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Nr.8-9/2019, S.06

Ein Clown vollführt einen Balanceakt

Volodymyr Ishchenko (siehe Politische Berichte vom Mai d.J.) hat im Magazin „Jakobin“ die Parlamentswahl in der Ukraine im Juli kommentiert. Hauptsächlich auf diesem Artikel beruht der folgende Bericht.

Eva Detscher, Karlsruhe (mit freundlicher Genehmigung von V. Ishchenko)

254 von 450 Sitzen hat die Partei von Volodomyr Selenskyj – „Servant of the People“ (so in etwa: „Diener des Volkes“ oder „… der Leute“, Diener dabei in der Einzahl) bei den Parlamentswahlen in der Ukraine am 21. Juli 2019 gewonnen. Der stärkste Impuls für die Wahl war die Ablehnung des politischen Kurses der bisherigen Präsidenten Petro Poroshenko und seiner Partei: die Wahlen haben aggressivem Nationalismus und der durch den Maidan-Aufstand von 2014 entstandenen politischen Spaltung des Landes ein „Njet“ erteilt. „Während vor fünf Jahren die Parteien, die sich mit Maidan identifizierten, eine deutliche Mehrheit gewannen, bekamen sie diesmal nur einen von sechs Sitzen; zwei der fünf Parteien, die 2014 die Regierungskoalition bildeten, kamen nicht über die 5%-Hürde. Nachdem sie fast auf Null in den Umfragen gesunken waren, hat die zweitgrößte Partei des letzten Parlaments – die ‚Volksfront‘ – nicht einmal Kandidatenlisten aufgestellt. Unterdessen erhöhten die ‚pro-russischen‘ anti-maidanischen Oppositionsparteien ihre Vertretung von neunundzwanzig auf neunundvierzig Sitze, obwohl dies immer noch kaum einer von zehn Sitzen ist.

Zum ersten Mal in der Geschichte der postsowjetischen Ukraine wird es eine Einparteienmehrheit und -regierung geben. Dieses Ergebnis kam auch für die Wahlsieger überraschend. Wenn die Wahlen bewiesen haben sollten, dass die alten Eliten der Ukraine ihr Land nicht mehr verstehen, verstehen ihre Nachfolger es kaum irgendwie besser.“

Die Wahl war von ursprünglich Oktober vorgezogen worden, der Wahlsieg von Servant of the People war mit 43% der Stimmen für die Parteienliste und mit dem Gewinn von fast zwei Dritteln der Einzelmandats-Wahlkreise überwältigend.

„Diese lokalen Wahlkreise werden seit langem von einer Politik der Günstlingswirtschaft und des Klientelismus dominiert. Die Ukrainer haben sogar einen speziellen Begriff, siiaty hrechku, was im Wesentlichen bedeutet, Wähler für miserable Almosen oder kleine Verbesserungen im Bezirk zu kaufen. Es überrascht nicht, dass es in einem der ärmsten Länder Europas – einem Land, in dem jede Wahl in der Regel nur neue Enttäuschungen mit sich brachte – tatsächlich viele Menschen gab, die ihre Stimme geringer schätzten als ein kleines Paket billiger Lebensmittel. Lokale starke Männer konnten so ihre eigene Wahl (oder die ihrer Loyalisten) über mehrere aufeinanderfolgenden Amtszeiten hinweg sicherstellen, so dass sie ihre Geschäftsinteressen schützen und eine Strafverfolgung vermeiden konnten.

Die Wahl der Kandidaten von Servant of the People gegenüber lokalen Baronen war eine scharfe Absage an dieses System. Einige der neuen Abgeordneten sind bekannte Prominente, insbesondere Persönlichkeiten aus der Fernseharbeit von Selenskyj, populäre Journalisten oder Blogger. Überraschenderweise ist wahrscheinlich nur eine kleine Minderheit mit Ihor Kolomoisky verbunden – einem oppositionellen Oligarchen, der Selenskyj unterstützte, nicht aber als sein Hintermann gilt. Doch die allermeisten Kandidaten waren der breiten Öffentlichkeit unbekannt, selbst in ihren eigenen Stadtteilen. Meistens kamen sie aus kleinen oder mittleren Unternehmen und ‚normalen‘ Berufen – Hochzeitsfotografen, Grundschullehrer und Pizzeriabesitzer siegten gegen lokale Barone und gegen die Kandidaten von pro-maidanischen nationalistischen oder anti-maidanischen Oppositionsparteien. Die Kandidaten für Zenelnskiys Partei kämpften oft nicht einmal vor Ort – ihre einzige Ressource war die Parteimarke und die Ablehnung der traditionellen Oberschicht.“

Im Parlament waren drei Viertel noch nie zuvor Abgeordnete (dafür gab es eine spezielle Sommerschule für diese Neulinge mit 101 Kursen in parlamentarischen Verfahren, öffentlicher Ordnung und Wirtschaft), das Durchschnittsalter ist um sieben Jahre gesunken, der Anteil der Frauen von neun auf 21 Prozent gestiegen.

„Die Partei Servant of the people ist keine Volksbewegung mit Basis unter den Grassroot-Aktivisten. Während sie die Bürgerinnen und Bürger offen aufforderte, sich für die Marke einzusetzen, war das Auswahlverfahren alles andere als transparent. Das einzige offensichtliche Kriterium, das den Diener-des-Volks-Abgeordneten vereint, ist, dass sie neu sind in der Politik. … Die Führer von Servant of the people definieren die Partei-Ideologie als ‚libertär‘. Damit ist die Ukraine heute wahrscheinlich das erste Land der Welt, in dem eine nominell libertäre Partei die Regierung bildet …. Zu ihren Reihen gehören auch Nationalisten, die sich nicht wesentlich von denen unterscheiden, die die Ukraine nach 2014 regierten, sowie hartnäckige Kritiker von Maidan und was darauf folgte. Viele Geschäftsleute und andere Persönlichkeiten in ihren Reihen haben keine klare ideologische Ausrichtung. Aber es gibt auch viele junge Menschen aus dem neoliberalen, pro-westlichen NGO-Expertenmilieu. Ein Paar hat seinen Hintergrund sogar in der radikalen Linken.“

Präsidentschaft und Legislative sind in der Hand von Selenskyj und seiner Partei. Insofern ist jetzt vieles möglich bis hin zur Verfassungsänderung bei geschickter Koalitionspolitik. Als nächstes sollen schnelle Kommunalwahlen folgen – wie die „Frankfurter Allgemeine Zeitung“ vom 3. August berichtet, steht auch Boxidol Vitali Klitschko, Bürgermeister von Kiew, auf Selenskyjs Abwahlliste. FAZ: „Aber Klitschko ist auch als politischer Gegner ein Schwergewicht: In dieser Woche traf er in Amerika den Juristen Rudolph Giuliani, der für Präsident Trump gelegentlich außenpolitische Missionen unternimmt. Man habe auch über Kommunalpolitik gesprochen, teilte Klitschko mit. Sucht er Verbündete? In Europa hat er sie bereits: Seine Partei UDAR (Ukrainische demokratische Allianz für Reformen, zugleich heißt das russisch/ukrainische Wort ‚Udar‘: ‚Schlag‘) ist Partner der Europäischen Volkspartei, auf mehreren CDU-Parteitagen war Kltischko bereits zu Gast.“

V. Ishchenko zu den Perspektiven:

„Selenskyjs Rhetorik dreht sich um die fortwährenden Themen der postsowjetischen ‚Reformen‘: unternehmensfreundliche Politik, Deregulierung und Korruptionsbekämpfung. Die wichtigste Hoffnung besteht darin, die Ukraine für ausländische Investoren attraktiver zu machen und gleichzeitig den ‚Wettbewerbsvorteil‘ zu erhalten, über die billigsten Arbeitskräfte in Europa zu verfügen. Aus dieser Perspektive muss auch die postsowjetische Bürokratie durch das ersetzt werden, was Selenskyj ‚Regierung im Smartphone‘ nennt. Geschäftsleute bleiben auch weiterhin irritiert von den Zahlungen und Einschränkungen, die durch die Überreste des stark dezimierten sowjetischen Sozialstaates erforderlich sind. Einige Arbeits- und Wohnungsvorschriften wurden seit den 1970-80er Jahren nicht mehr geändert, aber in den drei Jahrzehnten seit dem Zusammenbruch der UdSSR systematisch unterfinanziert. Diese bieten jedoch oft zumindest ein Sicherheitsnetz (wenn auch ein unzureichendes) für den ärmsten Teil der Bevölkerung der Ukraine.“

„Die weit verbreitete Erzählung über ‚Korruption‘ bezieht sich nur teilweise auf die (un)effiziente Arbeit öffentlicher Institutionen. Seine Haupteinsätze liegen vielmehr im Konflikt zwischen transnationalem und lokalem Kapital – also den berüchtigten Oligarchen, deren primärer Wettbewerbsvorteil in der Bevorzugung des ukrainischen Staates liegt.“

„Ein weiteres Risiko für Investitionen ist der Krieg in Donbass. Doch trotz der Versprechungen von Selenskyj erscheint ein Durchbruch bei der Integration der Region zurück in die Ukraine unwahrscheinlich, es sei denn, die Vereinigten Staaten, die Europäische Union und Russland einigen sich auf die Zukunft der Ukraine.“

„Wenn Selenskyj eine Geste der Versöhnung macht, die Verpflichtungen des Minsker Abkommens erfüllt (z.B. die Gewährung eines besonderen Autonomiestatus für Donbass und einer Amnestie für Militante) oder die vielen jingotischen Gesetze (Überlegenheit des eigenen Landes mit aggressiver Außenpolitik, Anm. ED) revidiert, die während der Herrschaft Poroschenkos verabschiedet wurden, wird er auf radikale Widerstände von Nationalisten und patriotischen Bürgerwehrleuten treffen, die von einem großen Teil der ukrainischen ‚Zivilgesellschaft‘ unterstützt werden. Sie werden einen abgegriffenen Katalog von Anklagen von ‚Verrat‘ über ‚russischen Revanchismus‘ bis hin zu ‚Kapitulation vor dem Aggressor‘ aufstellen. Selenskyj hat bereits mehrfach nationalistischen Mobilisierungen zugestimmt, vor allem als er eine geplante Telebrücke zwischen dem russischen Staatsfernsehen und dem eigenen Sender des pro-russischen Politikers Viktor Medvedchuk verurteilte. Nur wenige Tage später, als ein anderer Medwedtschuk-Kanal Pläne ankündigte, Oliver Steins neuen Film Revealing Ukraine zu zeigen, wurde das Gebäude des Fernsehsenders von Militanten mit einem Granatwerfer angegriffen, was zur Absage der Sendung führte.“

„Hoffnungen?

Nicht alles ist Schicksal und Finsternis. Tatsächlich haben die Ukrainer heute laut Umfragen optimistischere Erwartungen als zu irgendeinem Zeitpunkt in der postsowjetischen Geschichte. Selenskyjs spektakulärer Vorstoß und sein Versprechen, den Zustand korrupter Beamter – und sogar aller, die in der letzten Regierung ein hohes Amt innehatten – zu bereinigen, sind sehr beliebt, ungeachtet der Kritik westlicher Botschafter.“

„Wenn es ihm nicht gelingt, den IWF dazu zu bringen, einer Senkung der himmelhohen Energiepreise – ein Desaster für Millionen von Ukrainern – zuzustimmen oder einen Friedensprozess in Donbass voranzutreiben, wird seine Unterstützung sicherlich zusammenbrechen. Da die großen Parteien nicht als Strukturen für das politische Engagement der Bevölkerung in Frage kommen, sind die Loyalitäten der Ukrainer unbeständig und können sehr leicht von einer Berühmtheit zur anderen, von einer Fernsehsendung zu den neuen Medien wechseln. Viele Ukrainer werden, so hoffen wir, verstehen, dass es nicht nur gut aussehende ‚neue Gesichter‘ in der Regierung braucht, sondern ein völlig neues Projekt für die wirtschaftliche und nationale Entwicklung der Ukraine – angetrieben nicht von einer virtuellen, ‚leeren Signifikantenmarke‘, sondern von einer populären politischen Kraft.“

Woher diese Kraft allerdings kommen soll, sei fraglich: Oppositionsparteien sind in alles Mögliche verstrickt, an der Wahl nahm keine linke Partei teil, und die Zentrale Wahlkommission hat der Kommunistischen Partei die Registration verweigert. Die Europäische Kommission für Demokratie durch Recht (Venedig-Kommission, eine Einrichtung des Europarates) hat das entsprechende Gesetz für unzulässig erklärt (siehe Anmerkung), das ukrainische Verfassungsgericht hat es dennoch bestätigt. V. Ishchenko meint, „die einst große kommunistische Wählerschaft teilte sich wahrscheinlich zwischen Diener des Volkes, der Oppositionsplattform und Sharii auf oder blieb zu Hause“, und schließt: „Die Präsidentschafts- und Parlamentswahlen 2019 zeigten eine große Nachfrage nach Alternativen. Die Forderung nach einem tieferen Wandel – und einem alternativen Projekt für die nationale Entwicklung – kann nur greifen, wenn die Enttäuschung über diese ‚neuen Gesichter‘ wächst. In der Tat ist es für ein armes Land, das von vielen internen und geopolitischen Widersprüchen zerrissen ist, eine solche Veränderung zu erreichen, eine Frage des Überlebens.“

Quellen und Anmerkungen:

Jakobin: https://www.jacobinmag.com/2019/08/volodymyr-Selenskyj-ukrainian-parliamentary-election

FAZ vom 3.8.2019, Seite 5

„Dekommunikationsgesetz“ der Ukraine hat Nazi- und kommunistisches totalitäres Regime gleichermaßen kriminalisiert und die Verbreitung derer Symbole verboten. Der „Verfassungsblog“ verweist auf einen lesenswerten Artikel dazu: https://verfassungsblog.de/decommunization-in-times-of-war-ukraines-militant-democracy-problem/