Aus Politische Berichte Nr. 6/2019, S.02b • InhaltsverzeichnisPDFPB-Archiv

AKP verliert OB-Wahl in Istanbul – Zäsur für Erdogan

Rudolf Bürgel, Karlsruhe

Mit 800000 Stimmen (54,2 %) und über 9 % Vorsprung gewann der CHP-Kandidat Ekrem Imamoglu die Wiederholung der Oberbürgermeister-Wahl in Istanbul vor dem früheren türkischen AKP-Ministerpräsidenten Binali Yildirim. Bei der im März von Präsident Erdogan angefochtenen Wahl hatte Imamoglu mit 14000 Stimmen Vorsprung knapp gewonnen. Von den 10,5 Millionen Wahlberechtigten hatten dieses Mal mehr als 8,9 Millionen ihre Stimmen abgegeben. Imamoglu konnte gegenüber der Wahl im März über 570000 hinzugewinnen, Yildirim verlor etwa 214000. Die Kandidaten der religiösen Saadet-Partei und der nationalistischen Vatan-Partei spielten keine Rolle.

Im Westen der Türkei hatte die HDP schon bei den Kommunalwahlen im März die Kandidaten der CHP unterstützt, um die Vormachtstellung Erdogans und seines APK-MHP-Bündnisses in den Großstädten zu brechen. Mit der Entscheidung in Istanbul ist das auch hier beim zweiten Mal gelungen. Ankara, Antalya, Adana und nun auch Istanbul sind für die AKP verloren gegangen. Istanbul ist von zentraler politischer und wirtschaftlicher Bedeutung: Hier wohnt jeder fünfte Bewohner der Türkei und wird ein Drittel des Sozialprodukts erwirtschaftet. Seit 25 Jahren wurde diese Metropole von der AKP regiert.

Auch konservative Stadtteile, in denen die AKP jahrelang weit über die Mehrheit der Stimmen verfügte, gingen jetzt verloren. Mit entscheidend war das Stimmverhalten der Kurden in Istanbul. Um sie warben Erdogan, Yildirim und die AKP besonders, auch mit Plakaten und Werbespots auf Kurdisch. Aus undefinierbaren Quellen erschien ein angeblicher Brief des inhaftierten Abdullah Öcalan, in dem zu einem „neutralen“ Wahlverhalten aufgerufen wurde – sprich geht nicht zur Abstimmung. Das zog auch nicht. Vielmehr riefen die kurdischen Verbände und Parteien sowie die HDP zur Wahl von Imamoglu auf und brandmarkten diesen Spaltungsversuch als psychologische Kriegsführung.

Erdogan hat nach den Parlamentswahlen 2016 erstmals wieder eine große Niederlage erlitten. Trotz Säuberung von Militär, Justiz und Staatsapparat von Oppositionellen, Gleichschaltung der Medien und Zensur in den sozialen Medien kann Erdogan seine diktatorische Herrschaft nicht mehr allein mit dem „nationalen Willen“ begründen, wie er das seit Jahren tut. Der wirtschaftliche Aufschwung auf Pump ist dahin, die Krise ist bei den Menschen angekommen. Die Korruption und Selbstbedienung der AKP stößt auf Ablehnung. Die türkischen außenpolitischen Invasions-Abenteuer in Syrien und dem Irak verschärfen die Wirtschaftsprobleme weiter. Am Abend gratulierte Erdogan dem Wahlsieger, kündigte aber gleich darauf an, dass finanzpolitisch Istanbul auf die Regierung angewiesen ist. Zudem beginnt diese Woche der Gezi-Prozess, in dem 16 Vertreter der zivilgesellschaftlichen Opposition als Rädelsführer der Gezi-Proteste von 2013 angeklagt sind. Das ist als Drohung Erdogans und der AKP/MHP-Regierung gegen demokratische Veränderungen zu verstehen.

Diese Wahlen sind für Erdogan eine Zäsur. Die HDP erklärte, dass die Wahlen im März und jetzt in Istanbul ein Demokratiereferendum waren. Die HDP ruft dazu auf, das Bündnis zwischen den Demokratiekräften zu festigen mit dem Ziel, eine demokratische Türkei zu schaffen, in der Polarisierung und Feindseligkeit überwunden werden. Ziel muss eine Verfassung sein, in der die Rechte von Kurden, Armeniern, Lasen und allen anderen Ethnien verankert, alle Religionen gleichgestellt sowie den Frauen und allen nicht freien Gesellschaftsteilen gleiche Rechte garantiert werden.