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Nr.12/2019, S.03

Winterwahlen im Vereinigten Königreich – Ausgang ungewiss

Eva Detscher, Karlsruhe

01 info: Die zwölf Schlüsselfragen von Labour:

Es ist jetzt in der Hand des britischen Wählers, welches Gesicht Europa in den nächsten Jahren haben wird. Es ist nicht berechenbar, weder für den unbeteiligten Beobachter noch für die beteiligten Akteure, wie sich die Situation nach dem 12. Dezember 2019 darstellen wird. Daher verzichten wir hier auf das Durchspielen verschiedener denkbarer Szenarien. Die Besonderheiten des britischen Wahlsystems und der damit verbundenen Mehrheitsbildung im britischen Unterhaus müssen durchaus noch einmal in den Blick genommen werden, weil sie noch zusätzlich zu überraschenden Ergebnissen führen kann.

In den Wahlen hat jeder Bürger unter folgenden Bedingungen: er muss über 18 Jahre alt sein. Er ist Brite, Ire oder qualifizierter Commonwealth-Bürger. Er wohnt an einer Adresse im Vereinigten Königreich (oder als UK-Bürger im Ausland, der registriert war zu wählen in den letzten 15 Jahren). Er ist nicht ausgeschlossen vom Wahlrecht. Nicht wählen dürfen u.a. die Mitglieder des britischen Oberhauses und auch nicht die EU-Bürger.

Jeder Wähler hat eine Stimme. Die Auszählung erfolgt nach Wahlbezirk, gewonnen hat der Kandidat mit den meisten Stimmen. Jeder Wahlbezirk entsendet einen Abgeordneten. Es sind 650 Wahlbezirke, daher hat das britische Parlament 650 Sitze.

Die Wahlbezirke und ihre Größe nach Wahlberechtigten sind je nach Landesteil verschieden:

Gegenwärtig sind 11 Parteien bzw. Gruppierungen (unter anderem durch den Rausschmiss aus der Konservativen Partei bzw. parteiübergreifender Zusammenschlüsse wegen der Brexitpolitik) im Parlament vertreten, 2 Sitze nicht besetzt

Zur Erinnerung – warum wird gewählt

„Get Brexit done“ – frei übersetzt: jetzt machen wir ihn endlich, den Brexit – ist der alles übergreifende Wahlslogan der Konservativen Partei unter Boris Johnson. Während Theresa May unbedingt vermeiden wollte, dass die Grenze zwischen EU und Vereinigtem Königreich in die irische See (also zwischen die Hauptinsel und der irischen Insel) verläuft und mit der EU dafür den sogenannten „Backstop“ ausgehandelt hat, war das für Boris Johnson kein Hindernis: die jetzige Regelung vermeidet die Grenze innerhalb Irlands, dafür aber sind die Nordiren in eine Lage gebracht, die sie seit Jahrhundert nicht mehr hatten: sie müssen eine Kontrolle überwinden – egal ob nur Ausweis vorzeigen oder Waren deklarieren – wenn sie von der irischen auf die britische Insel und zurück wollen. Die Folgen dieses Aufkündigens der Interessensgemeinschaft spielen in den anderen Landesteilen Schottland und Wales eine prominente Rolle, wobei es dort im Moment noch um Wahlerfolg für eine EU-freundliche Regierung geht.

Aber da liegt der Hase auch im Pfeffer: Labour kann sich nicht festlegen, sondern verschiebt die Diskussion um das weitere Verhalten bezüglich des Referendums von 2016 auf nach den Wahlen – in der Hoffnung, dann die Regierung zu stellen (auch in Koalition mit z.B. der schottischen Nationalpartei, die aber dann an den Verhandlungen bezüglich Brexit Stimmrecht haben will, während die Liberaldemokraten eine Koalition strikt ablehnen, aber vielleicht dulden würden). Labour hat ein in der europäischen Linken weithin beachtetes „manifesto 2019“ mit 12 Schlüsselforderungen als Wahlprogramm herausgegeben (siehe unten) und will – sofern an der Regierung – binnen sechs Monaten ein neues Referendum durchführen.

Die Tories sind nicht ganz so einig, wie es Boris Johnson u.a. durch Rauswürfe von Mitgliedern versucht darzustellen. Soll es ein „great“ Freihandelsvertrag mit Amerika werden, sollen es Einzel-Transaktionsverträge mit der EU werden, soll der Dienstleistungssektor weiterhin dominant bleiben und die Industrieproduktion (von 25 % auf 11 % seit den 70er Jahren gesunken) noch unbedeutender werden? Soll es ein „Singapur-on-Thames“ werden, also ein Gebiet mit tiefen Steuern und Sozialstandards – es steht zu befürchten, dass der Diskurs innerhalb der Tories auf deren Verschiebung zu einer Partei des rechten Spektrums mit Stärkung der illiberalen Positionen hingetrieben wird.

Auf die 27 anderen EU-Mitgliedsstaaten, die seit 1. Dezember mit neuer EU-Kommission (nur 26 Kommissare plus Chefin, weil GB keinen entsendet vor dem 12.12.) ihre inneren Beziehungen und das Auftreten und Erscheinen gegenüber der Nicht-EU-Welt neu gestalten müssen, kommen komplizierte Aushandlungsaufgaben zu. Der britische Gewerkschaftsbund TUC hat sich erneut eindeutig für die Bewahrung der durch die Mitgliedschaft in der EU beförderten Standards ausgesprochen.

Brexit-Wahl? Schicksalswahl?

Beides stimmt wohl in dieser besonderen Situation – die Beweggründe des Wählers sind vielschichtig und von vielerlei Faktoren beeinflusst. Gerade die neuen Methoden, die beim Brexit-Referendum 2016 über die Zusammenarbeit mit Dominic Cummings, Cambridge Analytica und anderen in die Wahlkampfstrategie mit eingebaut wurden, könnten noch für Überraschungen auf den letzten paar Metern sorgen. In welche Richtung? Das entscheidet am Schluss der britische Wähler.

Abb. (PDF): 1) Labour Party in Wählergemeinschaft mit der Co-operative Party • 2) Kandidiert nur in Schottland • 3) Kandidiert nur in Nordirland • 4) Kandidiert nur in Nordirland, verweigert die Teilnahme am britischen Parlament. Diese sieben Parlamentssitze sind also unbesetzt. • 5) Kandidiert nur in Wales.

Abb. (PDF): Stimmgewichte in den Landesteilen

01

info: Die zwölf Schlüsselfragen von Labour:

1. Erhöhung des Gesundheitsbudgets um 4,3% • 2. Ein zweites Brexit Referendum • 3. Mindestlohn von 8,21 auf 10 britische Pfund • 4. Keine Erhöhung des Rentenalters von 66 auf 70 Jahre • 5. Einführung eines nationalen Versorgungssystems • 6. Null Prozent CO2-Ausstoß • 7. Verstaatlichung der Schlüsselindustrien • 8. Beseitigung des „Universal credit“-Systems (Wohlfahrtsstaat reloaded, das jetzige System fasst einige zuvor einzeln gezahlte Leistungen zusammen …) • 9. Abschaffung der Gemeinnützigkeit für private Schulen • 10. Freie Busfahrt für unter 25-Jährige • 11. Recht für EU Bürger, in GB zu bleiben und dort zu arbeiten • 12. Bau von (freiübersetzt) 100 000 Sozialwohnungen pro Jahr