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ARCHIV

Nr.11/2019, S.22

Vereinigungsfreiheit – Voraussetzung pluralistischer Gesellschaften

01 Arbeiterbildungsvereine: Proletarier aller Länder vereinigt Euch, Thomas Birg,

02 Das Fähnlein der sieben Aufrechten, Eva Detscher

Thomas Birg, Hattingen

Die Vereinigungsfreiheit (VF) gehört zu den Grundprinzipien der ILO und bestimmt deren Selbstverständnis. In Deutschland wird sie im Art. 9 Abs. 1 des Grundgesetzes (GG) allen Staatsbürgern garantiert. Damit unterscheidet sie sich von Art. 9 Abs. 3 GG, der das Recht zur Koalitionsfreiheit „jedermann“ garantiert und Grundlage für die Bildung von Gewerkschaften ist.

Mit dem preußischen allgemeinen Landrecht von 1794 wird die VF erstmals, nicht uneingeschränkt in Preußen und dann mit der Paulskirchenverfassung (1849) in deutschen Landen für kurze Zeit gewährt. Zwischen 1849 und 1919 ist es damit wieder vorbei. In der Weimarer Reichsverfassung enthalten, machen die Faschisten ihr 1933 wieder ein Ende. Die nach 1945 entstehenden Landesverfassungen und das Grundgesetz garantieren die VF bis heute. Als Freiheitsrecht dient sie vorrangig der Abwehr staatlicher Eingriffe in das Recht, sich frei in Vereinigungen zusammenzuschließen und steht in engem Zusammenhang mit der Versammlungsfreiheit.

Den Bürgern wird individuell eine Freiheitssphäre garantiert, die den freiwilligen und ungehinderten Zusammenschluss ermöglicht. Sie ist Grundlage für die Bildung von Vereinen und Gesellschaften. Von staatlicher Seite darf in diese nur unter verfassungsrechtlich definierten Voraussetzungen eingegriffen werden. Als Grundlage für das Entstehen eines Vereinswesens entwickelt sich die Forderung nach VF im frühen 19. Jahrhundert. Sie ist Ausdruck des Wunsches der Menschen sich ohne staatliche Bevormundung freiwillig zusammenschließen zu können. Schon im 18. Jahrhundert entstehende Vereine sind überwiegend durch Geheimprinzip und Exklusivität geprägt. 1737 wird in Hamburg die erste Loge gegründet, der rasch weitere folgen. Es sind anfangs wesentlich geschlossene Gesellschaften des Bürgertums, die überregionalem Austausch und der Verständigung mit dem Adel dienen, sich in Teilen aber schnell an einer humanistischen Ethik und der Aufklärung orientieren, karitativ tätig werden.

Die ab Mitte des 18. Jahrhunderts entstehenden Lesegesellschaften des mittleren und gehobenen Bürgertums dienen in erster Linie der Verbesserung der Aufstiegschancen durch Bildung, sind Träger bürgerlicher Emanzipation und Motor bei der Entstehung einer bürgerlich geprägten Gesellschaft. Dem Gedanken der Aufklärung Rechnung tragend, sind sie immer wieder staatliche Eingriffe von Auflösung bis Kontrolle unterworfen.

Das dadurch entstehende intellektuelle Potential, das auch künstlerisch seinen Ausdruck findet, sickert in eine zunehmend kritisch werdende Gesellschaft Anfang des 19. Jahrhunderts ein. Die langsame Auflösung von Geheimprinzip und Exklusivität trägt ihren Teil dazu bei, dass der Wunsch nach Vereinigungsfreiheit sich ausbreitet und auch für politische Zusammenschlüsse notwendige Grundlage ist.

Das preußische allgemeine Landrecht von 1794 gewährt zwar ein vielfältiges Vereinswesen, grenzt es aber scharf von politischen Vereinen ab. Dennoch wird bei vielen mit Beginn des 19. Jahrhunderts entstehenden Vereinigungen deutlich, dass sie starke politische Zielsetzungen haben. Vor dem Hintergrund dieser Entwicklung werden die staatlichen Sanktionen und Vorgaben verschärft, und das Entstehen von unverdächtigen Turn- und Gesangsvereinen als Tarnung erlebt eine erste Blüte.

Zum Träger und Motor der Forderung nach Vereinigungsfreiheit und nationaler Utopien werden von den unpolitischen Vereinen organisierte Feste und Wettbewerbe. Sie werden zur politischen Arbeit genutzt und sind wichtiger Bestandteil der Aufbruchsbewegung des Vormärz.

Kennzeichnend für das bürgerliche Vereinswesen ist allerdings nicht nur die politische Intention. Die negativen Auswirkungen der Industrialisierung auf die arbeitende Bevölkerung sind nicht mehr zu übersehen und das sich entwickelnde soziale Engagement führt zur Gründung erster Sozialunterstützungsvereine, aber auch zur Disziplinierung der wachsenden proletarischen Unterschicht durch Vereine zur Arbeitserziehung.

Unzureichend organisierte staatliche Bereiche werden z.B. durch Feuerwehrvereine oder Volksbildungsvereine ergänzt. Zur Bekämpfung des immer mehr um sich greifenden Elendsalkoholismus entstehen Mäßigkeitsvereine, und die durch Massenverelendung zunehmende Auswanderung wird in der Gründung von Auswanderervereinen sichtbar.

Die in den 1840er Jahren entstehenden Handwerker- und Arbeiterbildungsvereine organisieren Hilfe zur Selbsthilfe und sind, wie die katholischen Arbeitervereine, eine Reaktion auf die Ausbreitung des bürgerlichen Vereinswesens und eine für das (Über)Leben und die gesellschaftliche Teilhabe immer wichtiger werdende Notwendigkeit.

Die Vereinigungsfreiheit ist eine zentrale Forderung der Märzrevolution 1848. Sie wird ausdrücklich in der Paulskirchenverfassung von 1849 verankert, kann aber bedingt durch die erfolgreiche Konterrevolution in der Rechtspraxis keine Bedeutung erlangen. Dennoch entstehen bis 1850 zahlreiche politische Vereine, Frauenvereine und Frauenberufsverbände sowie Arbeitervereine als Vorläufer späterer Gewerkschaften und Parteien.

Beispielhaft für diese Entwicklung ist der „Bund der Gerechten“, der 1836 auf Initiative des Schneidergesellen Wilhelm Weitling aus dem in Paris schon 1834 gegründeten „Bund der Geächteten“ hervorgeht. 1847 wird er unter Beteiligung von Karl Marx und Friedrich Engels zum „Bund der Kommunisten“ umbenannt. Er wird zum Vorläufer aller späteren sozialistischen und kommunistischen Parteien. Die Gründung des Allgemeinen Deutschen Arbeitervereins (1864) und der Sozialdemokratischen Arbeiterpartei (1869) tragen ihre Wurzeln im Kampf um die Freiheitsrechte. Gerade die Arbeiterbewegung zeigt, dass das Vereinswesen zur Massenbewegung werden konnte, dass freiwillige Zusammenschlüsse als Organisationsprinzip differenzierter gesellschaftlicher Interessen ihre Notwendigkeit und Berechtigung haben.

Abb. (PDF): Der räumliche Geltungsbereich des Preussischen Allgemeinen Landrechts von 1794.

Quelle: Ziegelbrenner – Eigenes Werk/Source of Information: Putzger – Historischer Weltatlas, 89. Auflage, 1965; https://commons.wikimedia.org/w/index.php?curid=22557242 (Farbe für das PL auf weiss gestellt PB).

Abb. (PDF): „Arbeiterjugend! Wissen ist Macht“ – Berufliche Bildung, eigenes Wachstum, politische Teilhabe und sozial-kulturelle Vergemeinschaftung, alles war in den Arbeiterbildungsvereinen programmatisch schon aufgenommen.

www.fes.de/hfz/arbeiterbewegung/themen/arbeiterbildung

Abb. (PDF): Weitling: Schweizerischen Sozialarchiv. https://www.bild-video-ton.ch/bestand/objekt/Sozarch_F_Pa-0001-048

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Arbeiterbildungsvereine: Proletarier aller Länder vereinigt Euch

Thomas Birg, Hattingen

Im 1863 für den ADAV verfassten „Bundeslied“ schreibt Georg Herwegh: „Mann der Arbeit aufgewacht und erkenne deine Macht, alle Räder stehen still, wenn dein starker Arm es will.“ Die spätere Bezugnahme erfolgt meist auf den zweiten Teil des Satzes. Zur kollektiven Verweigerung der Ware Arbeitskraft, muss allerdings erst ein entsprechendes Bewusstsein entstehen. Die Voraussetzung der Erkenntnis eigener Stärke stellt auch Herwegh der Aktion voran.

Mit der Industrialisierung entsteht die Arbeiterklasse, sie versteht sich aber noch nicht als solche. Dieses Bewusstsein muss sich noch entwickeln, um vereinzelten Kämpfen der arbeitenden Bevölkerung gegen die Verschlechterung ihrer Arbeits- und Lebensbedingungen wirkungsvolleres Handeln entgegenzusetzen. Bildung und damit auch Arbeiterbildungsvereine (ABV) spielen für die Entstehung von Gewerkschaften und politischen Parteien der Arbeiterbewegung dabei eine zentrale Rolle.

Die Februarrevolution 1848 in Frankreich führt im Deutschen Bund zur Verbreitung der Forderungen nach Presse-, Versammlungs- und Vereinsfreiheit und einem demokratisch geeinten Deutschland. Mit der Märzrevolution 1848 werden frühere Versuche zur Abschaffung der hierarchisch geprägten Ständeordnung zugunsten eines demokratischen Rechtsstaates endlich realisiert, wenn auch nur für kurze Zeit.

Der Arbeiterbewegung aber fehlen Organisationsstrukturen. Mit der errungenen Vereins- und Vereinigungsfreiheit erleben gewerkschaftliche Bestrebungen die erste Gründungswelle von Arbeitervereinen, in erster Linie von ABV. Ideologisch und programmatisch sind sie kommunistisch oder liberal-demokratisch orientiert. Das Angebot ist vielfältig, orientiert sich an den Berufen der Mitglieder und versucht die, wenn überhaupt vorhandene, schulische Bildung zu verbessern.

Bildung der Arbeiterklasse wird staatlicherseits durch Volksschulen ermöglicht, deren umgangssprachliche Bezeichnung als „Schule der Untertanen“ alles über die Qualität der Einrichtungen aussagt, die nichts mit dem Bild humanistischer Gymnasien des Bürgertums gemein haben. Neben Rechnen, Schreiben und Lesen, bieten ABV Kurse zu Natur- und Geisteswissenschaften, zur Vermittlung handwerklicher und künstlerischer Fertigkeiten und die körperliche und sittliche Ertüchtigung wird durch kulturelle und sportliche Angebote bedient. Vorlesungen, Diskussionen, Sportveranstaltungen, Feste, gesellige Abende und Ausflüge fördern den Austausch. Ein Wir-Gefühl und neues Selbstbewusstsein entwickelt sich. Aus diesem Klassenbewusstsein heraus entsteht nun die Möglichkeit am politischen und gesellschaftlichen Leben selbstbestimmter teilzunehmen.

Abb. (PDF): Mosaik im Eingangsbereich des früheren Stammhauses (erbaut um 1904) vom Arbeiter-Bildungsverein in Peine/Niedersachsen. Quellenangabe: Von Loggediteur (Diskussion) – Eigen, CC BY-SA 3.0, https://de.wikipedia.org/w/index.php?curid=10434177

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Das Fähnlein der sieben Aufrechten

Eva Detscher, Karlsruhe.

hat schon einmal herhalten müssen für eine literarische Begegnung mit dem gesellschaftlichen Wandel, wie er in den Kalenderblättern reflektiert wird (Politische Berichte 6/2016, „Die schweizerische Bundesverfassung“). Dort ging es um die Aushandlungsprozesse zwischen Generationen und Gewerken, diesmal interessiert, wie Keller einen Verein von sieben Männern in den 1840er Jahren beschreibt: eine „Gesellschaft der sieben Männer, oder der Festen, oder der Aufrechten, oder der Freiheitliebenden, wie sie sich abwechselnd nannten. … alle Handwerksmeister, Vaterlandsfreunde, Erzpolitiker und strenge Haustyrannen … hatten sie als Kinder noch den Untergang der alten Zeit gesehen und dann viele Jahre lang die Stürme und Geburtswehen der neuen Zeit erlebt, bis diese gegen das Ende der Vierzigerjahre sich abklärte und die Schweiz wieder zu Kraft und Einigkeit führte … “ In ihren lockeren Zusammenkünften, allerdings regelmäßig zweimal die Woche, ging es in aller Offenheit neben „ihrem häuslichen Schicksal“ vor allem um Politik zwecks Überwindung der Zwietracht in der schweizerischen Gesellschaft. Anlässlich des Eidgenössischen Freischießens 1849 will keiner der sieben Alten sich als Sprecher blamieren, den sie brauchen: sie wollen sich hinter ihrer neuen Fahne als Verein präsentieren. Befreit werden sie aus dieser misslichen Lage durch den jungen Protagonisten der Novelle – Karl, der Sohn eines der Sieben – der beherzt das Anliegen des Vereins vertritt: Freundschaft in der Freiheit!

Auszüge aus Gottfried Keller. „Züricher Novellen.“ Apple Books. Abb.: Buchumschlag, gefunden bei ZVAB.com, Zentrales Verzeichnis antiquarischer Bücher.

Abb. (PDF): Cover