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ARCHIV

Nr.10/2019, S.22

1.märz 1883 bulgarien

01 Die Geburt der Arbeiter- und Gewerkschaftsbewegung in Bulgarien

02 Wiedergeburt der Gewerkschaftsbewegung in Bulgarien 1989–1990

01

Die Geburt der Arbeiter- und Gewerkschaftsbewegung in Bulgarien

Boyko Atanasov, Sofia

Bulgarien konnte sich 1878 von der Fremdherrschaft des Osmanischen Reichs befreien. Das Land war arm und in erster Linie ein Agrarstaat mit kaum vorhandener Industrie. Somit gab es auch keine ausgeprägte Arbeiterklasse. Vor diesem Hintergrund konnten sich die bulgarische Gewerkschaftsbewegung und ihre Organisationsstrukturen erst am Ende des 19. und den Beginn des 20. Jahrhunderts entwickeln, ohne dass sie im Land auf historische Vorbilder zurückgreifen konnte. Vorbild für den Aufbau der Gewerkschaften in Bulgarien waren die frühen deutschen sich teils noch aus den Gilden herausentwickelnden Gewerkschaften – diese Gewerkschaften organisierten Arbeitnehmer eines bestimmten Berufs, während un- und angelernte Arbeiter häufig nicht als Gewerkschaftsmitglieder akzeptiert wurden. So gründeten sowohl die Begrifflichkeiten als auch die organisatorischen Prinzipien auf „importierten“ Erfahrungen aus dem Ausland, die dort vor allem von bulgarischen Arbeitsmigranten gemacht wurden, aber auch Arbeitern, die aus anderen Ländern nach Bulgarien gekommen sind.

Anfang 1883 wurden unter dem Einfluss tschechischer und deutscher Drucker, die in Bulgarien arbeiteten, in Sofia und Plowdiw die ersten Buchdruckervereine gegründet. Am 2. März 1883 wurde auf Initiative des tschechischen Druckers Jaroslav Sholba der Bulgarische Typographenverein ins Leben gerufen, der auf Erfahrungen der Arbeiterbewegung im Österreich-Ungarn und Deutschland zurückgreifen konnte. Am Anfang waren die Gewerkschaften als Organisationen so strukturiert, dass sich Angehörige dieser Profession gegenseitig unterstützten. Die Mitglieder wurden in unterschiedliche Kategorien eingeteilt: Gründungsmitglieder, ordentliche Mitglieder, unterstützende Mitglieder und Ehrenmitglieder. Sie hatten unterschiedliche Rechte, basierend auf ihren unterschiedlichen Arbeitserfahrungen, und zahlten auch unterschiedliche Mitgliedsbeiträge. Am 1. März 1883 wurde in Plowdiw der Buchdruckerverein „Edinstvo“ (Einheit) gegründet. Bereits in den 1880er Jahren gab es erste Versuche, eine nationale Lehrerorganisation ins Leben zu rufen.

Die Gewerkschaftsbewegung in Bulgarien begann und entwickelte sich also später als in anderen europäischen Ländern, sie orientierte sich vielfach an den Erfahrungen und Traditionen ausländischer Gewerkschaften. In der Folge entwickelten sich nationale gewerkschaftliche Besonderheiten in Bulgarien. Es entstanden Gewerkschaften in jeder denkbaren Form: freie Gewerkschaften, an politische Parteien gebundene Gewerkschaften, anarchosyndikalistisch orientierte, christliche Gewerkschaften und staatliche Gewerkschaften.

Die bulgarische Gewerkschaftsbewegung war in vielerlei Hinsicht Abbild der vielfältigen Trends der weltweiten Arbeiterbewegungen, aber auch der unterschiedlichen sozialen, politischen und ideologischen Kämpfe innerhalb des Landes. Sie war immer unter dem starken Einfluss diverser politischer Strömungen oder politischer Kräfte, deren Ziel teils auch die Unterwerfung oder Zerstörung der Gewerkschaften war.

Eine der folgenreichsten Eigenschaften der bulgarischen Gewerkschaftsbewegung in der Zeit vor der Machtergreifung der Kommunistischen Partei 1944 war ihre politisch begründete Teilung. Von Anfang an bestanden enge ideologische Bindungen an die sozialdemokratische Idee, aber nach der Spaltung der Sozialdemokratie in Bulgarien 1903 bildeten sich zwei unterschiedliche Gewerkschaftszentren. Sie gerieten unter den ideologischen und organisatorischen Einfluss der Bulgarischen Sozialdemokratischen Arbeiterpartei (BRSDP) – „Enge Sozialisten“ als bolschewistischer Flügel – und der Bulgarischen Sozialdemokratischen Arbeiterpartei (BRSDP) – „Breite Sozialisten“ als reformistischer Flügel der bulgarischen Sozialdemokratie. Im Juli 1904 wurde die Allgemeine Arbeitergewerkschaft (ORSS) gegründet. Sie orientierte sich in erster Linie an den „Engen Sozialisten“ (dem bolschewistischen Flügel) und konnte das Proletariat in den Fabriken für sich gewinnen, während die im August 1904 gegründete Freie Allgemeine Arbeitergewerkschaft (SORSS) zu den „Breiten Sozialisten“ (Reformisten) tendierte und sich für das so genannte „Handwerkerproletariat“ stark machte. Die Auseinandersetzungen zwischen den opportunistischen Reformern und dem marxistisch-revolutionären Flügel der Arbeiterbewegung haben viel Kraft gekostet, ohne überzeugendes Ergebnis. Die Existenz zweier Gewerkschaftszentren war das unvermeidliche Ergebnis der Entwicklung der sozialistischen Bewegung in dem Land, beziehungsweise ihrer bedeutendsten Spaltung.

Zu Beginn des 20. Jahrhunderts waren die beiden sozialdemokratischen Parteien in Bulgarien die aktivsten politischen Organisationen, die um politischen Einfluss und für eine Änderung des gesellschaftspolitischen und ökonomischen Systems kämpften. Jede hatte einen unterschiedlichen Fahrplan, und beide benutzten die mit ihnen verbundenen Gewerkschaften dazu, die Massen für sich zu gewinnen und ihre strategischen Ziele zu erreichen und durchzusetzen. In dieser Zeit waren die bürgerlichen Parteien in Bulgarien mit einigen wenigen Ausnahmen nicht dazu bereit, Gewerkschaften zu gründen und zu organisieren.

Redaktionelle Überarbeitung: Eva Detscher / Rolf Gehring / Übersetzung aus dem Bulgarischen: Nordica Translations b.v.b.a., Zelazate/Belgien

Abb. (PDF): Vom 26. Juli bis 6. Dezember 1909 führten die Arbeiter der Streichholzfabrik in Kostenets einen Kampf gegen das ausländische Monopolkapital, das vom bürgerlichen Staat unterstützt wurde, um die Verteidigung ihres Rechts auf gewerkschaftliche Organisation und für eine Verbesserung der ausbeuterischen Arbeitsbedingungen. Als die Regierung beschloss, Streichholzware aus Frankreich zu kaufen und mit dem Schiff nach Bulgarien zu transportieren, traten auch die Hafenarbeiter in Marseille aus Solidarität mit den bulgarischen Arbeitern in einen Streik und weigerten sich, die Streichholware zu verladen.

Abb. (PDF): 1895: 1. Mai Demonstration in Shumen.

Abb. (PDF): 1904: Delegierte auf dem Konstituierenden Kongress der vereinigten Arbeitergewerkschaft, Plovdiv, 21./22. Juli .

Abb. (PDF): (1901 – 1903) Streikorte in Bulgarien

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Wiedergeburt der Gewerkschaftsbewegung in Bulgarien 19891990

Der „Wind of Change“ in Osteuropa erfasste auch Bulgarien und die bulgarischen Gewerkschaften. Unzufriedenheit aufgrund des sozialen und wirtschaftlichen Versagens des Systems, die aufgezwungene Änderung muslimischer Namen und die daraus folgende internationale Isolierung sowie der starke Einfluss der Ideen der „Perestroika“ führten zum Aufstieg von Dissidentengruppen und -organisationen in Bulgarien.

Eine davon war „Podkrepa“, gegründet von den Anhängern Dr. Konstantin Trentschews am 8. Februar 1989. Im Gegensatz zu anderen Dissidentengruppen definierte sie sich nicht als politische Organisation, sondern eher als Gewerkschaft. So wurde sie de jure die einzige legale Oppositionsgruppe, da es auch nach dem damals noch geltenden Arbeitsgesetz nicht formal verboten war, eine Gewerkschaft neben der offiziellen Einheitsgewerkschaft zu gründen. Für politische Organisationen galt diese Regelung nicht. Allerdings kümmerte sich de facto niemand um die Legitimität der Organisation. In den ersten Jahren ihres Bestehens war „Podkrepa“ somit eine parapolitische Organisation, die als Gewerkschaft auftrat. Nach dem 10. November 1989 wurde „Podkrepa“ eines der Gründungsmitglieder der Union Demokratischer Kräfte, aber da sich die Organisation an die Spitze der spontanen Arbeiterproteste setzte, wurde sie allmählich im Kern zu einer Gewerkschaftsorganisation, die die Rechte der Lohnarbeiter vertrat.

Gleichzeitig wurden die offiziellen bulgarischen Gewerkschaften von einer Werte- und Motivationskrise heimgesucht. Am 18. November 1989 erklärte sie ihre Unabhängigkeit von der Kommunistischen Partei Bulgariens, und im Dezember erklärte die gesamte Gewerkschaftsführung ihren Rücktritt. Es folgte die Wahl einer neuen Führung der Unabhängigen Gewerkschaften Bulgariens mit Prof. Krastyo Petkow an der Spitze. Das wichtigste Vorhaben war die Durchführung eines außerordentlichen Kongresses, aber die Gewerkschaft musste sich ebenfalls mit Dutzenden von Streiks, den nationalen Rundtischgesprächen, den ersten Verhandlungen mit der Regierung und unterschiedlichen politischen Kräften sowie dem Austausch inkompetenter Führungskräfte an der Basis befassen. All diese Entwicklungen verhinderten nicht nur das Auseinanderbrechen der bulgarischen Gewerkschaften, sondern bereiteten auch den Boden für die Durchführung des außerordentlichen Kongresses vom 18. Februar 1990, der gleichzeitig der konstituierende Kongress für die Konföderation der unabhängigen Gewerkschaften Bulgariens KNSB war. Damit wurde ein neues Kapitel der bulgarischen Gewerkschaftsbewegung aufgeschlagen.

Die Entwicklung des bulgarischen Systems der industriellen Arbeitsbeziehungen und die Arbeit der wichtigsten Sozialpartner wurde im hohen Maße durch die Auswirkungen des Übergangs zu Marktwirtschaft und Demokratie sowie durch die neue Mitgliedschaft in der EU (Beitritt 2007) bestimmt. In der Tat entwickelte sich der soziale Dialog in Bulgarien auf einem „unbeschriebenen Blatt“, da es keinerlei Traditionen, frühere Erfahrungen oder irgendeinen Rechtsrahmen gab. Trotzdem gehören zu den unbestreitbaren Erfolgen der entstehenden Demokratie im Land der Übergang von einer zentralisierten, allein vom Staat bestimmten Wirtschaft, zu industriellen Arbeitsbeziehungen auf den Grundsätzen des modernen Sozialdialogs und der sozialen Zusammenarbeit sowie der Aufbau der für den sozialen Dialog erforderlichen Institutionen auf unterschiedlichen Ebenen innerhalb eines relativ kurzen Zeitraums.

Aufgrund der besonderen Situation im Land zu Beginn des Wandels, infolge der Liberalisierung der Wirtschaft und gekennzeichnet durch zahlreiche Streiks in den Unternehmen ging es in erster Linie darum, dreigliedrige Verhandlungen zu führen und einen Rechtsrahmen für industrielle Arbeitsbeziehungen auszuarbeiten.

Abb. (PDF): Von den gewerkschaftlichen Dachverbänden KNSB und „ Podkrepa“ 2007 organisierter Streik der Lehrer. Quelle: KNSB: Anniversary collection „25 Jahre KNSB“.