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ARCHIV

Nr.11/2019, S.14

Die Auseinandersetzung um europäische Rahmen für Mindestlöhne und -einkommen spitzt sich zu

Schmits Aufgabenzettel

Von Thilo Janssen

Reform der Entsenderichtlinie, neue EU-Arbeitsbehörde, Richtlinien zu Arbeitsbedingungen und zur Vereinbarkeit von Berufs- und Privatleben – die ausgehende Juncker-Kommission hat einige Projekte zum sozialen Europa auf den Weg gebracht. Zwei lang diskutierte Vorschläge zur Angleichung der sozialen Bedingungen in der EU hat sie nicht umgesetzt: EU-Rahmen für nationale Mindestlöhne und für Mindesteinkommen.1 In Deutschland forderten Linke, SPD und Grüne diese im Europawahlkampf. Auch stehen sie im Koalitionsvertrag der Bundesregierung. Wird die Von-der-Leyen-Kommission sie in Angriff nehmen?

EU-Rahmen für Mindestlöhne – rechtliche und politische Probleme

Im September bekam der angehende EU-Kommissar für Arbeitsplätze Nicolas Schmit aus Luxemburg einen Aufgabenzettel, den sogenannten Mission Letter.2 Ursula von der Leyen, seine zukünftige Chefin, schrieb oben auf seine To-Do-Liste: Ein „Rechtsinstrument um sicherzustellen, dass alle Arbeiter in der Union einen angemessenen Mindestlohn haben.“ Versprochen ist der Vorschlag für die ersten 100 Tage der Amtszeit der neuen Kommission. Vielleicht kommt es den Beamten in der Generaldirektion Beschäftigung da ganz gelegen, dass das EU-Parlament einige Kandidatinnen und Kandidaten für die neue Kommission ablehnte. Durch die Verzögerung bleibt etwas mehr Zeit, um einen tragbaren Vorschlag vorzulegen. Denn es gibt juristische und politische Probleme.

Es gibt nicht wenige europäische Experten im Bereich des Sozialrechts, die der Meinung sind, dass verbindliche EU-Standards für Mindestlöhne nicht mit dem Vertrag über die Arbeitsweise der Union (AEUV) vereinbar sind. Zwar können die EU-Gesetzgeber Parlament und Rat nach Artikel 153 (1) (b) und (2) (b) verbindliche Mindeststandards für Arbeitsbedingungen per Richtlinie für alle EU-Länder erlassen. Jedoch gilt der Artikel ausdrücklich „nicht für das Arbeitsentgelt“ (Art. 153 (5)). Es ist zu erwarten, dass die Kommission mit ein wenig juristischer Kreativität diesen Einwand umgeht. Zu klären ist dann die Frage, welche Art von „Rechtsinstrument“ die Kommission anvisiert: Eine Richtlinie, eine Empfehlung des Rates oder eine bloße Empfehlung der Kommission? Wirklich verbindlich wäre nur eine EU-Richtlinie, deren Umsetzung in nationales Recht von der Kommission überwacht würde und die der Jurisdiktion des Europäischen Gerichthofs unterläge.

Die politischen Konfliktlinien um den EU-Rahmen für nationale Mindesteinkommen verlaufen zum einen zwischen Arbeitgebern und Gewerkschaften, wie etwa in Deutschland.3 Hart gestritten wird jedoch auch zwischen den nationalen Gewerkschaftsverbänden auf europäischer Ebene. Schwedische und dänische Gewerkschaften kennen keinerlei Rolle für staatliche Institutionen bei der Lohnfindung, also weder einen gesetzlichen Mindestlohn noch behördliche oder gesetzliche Allgemeinverbindlichkeitserklärungen für Tarifverträge. Sie sehen in einem EU-Rahmen für Mindestlöhne einen Angriff auf ihre Systeme autonomer Tarifverhandlungen. Außerdem fürchten sie, gewerkschaftliche Verhandlungspositionen könnten geschwächt werden. Zwar heißt es in der Anweisung von der Leyens an Schmit, Lohnuntergrenzen sollten festgelegt werden entweder durch „Tarifverträge oder gesetzliche Maßnahmen, abhängig von der Tradition in jedem Land“. Doch selbst mit diesem Verweis bleibt das Thema für Gewerkschaften aus Schweden und Dänemark, aber auch aus den Niederlanden und Italien ein rotes Tuch. Der Deutsche Gewerkschaftsbund (DGB) befürwortet den Vorschlag dagegen und hat ihn in den letzten Jahren aktiv vorangetrieben, gemeinsam mit den osteuropäischen Gewerkschaften. In Osteuropa bleiben die Löhne seit vielen Jahren hinter der wachsenden wirtschaftlichen Produktivität zurück. Während die Gewerkschaften im Osten sich von einem EU-Rahmen eine bessere Verhandlungsposition, mehr europäische Solidarität und eine systematischere Angleichung der Löhne und Lebensverhältnisse nach oben versprechen, verweisen die Kritiker auf den vergleichsweise sehr niedrigen gewerkschaftlichen Organisationsgrad in Osteuropa. Nur durch eine bessere Organisation der Arbeiterschaft und in der Folge mehr und bessere sektorale Tarifvereinbarung ließen sich die Löhne dauerhaft nach oben angleichen.

Derzeit haben 22 von 28 EU-Ländern gesetzliche Mindestlöhne. Sechs Länder kennen darüber hinaus sektorale, kollektiv vereinbarte Lohnuntergrenzen. Eine EU-Richtlinie sollte einen Rahmen festlegen, der auf den jeweiligen nationalen Kontext zugeschnitten ist: Diskutiert wird in der Regel eine jeweilige absolute Lohnuntergrenze von mindestens 60 Prozent der nationalen Durchschnitts- oder Medianlöhne – je nachdem, welcher im jeweiligen Land höher liegt. Dies ist zumindest der Richtwert, den der Europäische Gewerkschaftsbund (EGB) als gemeinsames Mindestziel für nationale Mindestlohnregelungen vereinbart hat.

EU-Rahmen für Mindesteinkommen – wann bewegt sich die Kommission?

Zu Mindesteinkommen findet sich kein konkreter Vorschlag auf Schmits Aufgabenzettel. Die angehende Kommissionspräsidentin von der Leyen erwartet jedoch von Schmit, dass er einen „Aktionsplan“ vorlegt, mit dem die Europäische Säule sozialer Rechte (ESSR) umgesetzt werden soll. Diese sieht in ihren 20 Grundsätzen unter anderem das Recht bedürftiger Personen vor, „angemessene Mindesteinkommensleistungen“ zu erhalten, „die ein würdevolles Leben ermöglichen, und einen wirksamen Zugang zu dafür erforderlichen Gütern und Dienstleistungen“. Außerdem sollten laut ESSR „für diejenigen, die in der Lage sind zu arbeiten, […] Mindesteinkommensleistungen mit Anreizen zur (Wieder-)Eingliederung in den Arbeitsmarkt kombiniert werden.“4

Das Europäische Netzwerk für Mindesteinkommen (EMIN) arbeitet gemeinsam mit Gewerkschaften und Sozialverbänden aus ganz Europa schon lange an politischen und rechtlichen Grundlage für eine EU-Richtlinie zu Mindesteinkommen.5 Die richtige Rechtsgrundlage scheint gefunden: Artikel 153 (1) (h) AEUV ermöglicht EU-Mindeststandards zur „berufliche Eingliederung der aus dem Arbeitsmarkt ausgegrenzten Personen“. Hier bedarf es einer weiten Auslegung des Begriffes der Eingliederung, der ein sicheres und in der Höhe angemessenes Einkommen einschließt und sich nicht auf die zeitlich unmittelbare Vermittlung in einen Job beschränkt. Gewerkschaften und sozial gesinnte EU-Abgeordnete müssen von vornherein sicherstellen, dass „Anreize“ zur Eingliederung nicht repressiv ausgelegt werden. Zudem muss sichergestellt sein, dass die Höhe des Einkommens tatsächlich Armut verhindert. 60 Prozent des nationalen Medianeinkommens gelten derzeit offiziell als Einkommensarmutsschwelle. Da dies in den ärmsten EU-Ländern nicht ausreichen wird, sollten ergänzend Referenzbudgets bzw. Warenkörbe bestimmt werden.

Ausblick

Der Sozialausschuss des EU-Parlaments hat im Oktober sein Arbeitsprogramm beschlossen. Eine legislative Initiative zu Mindesteinkommen ist nicht dabei. Deshalb bleibt zunächst abzuwarten, wie der „Aktionsplan“ des neuen EU-Kommissars Schmit zur ESSR aussehen wird.

Einen Vorschlag zu einem EU-Rahmen für Mindestlöhne wird die Kommission voraussichtlich im Frühjahr 2020 vorlegen. Die europäischen Gewerkschaften sollten sich deshalb schnellstmöglich auf eine gemeinsame Strategie einigen. Richtig ausgestaltet könnte ein EU-Rahmen für Mindestlöhne eine Grundlage für bessere Tariflöhne sein und dazu beitragen, dass sich das gewaltige Lohngefälle zwischen Ost- und Westeuropa schrittweise angleicht. In jedem Fall muss dabei sichergestellt sein, dass die Verhandlungsposition nationaler Gewerkschaften nicht geschwächt wird. Zudem ist klar, dass ein Mindestlohn kein Ersatz sein kann für einen höheren gewerkschaftlichen Organisationsgrad in den jeweiligen EU-Ländern.

1 Das Konzept des Mindesteinkommen (Englisch: minimum income) wird in Deutschland oft als Mindestsicherung, Grundsicherung oder Sozialhilfe diskutiert. Es geht hier nicht um ein „bedingungsloses Grundeinkommen“

2 https://ec.europa.eu/commission/sites/beta-
political/files/mission-letter-nicolas-schmit_en.pdf

3 https://www.welt.de/wirtschaft/article

201840386/EU-Kommission-Deutsche-Wirtschaft-unzufrieden-mit-Europa.html

4 https://ec.europa.eu/commission/priorities/
deeper-and-fairer-economic-and-monetary-union/
european-pillar-social-rights/european-pillar-social-rights-20-principles_de

5 https://emin-eu.net/

Abb. (PDF): Nicolas Schmit, *1953, Mitglied der luxemburgischen Sozialdemokraten (LSAP), EU-Kommissar für Arbeit. Foto + Info Wikipedia

Abb. (PDF): Quellenhinweis: https://ec.europa.eu/commission/sites/beta-political/files/social-summit-european-pillar-social-rights-booklet_de.pdf