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ARCHIV

Nr.8-9/2019, S.22

22.Dezember 1921 UNGARN

Die ungarischen Gewerkschaften zwischen den Weltkriegen

01 Die MSZDP und die Gewerkschaften werden legalisiert

02 Bedrohliche Arbeitslosigkeit in der zweiten Hälfte der 1920er Jahre

03 Demonstration und Aufstand am 1. September 1930.

04 Erfolgreiche Streikbewegungen in den dreißiger Jahren

Gyula Pallagi, Budapest

Anfang der 1920er Jahre waren die Gewerkschaften und die Arbeiterbewegung in Ungarn in einer verzweifelten Lage. Die tragische Niederlage im Ersten Weltkrieg, das demütigende Friedensdiktat gefolgt von der Besetzung weiter Teile des Landes durch fremde Truppen, die Niederschlagung der republikanische Revolution und die entstehende Sowjetrepublik des Proletariats führten letztlich zur Einsetzung einer neuen Regierung unter Miklós Horthy, der als Reichsverweser zum Staatschef eines Königreichs ohne König wurde. Er selbst bezeichnete sein Regime als „konterrevolutionär“, unterstützt durch sein eigenes System des „weißen Terrors“. Die politischen Parteien des linken Spektrums, Sozialdemokraten und Kommunisten gleichermaßen, wurden verboten, und die Arbeiterbewegung hatte keine Möglichkeit mehr, sich legal zu organisieren, da zahlreiche Gewerkschaften und vor allem die Beamtengewerkschaften zerschlagen wurden.

Die Volkswirtschaft des Landes lag danieder, und die meisten Rohstoffe des Landes wurden von benachbarten Ländern konfisziert. Arbeitslosigkeit und Inflation stiegen steil an. So erreichte die Inflation im Juli 1923 mit 98% innerhalb eines Monats ihren höchsten Wert.

Die Gewerkschaften erklärten, dass ihre Existenz eine „historische Notwendigkeit“ sei, und begannen mit gewerkschaftlichen Hilfsprogrammen. In den 1920er Jahren waren die größten Probleme die steigende Arbeitslosigkeit und die Verarmung der Arbeiterklasse. Für viele Familien war diese gewerkschaftliche finanzielle Unterstützung die einzige Einkommensquelle; diese Maßnahmen stärkten daher die Solidarität, vermittelten ein Zugehörigkeitsgefühl und erhöhten die Popularität der Arbeiterbewegung in den ärmeren Bevölkerungsschichten.

Versuche allerdings, die MSZDP – die Ungarische Sozialdemokratische Partei – zum Schweigen zu bringen, scheiterten voll und ganz, denn die Partei war bei den Fabrikarbeitern, Gewerkschaften und Beamten wie Postboten und Eisenbahnern sehr beliebt, und diese Gesellschaftsschicht bildete eine zuverlässige Basis für die Sozialdemokratie in Ungarn. Mit der zunehmenden Stärke der Gewerkschaften in der Partei veränderte sich auch ihre Rolle. Sieben von elf Mitgliedern des MSZDP-Führungszirkels waren Gewerkschaftsführer. Trotz des politischen Gegenwindes nahm die Anzahl der Mitglieder nicht ab, und die Gewerkschaftsspitze setzte auf eine konstruktive, an der Praxis orientierte Auseinandersetzung und auf eine Taktik wohlüberlegter Schritte mit Streiks und Demonstrationen.

01

Die MSZDP und die Gewerkschaften werden legalisiert

In dieser Situation wurde im April 1921 Graf István Bethlen zum Ministerpräsidenten ernannt, der die Konsolidierung Ungarns vorantrieb. Aufgrund seiner konservativen Politik befand er sich schließlich in einer an zwei Fronten zu führenden Auseinandersetzung mit der extremen Rechten und den sozialdemokratischen und liberalen Oppositionsparteien.

Die geheimen Gespräche zwischen der Regierung und den Gewerkschaftsführern begannen am 8. Dezember 1921, und zwei Wochen später, am 22. Dezember, unterzeichneten sie eine geheime „Versöhnungsvereinbarung“, den so genannten Bethlen-Peyer-Pakt. Die MSZDP und die Gewerkschaften wurden legalisiert, und die Gewerkschaften konnten wieder mit ihrer Organisierungsarbeit beginnen. Die MSZDP durfte an National- und Kommunalwahlen teilnehmen, mehr als 10 Prozent der Sitze im Parlament wurde ihnen jedoch nicht zugestanden.

Die MSZDP musste allerdings einen hohen Preis für diesen Pakt bezahlen – die Gewerkschaften durften keine Beamten und Landarbeiter organisieren, und daraus folgte, dass die Effektivität der Gewerkschaften und der Streik als wirksamste Waffe der Partei ebenfalls beträchtlich eingeschränkt wurden. Sie mussten sich verpflichten, keine neuen Organisationen für die Landarbeiter zu gründen, auf radikale republikanische Propaganda gegen die Regierung zu verzichten und Kritik gegen die offizielle Außenpolitik zu unterlassen. Als Gegenleistung gab die Regierung Bethlen der sozialdemokratischen Partei die Möglichkeit, sich umfassend am politischen Leben Ungarns zu beteiligen, so dass die Sozialdemokraten bei den Wahlen 1922 antreten konnten und im Rahmen des Paktes bis 1944 im Parlament vertreten waren. Ihr Sitzanteil im Parlament war allerdings auf zehn Prozent beschränkt. Zu den weiteren wichtigen Bestimmungen des Paktes gehörten die Wiedereinführung der Versammlungsfreiheit, die Freigabe der Bankguthaben der Gewerkschaften und der weitgehende Verzicht auf die offizielle Überwachung der sozialdemokratischen Partei. Es ist wichtig darauf hinzuweisen, dass der Ministerpräsident sich ebenfalls auf die Herstellung stabiler Lebensbedingungen für die Arbeitnehmer verpflichtete und ein Gesetz für die Versorgung von Alten, Witwen und Waisen sowie eine Invalidenversicherung auf den Weg brachte. Der Inhalt des Paktes blieb bis Ende 1923 geheim.

Die Sozialdemokraten betrachteten diesen Pakt als einen großen taktischen Erfolg, da er ihnen die parlamentarische Vertretung ab der Wahl 1922 bis 1944 ermöglichte und sie damit innerhalb eines ruhigen, geordneten und legalen Umfeldes arbeiten konnten, während die nach wie vor verbotenen und illegalen Kommunisten den Pakt als eine Versöhnung zwischen „Arbeiteraristokratie“ und Kapitalisten an den Pranger stellten und die Gewerkschaftsführer als Verräter bezeichneten.

02

Bedrohliche Arbeitslosigkeit in der zweiten Hälfte der 1920er Jahre

In der zweiten Hälfte der 1920er Jahre wurde die steigende Arbeitslosigkeit sogar für diejenigen bedrohlich, die eine Arbeit hatten, denn die Arbeitgeber wollten Lohnkürzungen durchsetzen und attackierten die bestehenden Arbeitsgesetze. Mit der weiter steigenden Arbeitslosigkeit nahm die Zahl der Streiks und Lohnkämpfe signifikant ab. Die zum Ende des Jahrzehnts heraufziehende Wirtschaftskrise zwang die Gewerkschaftsführungen und die sozialdemokratische Partei, sich immer stärker für den Kampf gegen die Arbeitslosigkeit zu engagieren. Sie forderten Arbeitslosenunterstützung, die Regulierung der Arbeitszeit zur Schaffung neuer Arbeitsplätze, Versammlungsfreiheit für alle und ein sofortiges Ende der polizeilichen Übergriffe. Diese Forderungen erhielten durch Streiks, Hungermärsche und Demonstrationen zusätzlichen Nachdruck. Die Parole lautete: Arbeit und Brot! Das waren die wichtigsten Ziele der Arbeiterbewegung.

03

Demonstration und Aufstand am 1. September 1930.

Im Frühjahr und im Sommer 1930 unternahmen die Regierung und die Behörden nichts gegen die Arbeitslosigkeit. Vorbereitungen für einen mehrstündigen Streik und eine Demonstration auf den Straßen von Budapest begannen Anfang August. Am 11. August 1930 entschloss sich das Gewerkschaftskomitee, am 1. September eine Demonstration durchzuführen. An diesem Montag blieben die Werkstore geschlossen. GYOSZ (Ungarischer Industriellenverband) ordnete einen freien Tag an, so dass nicht genau festgestellt werden konnte, wie viele Menschen dem Aufruf der Gewerkschaften folgten. Das war jedoch keine gute Idee. Gegen 10 Uhr schlossen sich der Demonstration zwischen der Nagykörút- und der Andrássy-Straße immer mehr Teilnehmer an, und als der Zug gegen Mittag den Heldenplatz erreichte, kam es zu Zusammenstößen mit der berittenen Polizei, die die Menschenmenge bedrängte.

Ein Demonstrant warf den ersten Stein – und in den nächsten Sekunden musste sich die Polizei eines wahren Hagels von Pflastersteinen erwehren. Vor der Vajdahunyad-Burg rissen die Protestierenden die Polizisten von ihren Pferden. „Zielt auf die Menge! Feuer!“ So lautete der Befehl des Polizeikommandanten Károly Nagy an seine Reiterstaffel. Danach lag der arbeitslose Bauarbeiter János Darnyik tot vor den Herrscherstandbildern auf dem Platz. Dreizehn Menschen mussten wegen ihrer Verletzungen im Krankenhaus versorgt werden. Rund 150 000 Menschen nahmen an dieser Demonstration teil. Außerhalb der Hauptstadt kam es ebenfalls in ländlichen Industriezentren und größeren Städten zu Demonstrationen, Zusammenstößen mit der Staatsmacht und Verhaftungen

Im Jahr darauf veranstaltete der Gewerkschaftsrat einen außerordentlichen Kongress, auf dem Peyer feststellte, dass mehr als eine Million Menschen aufgrund der falschen Wirtschaftspolitik der Regierung in Armut lebten. Die hoffnungslose Wirtschaftslage trieb immer mehr Menschen in die Verzweiflung, und es gab eine Reihe von Hungermärschen. Auf diesen Demonstrationen erhob die verbotene Kommunistische Partei immer vernehmlicher ihre Stimme. Einige der Branchengewerkschaften – Bergarbeiter, Bauarbeiter, Schuhmacher – freundeten sich mit den radikaleren Methoden der Kommunisten an, was innerhalb der Bewegung zu steigenden Spannungen führte.

04

Erfolgreiche Streikbewegungen in den dreißiger Jahren

Ab 1933 ging die Arbeitslosigkeit zurück, und die industrielle Produktion legte zu. Diese langsame wirtschaftliche Entwicklung hatte auch positive Auswirkungen auf die gewerkschaftlichen Mitgliederzahlen. Die Gewerkschaften verlagerten den Schwerpunkt ihrer Arbeit und passten sich an die neuen Umstände an. Lohnforderungen wurden ein zentraler Punkt, aber auch die Organisationsfreiheit und das Streikrecht gewannen an Bedeutung. Die Streikbewegung der Bauarbeiter erreichte 1935 ihren Höhepunkt. Die Regierung musste ihre Politik ändern und erließ 1937 eine Verordnung über die Beschäftigungsverhältnisse, für die Gewerkschaften ein großartiger Sieg. Die immer weiter nach extrem rechts abdriftende Regierung hatte aber nie den Gedanken aufgegeben, die Gewerkschaften durch ein korporatistisches System mit staatlich kontrollierten Arbeiterkammern sowie Sport- und Freizeitvereinen für die Arbeiter zu ersetzen. Dazu sollte es jedoch aufgrund des Beginns des Zweiten Weltkriegs nicht kommen. Zu diesem Zeitpunkt orientierten sich die ungarische Arbeiterbewegung und auch die Arbeitsgesetzgebung weitgehend an westeuropäischen Vorbildern. Aber die Teilnahme am Zweiten Weltkrieg und die nachfolgende sowjetische Besetzung griffen in das Schicksal des Landes ein, und die Gewerkschaften entwickelten sich auf eine völlig andere Weise weiter.

Übersetzung: Linguanet sprl Quality Translations, Brüssel/Belgien

Abb. (PDF): Oben: Erntedankfest der Bauarbeiter in Debrecen 1923 – Quelle EFEDOSZSZ. Rechts: Selbstbewusste Arbeiter und Bürger! Stimmt für die Sozialdemokraten! Quelle: Politikatörténeti és Szakszervezeti Levéltár (Archiv des Instituts für politische Geschichte und Gewerkschaften)

Abb. (PDF): Demonstration und Aufstand am 1. September 1930.

Abb. (PDF): Streikzentrale der Bauarbeiter 1935 – Quelle ÉFÉDOSZSZ