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Nr.11/2019, S.16

„Die neuen Gesichter des Faschismus – der Populismus und die extreme Rechte“

Übersetzung aus dem Englischen und Buchbesprechung: Ulla Diekmann, Frankfurt am Main

Die Stiftung bei der Europäischen Linken transform!Europe (https://www.transform-network.net) und die Rosa Luxemburg Gesellschaft stellten im Anschluss an die Europawahl auf ihrem Wiener Seminar Studien vor, die sich mit der Entwicklung der extrem Rechten in Europa auseinandersetzen.

Das im Folgenden besprochene Buch von Enzo Traverso ist eines der zur Lektüre empfohlenen. Es ist 2019 erschienen.

Enzo Traverso: „The New Faces of Fascism – Populism and the Far Right“, engl. Version 2019, Verso Verlag, London, New York

Enzo Traverso (* 1957 in Gavi, Piemont) ist Historiker und Journalist, lebt und arbeitet in Paris und lehrt an der Cornell University in Ithaka, USA. Er veröffentlichte Bücher und Artikel u.a. zur Auseinandersetzung mit dem Nationalsozialismus in Deutschland. Das hier besprochene Buch ist bisher nur auf Englisch erhältlich. Es basiert teilweise auf Interviews mit dem französischen Journalisten Régis Meyran, die unter gleichem Titel „Neue Gesichter des Faschismus“ auf Deutsch im ISP-Verlag erschienen sind.

Wie der Titel schon verrät, geht es um die Frage, wie die neuen extrem rechten Bewegungen – vor allem in Europa – einzuschätzen sind: Sind sie Faschisten?

Traverso schlägt als provisorische Bezeichnung „Postfaschismus“ vor:

Postfaschismus hat seine historischen Wurzeln im klassischen Faschismus des 20. Jahrhunderts, hat aber die Form verändert und bezieht sich – anders als der Neofaschismus – auch nicht mehr darauf.

Für wenig hilfreich und von Interesse geleitet hält Traverso deren Bezeichnung als Populisten. Populismus meint Massen mobilisierend, gegen politisches Establishment gerichtet. In der aktuellen Verwendung ist der Begriff eine Worthülse für sehr unterschiedliche politische Inhalte und dient auch dazu, die Opposition zu stigmatisieren. Gleichzeitig wird die Verachtung des Volkes ausgedrückt. Populismus ist eine abstrahierende Kategorie, die unterschiedliche historische Herkunft und soziale und politische Ziele ignoriert.

Der Begriff Postfaschismus ist begrenzt auf äußerst rechte Bewegungen in Europa und USA und berücksichtigt sowohl historische Kontinuität als auch Brüche.

In der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts stand der Faschismus im Gegensatz zum Kommunismus, da beide sich als Alternativen zur Krise des Kapitalismus präsentierten.

Das 20. Jahrhundert begann mit dem 2. Weltkrieg und dem Zusammenbruch der europäischen Ordnung, aber produzierte auch die Russische Revolution und den Kommunismus als reale Utopie. Der Kommunismus hatte Licht- und Schattenseiten, aber stellte zweifellos eine Alternative zum Kapitalismus dar.

Zu Beginn des 21. Jahrhundert war der Kommunismus mitten im Fall. Wenn Geschichte als ein symbiotisches Verhältnis zwischen Vergangenheit als Feld der Erfahrung und Zukunft als Horizont der Erwartungen verstanden wird, schien diese Dialektik zu Beginn des 21. Jahrhunderts verschwunden zu sein. Mit dem Verschwinden des Kommunismus wurden Utopien überhaupt in Frage gestellt. Gemäß verbreiteter Auffassung führen Utopien zwangsläufig zu Totalitarismus, weshalb die Marktgesellschaft, basierend auf Privateigentum, individueller Freiheit, Unternehmergeist und Wettbewerb, geschützt von repräsentativen Institutionen, der einzige Weg sei in eine freie Gesellschaft.

Auf diesem Hintergrund ersetzen die radikale Rechte und der Islamismus die verschwundenen Utopien, die aber nicht neu sind, sondern reaktionär: Die radikale Rechte wendet sich gegen Globalisierung und führt uns in die Falle nationaler Begrenzung und alter konservativer Werte. Islamismus bzw. die terroristische Version des Djihadismus kämpft für die Rückkehr zu einem mythologisierten Original-Islam.

Nach Traverso ist Europa derzeit kein Heilmittel gegen extrem rechte Strömungen, weil es institutionell gescheitert ist. Europas Elite hat heute keine politische Vision, sondern ist geprägt von postideologischem Pragmatismus, abhängig von Meinungsumfragen, karrieristisch, opportunistisch, verlogen. Die Troika, die weder politisch noch rechtlich, noch demokratisch legitimiert ist, und doch den Kontinent regiert (zusammen mit IWF, EZB und Europäischer Kommission), ist die Verkörperung eines Ausnahmezustands, der zur Regel geworden ist. Das bedeutet die Unterwerfung des Politischen unter das Finanzielle, es handelt sich also um eine neoliberale, finanzielle Diktatur. Heute steht die EU nicht als Barriere gegen die äußersten Rechten, sondern befeuert sie.

Der Faschismus war der Stützpfeiler des Antikommunismus, aber heute gibt es keine starke linke Systemopposition mehr. Derzeit werden die Interessen der ökonomischen Elite besser von der EU vertreten als durch die radikale Rechte. Eine ökonomische Krise in der EU könnte eine Wandlung bewirken vom Postfaschismus zum Neofaschismus. Noch allerdings stützt das Finanzkapital die Mitte-Parteien. Käme es zum Euro-Kollaps, zu Chaos und Instabilität könnten das Bedingungen für rechtsradikale Herrschaftsübernahme sein.

Terrorismus und Islamophobie bestimmen die kulturelle und politische Landschaft des 21. Jahrhunderts seit dem 11. September 2001. Islamophobie hat in der westlichen Vorstellung den Antisemitismus ersetzt, der zwei Jahrhunderte lang mit allen europäischen Nationalismen symbiotisch verwoben war und so Kultur und Mentalität des Alten Kontinents durchdrungen hat.

Heute hat der Rassismus seine Form und sein Angriffsziel geändert: Der muslimische Immigrant hat den Juden ersetzt. Der Rassimus, der auf biologistischen Theorien fußte, entwickelt sich zum kulturellen Vorurteil, das eine radikale anthropologische Kluft zwischen dem „jüdisch-christlichen“ Europa und dem Islam behauptet. „Der Muslim“ wird zur Projektionsfigur, zur Verkörperung fantasierter Ängste und Bedrohung. Traverso betont, dass die Wurzeln zeitgenössischer Islamophobie in Europas langer und gewalttätiger kolonialer Vergangenheit liegen. Der Kolonialismus schuf die Gegenüberstellung zwischen Bürgern (citizens) und kolonialen Subjekten (indigenes). Die radikale Rechte will diese alte Trennung wieder herstellen. Es ist Traverso überhaupt ein Anliegen, die Bedeutung nicht aufgearbeiteter Kolonialgeschichte und ihrer Massenmorde zu betonen.

Die Niederlagen der Revolutionen des 20. Jahrhunderts hatten einen langfristigen, kumulierten Effekt, der sich heute in der mangelnden Verbindung zwischen den sozialen Bewegungen ausdrückt. Die Weitergabe von Erfahrungen und politischen Kulturen von einer Generation zur nächsten, der „soziale Rahmen der Erinnerung“ fehlen. Linke Kultur selbst wurde erschüttert. Hier setzen die radikalen Rechten an, der Gegensatz zwischen Kommunismus und Faschismus existiert nicht mehr. Das Ende des Kommunismus hat ein Tabu gebrochen, und postfaschistische Bewegungen beanspruchen jetzt die Position des Verteidigers der „popular classes“.

Soziale und linke Bewegungen, wovon es heute viele, aber voneinander getrennte, gibt, müssen sich neu erfinden und den Übergang vom 20. Jahrhundert zu neuen Ideen und politischen Formen bewerkstelligen.

Enzo Traversos Buch ist lesenswert, schon wegen des kenntnisreichen Überblicks über die aktuellen rechtsradikalen Bewegungen und die Gesellschaften im historischen Faschismus. Er setzt sich mit Erklärungsansätzen verschiedener Historiker auseinander und arbeitet er die ideologischen Schnittmengen konservativer Ideologie und Politik mit dem Postfaschismus heraus. Dabei liegt sein Schwerpunkt auf Europa und hier vor allem auf Frankreich.

Abb. (PDF): Der Laizismus in Frankreich ist Gegenstand einer Debatte, die stark mit dem Aufstieg der radikalen Rechten verbunden ist. Sein heutiger Gebrauch meist offen reaktionär und dient als Waffe für die Exklusion in anti-muslimischen Kampagnen. In Frankreich entsteht der Laizismus historisch aus dem Kampf gegen den Absolutismus und ist im Fortgang stark verwoben mit der Geschichte des Kolonialismus und der Haltung gegenüber den Kolonialisierten: Zivilisierte zu Primitiven; Europäer zu Nicht-Europäern und schließlich Bürger zu „Indigènes“.

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Quelle: brightsblog.wordpress.com