Bebauungsplan ausgesprochen.