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Nr.11/2019, S.19

Thüringen – Eine zweite Chance für emanzipative Politik

Martin Fochler, München.

Nach der Wahl hat Ministerpräsident Ramelow das Mandat, eine Regierungsbildung zu versuchen. Im Moment ist ungewiss, ob die FPD über den 5 Prozent bleibt. Vorläufig entfallen auf die Linke 29, die SPD 8 und die Grünen 5 Mandate, zusammen 42. Auf AFD 24 und CDU 22 zusammengezählt 43. Fallen die derzeit 5 FDP-Mandate weg, müssen die Sitze auf die verbleibenden Parteien verteilt werden. Wahrscheinlich wäre eine Konstellation von (Linke, SPD, Grüne) +2=44 und (CDU, AFD)+3=46. Diese Konstellation ist explosiv.

Der Ministerpräsident kann in Thüringen mit einfacher Mehrheit gewählt werden. Die Wahl ist geheim. Es kommt also darauf an, ob Linke, SPD und Grüne zusammenhalten und ob die Union eine numerische Mehrheit mit der AfD nicht doch zum Tragen bringt. Auch wenn die FDP dabei bleibt, muss die Thüringer Linke eine große Integrationsleistung vollbringen, sie muss nicht nur ihr Regierungslager stabilisieren, sondern auch Rücksichten auf die Union nehmen. Ramelow hatte am Wahlabend angedeutet, dass eine Erleichterung von Volks- und Bürgerentscheiden ein Angebot auch an die Union sein könnte. Was die CDU am Ende machen wird, bleibt ungewiss, in der Partei werden Bestrebungen in Richtung Bündnis mit der AfD hörbar.

Allerdings hat sich Linke bei dieser Wahl aus der Regierung heraus als stärkste Partei in den Umbrüchen des Parteiensystems behaupten können. Grund dafür war, wie alle sagen, die Beliebtheit des Ministerpräsidenten,. Aber was war der Grund für diese unbestrittene Beliebtheit?

Auf der Ebene der Länder und der mit ihren Landesregierungen konkret verflochtenen Gemeinden spielt sich die Bereitstellung der öffentlichen Einrichtungen ab, der sozialen, kulturellen und technischen Infrastruktur ab. Ihr Zustand ist für die Chancen der Lebensgestaltung aller maßgebend. Die dauernd nötigen Anpassungs- und Ausbauprozesse können in verschiedene Richtung gehen: Exklusiv auf Bedienung privilegierter Gruppen oder aber als Hilfsmittel der freien Entwicklung aller Einwohnerinnen und Einwohner. Diesen Weg der Emanzipation hat die Koalitionsregierung Ramelow gesucht und beschritten. Es wäre ein glänzender Erfolg gewesen, wenn alle Beteiligten dabei gewonnen hätten. Das Wahlergebnis honoriert, dass die Regierungskoalition in diese Richtung gegangen ist, und es kritisiert, dass man nicht weit genug vorangekommen ist. Welche Vorhaben wird die zunächst geschäftsführende und dann – hoffentlich – als Minderheitsregierung bestätigte Koalition für die kommende Legislaturperiode proklamieren und alsbald tatsächlich in Angriff nehmen? Darauf kommt es an. Bei einer ersten Wahl für demokratische Ämter können Bewerber sich von Hoffnungen ins Amt tragen lassen, bei einer Wiederwahl geht es schon mehr um handfeste Erwartungen. Kann Rot-Grün-Rot den berechtigten Erwartungen der Leute sogar aus der schwachen Position einer Minderheit heraus entgegenkommen, wird vielleicht auch in der Strategiedebatte der Partei verstanden werden, dass ein Politikstil, der jede Chance auch begrenzter Verbesserung sucht und findet, die schärfste Form der Kritik am vorgefundenen Zustand darstellt und ein belastbares Argument gegen Ausgrenzung und Rassimus liefert.

dok: Erkenntnisse zu wahlentscheidenden Themen und Parteikompetenzen – Zufriedenheit mit der Landesregierung – keine Wechselstimmung – Aus dem Wahlnachtbericht*

ACHTUNG: Tabellen usw. nur im PDF Sichtbar. Aufrufe per Seitenlink im Nachrichtenkopf.

Die rot-rot-grüne Landesregierung wurde abgewählt, ohne dass es eine Wechselstimmung im Land gegeben hätte. Ihre Schwäche war die Schwäche der SPD und der Grünen, der kleineren Koalitionspartner. Die Popularität des Ministerpräsidenten hat ihre Anhängerschaft nicht mitgezogen, möglicherweise hat die Fokussierung auf Bodo Ramelow ihnen sogar geschadet. – Zufrieden mit der Landesregierung. Eine positive Bewertung erhält Bodo Ramelow auch von einer Mehrheit der CDU-Wähler, ein großes Problem für die Strategie der CDU, von der Schwächung der „demokratischen Mitte“ und dem „Erstarken der beiden Ränder“ zu sprechen, wie es anscheinend als erste vorläufige Sprachregelung aus dem Konrad-Adenauer-Haus ausgegeben wurde.

Ministerpräsident Bodo Ramelow macht seine Sache eher gut

(…) Trotz der hohen Zufriedenheit mit der Landesregierung sehen mehr Befragte als 2014 ihr Land nicht gut auf die Zukunft vorbereitet. Hier spiegeln sich womöglich die bevorstehenden und erwarteten Umbrüche in der Wirtschaft (Automobilindustrie) wie auch die Veränderungen zum schlechten, die für die Infrastruktur festgestellt werden. Die persönliche wirtschaftliche Situation wird weit überwiegend mit „gut“ beurteilt. Auch die Wähler der AfD sehen das zu drei Vierteln so.

Auch im sozialen Nahbereich werden nur von einer klaren Minderheit alles in allem Verschlechterungen wahrgenommen. Auf die Frage „In meiner Gegend haben sich die Lebensumstände in den vergangenen Jahren…“ antworteten mit „verschlechtert“ 13%, mit „nicht viel verändert“ 31% und mit „verbessert“ eine relative Mehrheit von 34%. In diese Gesamtbewertung fließt eine spezifische Problemwahrnehmung ein. Wenn es sich alles in allem auch nur für wenige verschlechtert hat, so in einzelnen Bereichen doch für deutlich mehr Befragte – auch in Thüringen handelt es sich um die aus Brandenburg und Sachsen bekannten Probleme der sozialen Infrastruktur in schrumpfenden, alternden und dünnbesiedelten Landstrichen.

(…) Die Forschungsgruppe Wahlen (FGW) ermittelt eine etwas andere Problemlage und Sicht auf die Parteikompetenzen (was überwiegend an einer anderen Fragestellung liegt). Grundsätzlich ergibt sich aber kein anderes Muster bei den Problemwahrnehmungen und zu-gewiesenen Parteikompetenzen.

Die Urteile über die Regierungspartei Die Linke spiegeln die alte politische Polarisierung im Land entlang der Haltung zur DDR und „SED-Nachfolge“ wieder, wenn 43% sagen, die Partei sollte wegen ihrer unklaren Distanzierung von der DDR das Land nicht regieren.

Aber auch die neue Polarisierung durch die AfD wird deutlich, wenn 48% die Thüringer Linke als „Partei der Mitte“ einordnen. Diese Verortung mag überwiegend der Arbeit des Ministerpräsidenten zu verdanken sein. Denn immerhin sagt ein Drittel der Linke-Wähler ausdrücklich, nur wegen Bodo Ramelow wieder die Partei gewählt zu haben und auch 40% der neuen Wähler der Partei erklären dies.

Ansichten über Die Linke

„Bemüht sich am stärksten um sozialen Ausgleich.“ 58%

„Hat ein gutes Gespür für die Probleme der Menschen in Thüringen.“ 55%

„Kümmert sich am ehesten um die Probleme in Ostdeutschland.“ 54%

„Ist in Thüringen eine Partei der Mitte.“ 48%

„Eine Partei, die sich nicht klar von der DDR distanziert hat, sollte Thüringen nicht regieren.“ 43%

„Ohne Bodo Ramelow käme ich gar nicht auf die Idee, die Linke zu wählen.“

Linke-Wähler 30%

Neue Linke-Wähler 40%

Die Versuche, die Partei gegenüber einer „demokratischen Mitte“ als randständig einzuordnen, laufen vollends ins Leere, wenn nur 25% aller Befragten und nur 28% der CDU-Wähler meinen, die CDU solle auf jeden Fall dabeibleiben, eine Zusammenarbeit mit der Linkspartei auszuschließen, aber jeweils etwa zwei Drittel sagen, die CDU soll das neu entscheiden (Infratest).

Die Ansichten über die Grünen spiegeln die Auseinandersetzungen, die der Gesellschaft bevorstehen, wenn tatsächlich eine nachhaltig die Klimakatastrophe eindämmende Klimapolitik verfolgt werden würde.

Ansichten über die Grünen

„Kümmern sich zu wenig um Wirtschaft und Arbeitsplätze“ 67%

„Ihre Klimapolitik ist zu radikal.“ 66%

„Finde es gut, dass sie sich für eine offene und tolerante Gesellschaft einsetzen.“ 66%

„Übertreiben es mit dem Umwelt- und Klimaschutz.“ 63%

„Wollen uns vorschreiben, wie wir zu leben haben.“ 59%

Infratest dimap

Die Ansichten über die AfD entsprechen denen anlässlich anderer Wahlen. Die Übereinstimmung der Wähler der AfD mit den fremdenfeindlichen und islamophoben Positionen der Partei bleibt extrem hoch. Bemerkenswert sind die fast 40% aller Befragten, die die Partei für eine demokratische Partei wie alle anderen auch halten – trotz zum Beispiel eines Spitzenkandidaten, den „Faschist“ zu nennen eine tatsachengestützte Behauptung ist.

Ansichten über die AfD

„Distanziert sich nicht genug von rechtsextremen Positionen.“ 82%

„Spricht aus, was in den anderen Parteien nicht gesagt werden darf.“ 56%

„Finde es gut, dass sie den Zuzug vonAusländern und Flüchtlingen stärker begrenzen will.“ 47%

„Finde es gut, dass sie in der Klimadebatte den anderen Parteien etwas entgegensetzt.“ 39%

„Ist eine demokratische Partei wie alle anderen im Bundestag vertretenen Parteien auch.“ 39%

Infratest dimap

Knapp die Hälfte der AfD-Wähler sagt, Hocke sei zu nah an rechtsextremen Positionen – sie wussten also, wen sie wählten.

Ansichten der AfD-Wähler über Björn Hocke

„Finde es gut, dass er kein Blatt vor den Mund nimmt.“ 77%

„Mit ihm hat die AfD in Thüringen den richtigen Spitzenkandidaten.“ 51%

„Ist mir zu nahe an rechtsextremen Positionen.“ 44%

Infratest dimap

Die Urteile, die über SPD und CDU erfragt wurden, deuten darauf, dass deren schlechtes Abschneiden zu einem hohen Anteil dem schlechten Erscheinungsbild der Großen Koalition, also der Bundespolitik zuzuschreiben ist. Bei der CDU kommen die anhaltenden Verluste konservativ-nationaler Wähler an die AfD hinzu.

* Die WAHLNACHTBERICHTE sind ein Projekt von Benjamin-Immanuel Hoff und Horst Kahrs. Sie erschienen erstmals anlässlich der Wahlen zum Europäischen Parlament 2004. – Quelle des hier mit wenigen Auszügen genutzten 22-Seiten Wahlnachtberichtes: https://www.rosalux.de/publikation/id/41166/die-wahl-zum-7-thueringer-landtag-am-27-oktober/

Abb. (PDF): Diverse Tabellen aus dem Wahlnachtbericht