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ARCHIV

Nr.7/2019, S.14

Die EU braucht eine Richtlinie für armutsfeste Grundsicherungssysteme

Von Thilo Janssen, Brüssel, 19. Juli 2019

Bereits 1992 hieß es in einer Empfehlung des Rates der damals zwölf EWG-Länder, dass „jeder Mensch einen grundlegenden Anspruch auf ausreichende Zuwendungen und Leistungen hat, um ein menschenwürdiges Leben führen zu können“1. Die Regierungen der EWG sollten ihre Systeme für Sozialhilfe entsprechend einrichten oder weiterentwickeln. Die Empfehlung war jedoch unverbindlich. Ihr folgten viele weitere unverbindliche EU-Initiativen gegen Armut, darunter eine Empfehlung der Kommission zur „Aktiven Eingliederung“ (2008), die EU-2020-Strategie mit der „Offenen Methode der Koordinierung“ und der „Europäischen Plattform gegen Armut“ (2010), sowie zuletzt die „Europäische Säule sozialer Rechte“ (2018). Das konkrete Ziel der EU, bis zum Jahr 2020 20 Millionen Menschen aus der Armut befreien, wurde weit verfehlt. Denn trotz all der nett klingenden Initiativen ist die Armut in der EU nicht gesunken. Im Gegenteil: Die Politik von EU und Mitgliedsstaaten nach der Bankenkrise 2008 hat in vielen EU-Ländern wieder mehr Menschen in Armut gestürzt.

Derzeit gelten laut EU-Statistikamt Eurostat 113 Millionen Menschen in der EU als arm. Das entspricht 22,5 Prozent der EU-Bevölkerung.2 In der EU werden drei Indikatoren genutzt, um Armut zu erfassen. 1) Die relative Armutsgrenze wird mit 60 Prozent des nationalen Medianeinkommens angegeben. 2) Als materiell depriviert gilt eine Person, die sich eine Anzahl grundlegender Güter nicht leisten kann, darunter das Heizen der Wohnung, einen Fernseher oder regelmäßige Mahlzeiten. 3) Als armutsgefährdet gilt auch, wer Mitglied eines Haushalts mit sehr niedriger Erwerbsbeteiligung ist. Die gilt als gegeben, wenn eine Person zwischen 18 und 29 in zwölf Monaten weniger als 20 Prozent ihres Erwerbspotentials ausschöpft.

Ein Lichtblick: Auf Initiative der Parteien Syriza in Griechenland und Fünf-Sterne-Bewegung in Italien haben kürzlich die letzten beiden EU-Länder soziale Grundsicherungssysteme eingeführt. Damit gibt es heute entsprechende Systeme in allen EU-Ländern. Wie die nationalen Sozialsysteme insgesamt, sind auch die Grundsicherungen höchst unterschiedlich ausgestaltet. Das Problem ist: Die Höhe der Leistungen reicht in kaum einem Land aus, um alle bedürftigen Menschen tatsächlich vor Armut zu bewahren, sie am gesellschaftlichen Leben teilhaben zu lassen und, wo möglich, bei der (Wieder-) Aufnahme einer Erwerbsarbeit umfassend zu unterstützen. Genau dies sollten Grundsicherungssysteme jedoch leisten. Die Zeit der unverbindlichen Absprachen zwischen EU-Ländern muss deshalb beendet werden. Es bedarf verbindlicher EU-Mindeststandards. Diese müssen die EU-Länder darauf verpflichten, ihre Grundsicherungssysteme armutsfest zu gestalten.

Wie kann das geschehen? Von allen EU-Gremien hat dies der Europäische Wirtschafts- und Sozialausschuss (EWSA) am deutlichsten formuliert: „Für eine europäische Rahmenrichtlinie zum Mindesteinkommen“ heißt seine Stellungnahme vom März 2018.3 Damit ist das politische Instrument benannt: die EU-Richtlinie. Wie eine solche Richtlinie ausgestaltet sein könnte, hat zuletzt Benjamin Benz in einem umfassenden Gutachten für den Deutschen Gewerkschaftsbund (DGB) und die Nationale Armutskonferenz (NAK) ausgearbeitet.4 Benz gibt einen Überblick über Funktionen von Mindestsicherungen, beleuchtet ausführlich die EU-rechtlichen Möglichkeiten für eine EU-Richtlinie und verweist auf die wichtigste Voraussetzung: den politischen Willen.

Denn im EU-Parlament (EP) ist die Forderung nach einer Richtlinie politisch hart umkämpft. Zuletzt verabschiedete es 2017 eine Resolution5 zu „Strategien für ein Mindesteinkommen als Instrument zur Armutsbekämpfung“. Eine Mehrheit im Sozialausschuss des EP hatte in die Resolution hineingeschrieben, „dass es rechtlich möglich ist, im Rahmen der geltenden EU-Verträge eine Rahmenrichtlinie zu Mindesteinkommen einzuführen“. Eine rechte Mehrheit strich diesen Verweis auf eine mögliche Richtlinie jedoch bei der Endabstimmung im Plenum aus dem Text. Übrig blieb die Forderung an EU-Kommission und EU-Länder, „zu prüfen, in welcher Form und mit welchen Mitteln für ein angemessenes Mindesteinkommen in allen Mitgliedstaaten gesorgt werden kann“.

Die neue Präsidentin der EU-Kommission Ursula von der Leyen hat versprochen, dem EU-Parlament ein indirektes Initiativrecht einzuräumen: Sie werde einen Gesetzesvorschlag vorlegen, sollte dies eine Mehrheit im EU-Parlament in einer Resolution fordern. Wie sich das im Mai 2019 neu gewählte EU-Parlament zur Frage der Mindesteinkommensrichtlinie verhält, wird sich bald herausstellen.

Im Koalitionsvertrag vom März 2018 der deutschen Bundesregierung ist vereinbart, dass Deutschland sich für einen EU-Rahmen für Mindesteinkommen sowie für einen EU-Rahmen für Mindestlöhne einsetzen werde.6 Spätestens in der zweiten Hälfte des Jahres 2020, wenn Deutschland die EU-Ratspräsidentschaft für ein halbes Jahr übernimmt, könnte sie eine EU-Mindesteinkommensrichtlinie vorschlagen.

Wie könnte eine EU-Richtlinie für Mindesteinkommen umgesetzt werden? Als Rechtgrundlage bietet sich Artikel 153 Abs. 1 lit. h des Vertrags über die Arbeitsweise der EU (AEUV) an. Seit dem Jahr 2010 haben Anne van Lancker vom Europäischen Netzwerk gegen Armut (EAPN) und andere sehr konkrete Vorschläge erarbeitet, wie eine Richtlinie ausgestaltet sein müsste.7

Einige wichtige Punkte seien hier genannt: Der adressierte Personenkreis muss universell definiert werden und das Recht jeder Person in der EU festschreiben, über ein armutsfestes Mindesteinkommen zu verfügen. Eingeschlossen werden sollten auch BürgerInnen aus anderen EU-Ländern, die derzeit oft in die Obdachlosigkeit geschickt werden. Die Höhe der Mindesteinkommen sollte über der nationalen (oder regionalen) Einkommensarmutsschwelle von 60 % des Medianeinkommens liegen. Da dies in Ländern wie Rumänien oder Bulgarien nicht ausreichen wird, sollten ergänzend Referenzbudgets (bzw. Warenkörbe) bestimmt werden. Einem Vorschlag von Benz folgend, sollte die Richtlinie nach verschiedenen Ländergruppen gegliedert (nach Wirtschaftsstärke und Leistungsfähigkeit bestehender Systeme) schrittweise umgesetzt werden. Dies würde zur Akzeptanz bei den nationalen Regierungen beitragen und Befürchtungen entgegen treten, gut funktionierende Systeme könnten durch die EU-Regeln verschlechtert oder schwächere Systeme finanziell überfordert werden. Für letztere sollten parallel EU-Finanzhilfen entwickelt werden – nicht als dauerhafte Transfers, sondern als Anschubfinanzierung, um begleitende soziale Dienstleistungen aufzubauen oder um MitarbeiterInnen auszubilden.

1 https://eur-lex.europa.eu/legal-content/DE/TXT/?uri=celex:31992H0441 2 https://ec.europa.eu/eurostat/documents/2995521/9310038/3-16102018-BP-DE.pdf/dafea596-6e56-4971-a7c3-f096fb6f6cb5 3 https://www.eesc.europa.eu/de/node/60014 4 https://www.dgb.de/themen/++co++35cb573c-6124-11e9-b091-52540088cada 5 http://www.europarl.europa.eu/doceo/document/TA-8-2017-0403_DE.html 6 https://www.bundesregierung.de/resource/blob/975226/847984/5b8bc23590d4cb2892b31c987ad672b7/2018-03-14-koalitionsvertrag-data.pdf?download=1 7 https://www.eapn.eu/wp-content/uploads/Working-Paper-on-a-Framework-Directive-EN-FINAL.pdf