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Nr.8-9/2019, S.02c

Gefährliches Spiel um die Macht: Die Brexit-Gräben locken Antidemokraten

Eva Detscher, Karlsruhe

Die „Neue Zürcher Zeitung“ vom 17. August 2019 titelt: „Die EU kann das Brexit-Endspiel nicht verhindern, sie sollte danach aber Großbritannien unterstützen“ und empfiehlt, anstatt wie das Kaninchen auf die Schlange zu starren und auf Wunder aus dem Vereinigten Königreich zu hoffen, dieser Tatsache ins Auge zu sehen. Denn – und da muss man der NZZ Recht geben – jeder konservative Parteiführer muss den politischen Einfluss der Brexitpartei von Nigel Farage neutralisieren (30,5 % aller Stimmen bei den Europaparlament-Wahlen im Mai!), und Boris Johnson handelt nach dem Motto, solange Großbritannien in der EU ist, wird das konservative Lager immer schwächer (Tories 15,5 % bei den EP-Wahlen). Welche Opfer er von der britischen Bevölkerung (ganz zu schweigen von den 3,5 Millionen Briten im EU-Ausland bzw. EU-Bürgern in Großbritannien) abverlangen wird, ist nicht vorhersehbar, die Szenarien dafür werden aber immer düsterer (Mangel an allem Wesentlichen, Einbruch in den Sozialsystemen, politische Unruhen u.v.m. kursieren). Und die NZZ hat auch damit Recht, dass der EU als Institution es nicht egal sein kann, was sich nach einem Brexit in dem Land abspielen wird. Aus Schweizer Sicht vielleicht kühler zu beobachten, für die Betroffenen hartes Brot. Und wenn man die Pläne für die Neugestaltung der britischen Gesellschaft anschaut, die Johnsons Chefstratege Cummings bereithält, und die am ehesten mit illiberaler Demokratie beschrieben werden können–, dann ist es eben nicht ganz so trivial, als ob hinterher alles wäre wie vorher, nur eben nicht in der EU.

Was kann noch passieren?

Johnsons Plan ist der Austritt zum 31.10.19 – mit oder ohne Vertrag, mit oder ohne Parlament, „‚do or die‘, koste es, was es wolle“ wird er zitiert. Dafür hat ihn seine Partei gewählt. Und er reist nicht nach Brüssel oder zu Regierungschefs in der EU, sondern im Land herum und erzählt die alten Lügen wie „Gesundheitsdienst, Schulen werden mit Geld überschüttet“. Tatsache wird eher sein, dass es zu dramatischen Engpässen und Elend kommen wird. Ein dazu gerade veröffentlichter interner Regierungsbericht spricht von Engpässen an den Grenzen, Lebensmittel, Benzin, Medikamente – die Liste der betroffenen Bereiche und Produkte ist lang. Der Widerstand gegen diesen Kurs ist bei den Tories zu schwach, aber auch in den Lagern der anderen Parteien wenig aussichtsreich. Die neueste Volte von Labour-Chef Corbyn, sich selbst zum Retter der Nation krönen zu lassen, stößt viele einfach ab. Er steht für Missachtung der Vielfalt von Argumenten gegen ein Verlassen der EU, ist selbst eher EU-feindlich, und die Labourpartei hat bislang kein Zeichen gesetzt, eine Alternative zu Johnsons Politik darzustellen und die Kräfte zusammenzubringen. Das ist umso trauriger, als die wirklich direkt Betroffenen kaum Gehör finden trotz ihrer vielfältigen Aktionen und ihrer beharrlichen Aufklärungsarbeit.

Szenarien

Variante 1: Großbritannien tritt aus am 31.10, sofort danach Parlamentswahl, die durch die Euphorie und die rechnerischen 45% (s.o.) an Tories und Brexit-Parteigänger geprägt werden und zum grandiosen Sieg von Johnson als Premier führen.

Variante 2: Neuwahlen noch vor dem 31.10. Da müsste in den nächsten Tagen etwas geschehen. Falls dann Labour siegen sollte, würde als erstes wohl ein Antrag an die EU gehen, den Termin wieder nach hinten zu verschieben – und dann? Neues Referendum? Antrag zurückziehen? Neue Verhandlungen? Wenn die Liberalen und die Grünen eine Mehrheit (in einer Koalition) hätten – dann gäbe es sicherlich ein neues Referendum …

Variante 3: Irgendwer hat eine Idee, wie die Republik Irland (als EU-Mitglied) und Nordirland (Landesteil von Großbritannien) das Problem mit der Grenze im Innern und zwischen der EU und Nicht-EU lösen können. Das ist der einzige Punkt, den Johnson angeboten hat, um überhaupt mit der EU zu sprechen.

Variante 4: Unvorhergesehenes ereignet sich in Großbritannien oder global, und alle Koordinaten verschieben sich …

Am 3. September wird das britische Parlament wieder zusammentreten. Die Unversöhnlichkeit der Positionen, die das ganze Land erfasst hat und die von den extremen Rechten benutzt wird, um Angst und Schrecken zu verbreiten (u.a. sind Morddrohungen gegen Abgeordnete an der Tagesordnung; am vergangenen Samstag wurde in Islington, Londoner Norden, der „Guardian“-Redakteur und Aktivist Owen Jones von fünf Schlägern der rechten Szene abgepasst und brutal zusammengeschlagen) spiegelt sich auch dort wieder. Johnson regiert mit hauchdünner Mehrheit. Vielleicht ist es übertrieben, aber vieles in der Wortwahl und Wucht erinnert an Schlüsselmomente in der britischen Geschichte. Das Parlament kann entscheiden und verhindern, dass ein harter Austritt ohne Abkommen „wirtschaftliche Turbulenzen bei Unternehmern, Mitarbeiter und Konsumenten auslöst“ (NZZ) – und versuchen, einen anderen Weg zu finden. Wenn nicht, dann – so sind sich alle Beobachter einig – wird es eine ganze Weile dauern, bis sich ein normales Verhältnis in den Wirtschafts-, Handels- und politischen Beziehungen in allen Bereichen des gesellschaftlichen Lebens einstellen wird. Revanchismus seitens der EU wäre da völlig unangebracht.

Boris Johnson will am 21.8. Angela Merkel in Berlin treffen, am Donnerstag Emmanuel Macron. Er will „für ein neues Austrittsabkommen werben und mitteilen, dass das Unterhaus einen Brexit ohne Deal nicht wird verhindern können“. (Deutschlandfunk, 19.8.) Eigentliches Thema des Treffens ist allerdings die Vorbereitung des G7-Gipfels in Biarritz (24. bis 26.8).

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