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Nr.1/2020, S.06

Neue „progressive Regierung“ Spaniens im Amt: Dialog, Lösung der Katalonienkrise, Reformagenda

01 Katalonien: Bruch der Regionalregierung und Neuwahlen.

Claus Seitz, San Sebastián

Am 7. Januar wurde mit denkbar knappem Resultat (167 Ja- gegenüber 165 Nein-Stimmen bei 18 Enthaltungen) die neue Regierung in ihr Amt eingesetzt. Die rechten Parteien, mit der Volkspartei (PP) an der Spitze, die selbst keine Mehrheit im Parlament erreichen können und sich einer blockübergreifenden Lösung (große Koalition oder Billigung einer PSOE-MInderheitsregierung) verweigerten, versuchten bis zur letzten Minute mit allen Mitteln, die Wahl der Regierung zu verhindern.

Die Wahl der neuen „progressiven Regierung“ wurde möglich durch die Einigung der beiden Linksparteien PSOE und Unidos Podemos (UP) auf Regierungsprogramm und -struktur, durch einen politischen Pakt mit der baskischen nationalistischen Regierungspartei PNV, mehrere Vereinbarungen mit kleinen Parteien, sowie der Verständigung mit Esquerra Republicana auf einen Dialog zur Lösung der Katalonien-Krise. Insbesondere letzteres stellt in den Augen der Rechten ein „Verrat an Spanien“ und einen „Bruch der Verfassung“ dar.

Präsident Sanchez (PSOE) erklärte: „Spanien zerbricht nicht. Wir werden im Dialog den politischen Konflikt mit Katalonien in Angriff nehmen, ohne den Rahmen der Verfassung zu überschreiten. Die Koalitionsregierung PSOE und UP wird eine Reformagenda voranbringen.“

Die Ausgangsbedingungen für die neue Regierung könnten kaum schwieriger sein, die Abhängigkeit von Fortschritten im Dialog mit den katalanischen Parteien schafft Unsicherheiten, darüber hinaus wird die Regierung für jede Abstimmung im Parlament, für jede Gesetzesinitiative Mehrheiten suchen müssen; je nachdem einfache, absolute oder qualifizierte.

Eine qualifizierte Mehrheit von 60 % ist z.B. für die überfällige personelle Erneuerung des „Generalrats der Justiz“ nötig. Die Volkspartei (PP) müsste diese nach den parlamentarischen Spielregeln, im Konsens billigen, auch wenn dadurch die konservative Mehrheit im wichtigsten Justizorgan verloren ginge, aber PP-Präsident Casados verweigert sich. Gleichzeitig nähert sich die PP in vielen inhaltlichen Positionen der rechtsradikalen Vox.

Am 9. Februar widmete die größte spanische Tageszeitung „El País“ der Politik der Volkspartei und ihres Präsidenten Pablo Casado ein eigenes Editorial: „Leider setzt Casados nicht auf ein konstruktives Verhalten, wie es seine erklärte Absicht zeigt, die Erneuerung des Generalrats der Justiz, anhängig seit Dezember 2018, zu blockieren. Eine Blockade, die er auf die Gesamtheit der Staatsorgane ausdehnen will, die dringend einen gemeinsamen Pakt der beiden großen Parlamentsparteien benötigen. Die ungebührliche Ausnutzung von so sensiblen und strategischen Themen wie Terrorismus und katalanische Krise für Wahlzwecke entfernen die PP von der Rolle der Staatsopposition. Casados scheint nicht zu verstehen, dass die Übertreibung der Kritik, diese ihres Inhalts entleert und zum Verlust der Funktion führt, eine Alternative zur Regierung sichtbar zu machen“.

In der neuen Regierung hat Podemos-Generalsekretär, Pablos Iglesias, die Vizepräsidentschaft für soziale Rechte und Agenda 2030 inne, in deren Verantwortungsbereich vier weitere UP-Minister zugeordnet sind: Arbeit, Gleichstellung, Konsum und Universitäten. Schwerpunkt der Vizepräsidentschaft für Soziales soll zum einen sein, die relativ schwach entwickelte spanische Sozialpolitik auf vergleichbares europäisches Niveau zu heben (wo sich das Erziehungs- und Gesundheitswesen und das Rentensystem durchaus befinden) sowie Maßnahmen einzuleiten (z.B. Arbeitsreform), die die dramatischen Spuren, die die Krise von 2008 im Leben vieler Menschen, insbesondere der Jugend, hinterlassen hat, wieder zu beseitigen.

Im Juli 2019 lag die Jugendarbeitslosigkeit immer noch bei 32,1 %, davon 46 % länger als ein Jahr arbeitslos. Spanien hat einer der höchsten Quote frühzeitigen Schulabgangs in Europa. Beschäftigte Jugendliche unter 30 Jahren haben zu 60 % Zeitverträge (dreimal so viel wie die älteren Beschäftigten), zwischen 2008 und 2016 ist das Durchschnittseinkommen der Jugendlichen um 28 % gesunken.

Podemos ist im Zuge der Jugendbewegung M-15 entstanden und jetzt, sechs Jahre nach ihrer Gründung, als Juniorpartner der Sozialisten in die Regierung eingetreten.

Eine nicht zu unterschätzende Rolle in der neuen Regierungspolitik wird die PNV (Baskische Nationalpartei) spielen. Die PNV hat sich für die unentbehrlichen sechs Ja-Stimmen ihrer Abgeordneten im Abkommen mit PSOE zusichern lassen, dass „die Regierung mit ihr eine konstant-fließende Kommunikation aufrechterhält und sie im Vorfeld bereits ausreichend über Initiativen und Projekte, die sie anstößt, informiert und verspricht, mit ihr im Fall von Meinungsverschiedenheiten ein befriedigendes Abkommen zu erzielen.“ Insbesondere ließ sich die PNV dies für die Themen Finanz-, Industrie- und Energiepolitik zusichern. Daneben wurden der überfällige Übertrag zentraler Kompetenzen auf die autonome Region Baskenland und Infrastruktur-Investitionen benannt.

Erste Maßnahmen der Linksregierung waren:

– Abkommen mit Arbeitgebern und Gewerkschaften über eine Erhöhung des Mindestlohns für zwei Millionen Betroffene auf 950 Euro (bei 14 Monatszahlungen umgerechnet 1108 Euro/Monat);

– Erhöhung der Entgelte der Beschäftigte im öffentlichen Dienst um 2 % (je nach Wachstum der Wirtschaft Erhöhung auf 3 % möglich);

– Anpassung der Renten an die Entwicklung der Lebenshaltungskosten;

– Aufhebung der Kündigungsmöglichkeit bei ärztlich bescheinigter Arbeitsunfähigkeit;

– Vorschlag für ein Euthanasie-Gesetz.

Die notwendigen Mehrheiten dafür wurden problemlos erreicht. Entscheidend für den mittelfristigen Fortbestand der Regierung wird die Verabschiedung des Staatshaushalts 2020, geplant etwa zum Ende des ersten Halbjahres. Mit der EU-Kommission wurden bereits die neuen Ziele für Defizit und Schulden für die nächsten vier Jahre vereinbart. Die Erhöhung der Sozialausgaben soll vor allem durch Steuererhöhungen für höhere Einkommen, neue Umweltsteuern, Google- und Tobin-Steuern etc. finanziert werden.

Nach vier Jahren der Lähmung und zweimaliger Verlängerung des Staatshaushaltes würde dies die Möglichkeit zur Rückkehr in die Normalität und der Abwendung vom politischen und institutionellen Abgrund bedeuten. Perspektivisch setzt die neue Regierung auf eine Modernisierung von Industrie, Landwirtschaft, Administration und Wissenschaft.

Abb. (PDF): Regierung mit Vertretern von Gewerkschaften und Unternehmerverbänden bei der Vereinbarung der Erhöhung des Mindestlohns

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Katalonien: Bruch der Regionalregierung und Neuwahlen. Dialog und Angebote der Linksregierung

Am 28. Januar kündigte der katalanische Regionalpräsident QuimTorra von der Partei Junts per Catalunya (JxCat) Neuwahlen zum katalonischen Parlament an. Seine Begründung „Keine Regierung kann ohne Loyalität zwischen seinen Partnern funktionieren.“

Was war geschehen?

Anfang Januar vereinbarten Esquerra Republicana (ERC), Koalitionspartner von JxCat, und PSOE ein Abkommen zur Schaffung eines runden Tisches des Dialogs. Das Abkommen machte den Weg frei für die Enthaltung der ERC-Abgeordneten bei der Abstimmung über die neue Regierung im spanischen Parlament am 7.1. JxCat hatte das Abkommen als Verrat an der katalanischen Unabhängigkeitsbewegung heftig kritisiert und gegen die neue Linksregierung gestimmt.

Mit dem Abkommen akzeptierten die Sozialisten die Forderung von Esquerra Republicana, in einem runden Tisch offen über alle Themen und Forderungen, wie Amnestie für die verurteilten katalanischen Politiker und Referendum zur Selbstbestimmung, zu sprechen, ERC rückte im Gegenzug von einseitigen Maßnahmen zur Erreichung der Ziele der Unabhängigkeitsbewegung ab und verpflichtete sich auf die Einhaltung des juristisch-politischen Rahmens Spaniens.

ERC-Nationalrat und -Kongress stimmten mit 93 % bzw. 96 % für das Abkommen. In der Partei hat sich mehrheitlich eine Auffassung durchgesetzt, wie sie Joan Tardà (Mitglied des ERC-Nationalrats, ehemaliger ERC-Sprecher im spanischen Parlament) im September 2019 formulierte: „Sollte es einen Anhänger der Unabhängigkeit geben, der so naiv und dumm ist, zu glauben, dass man die Unabhängigkeit 50 % der Katalanen aufzwingen könnte, die offensichtlich nicht dafür sind, der irrt sich gewaltig“. Die neue Strategie von Esquerra Republicana zielt darauf, mit einer pragmatischen Politik erst mal breite und dauerhafte Mehrheiten gewinnen, insbesondere in der Metropolregion Barcelona.

Am 27. Januar folgte der Präsident des katalanischen Parlaments, Roger Torrent (ERC), dem Beschluss des Obersten Spanischen Gerichtshofs, dem Regionalpräsidenten Torra das Abgeordnetenmandat zu entziehen. Bei Nichtbefolgung, wie von JxCat und Torra eingefordert, hätte sich der Parlamentspräsident selbst des Ungehorsams schuldig gemacht. Hintergrund: Torra war wegen Ungehorsams zu einem 18monatigen Verbot, öffentliche Ämter auszuüben, verurteilt worden, weil er während des Wahlkampfs trotz mehrmaliger Aufforderung, an öffentlichen Gebäuden aufgehängte Separatisten-Symbole, nicht entfernen ließ. Mit einem abschließenden Urteil in der Sache ist innerhalb der nächsten drei Monate zu rechnen. In der Konsequenz wird Torra das Amt des Regionalpräsidenten nicht mehr ausüben können.

ERC forderte JxCat auf, Schluss zu machen „mit symbolischen Ungehorsamkeiten“ und nicht weiter „magische Geschichten zu befüttern“, womit ERC endgültig aus dem jahrelangen Kreislauf „Provokation, Reaktion des Staates, Verurteilung, Ungehorsam …“ ausgebrochen ist.

Die Neuwahlen sollen, so Torra, frühestens nach der Verabschiedung des katalanischen Haushalts (Mitte März) stattfinden, allerdings ist gut vorstellbar, dass JxCat aus wahltaktischen Gründen den Wahltermin bis in den Herbst hineinziehen wird.

Nach derzeitigen Umfragen würden die Pro-Unabhängigkeitsparteien die absolute Mehrheit im Parlament behalten, möglicherweise sogar, ohne dafür die Stimmen der CUP zu benötigen. Allerdings würde dieses Mal nicht JxCat, sondern ERC zur stärksten Kraft im Unabhängigkeitslager werden und den neuen Regionalpräsidenten stellen. Theoretisch soll auch noch eine Drei-Parten-Koalition ERC / PSOE / Comú Podem möglich sein. Die rechten Parteien würden zugunsten der Sozialisten, von Comú Podem und den Unabhängigkeits-Parteien, acht Sitze verlieren.

Am 6. Februar vereinbarten Regionalpräsident Torra und Sanchez, dass das erste Treffen im Rahmen des vereinbarten Dialogs, noch im Februar stattfinden soll. Torra und Sanchez werden dem ersten Treffen des Dialogs vorsitzen, womit Torra und JxCat zumindest den von ERC ausgehandelten und von ihr zuerst scharf kritisierten Dialog erstmal akzeptiert haben.

Angebote der spanischen Regierung

Die neue spanische Regierung hat in der Zwischenzeit ein ganzes Bündel von Maßnahmen auf verschiedenen politischen Ebenen vorgeschlagen, um in der Lösung der katalanischen Krise voranzukommen. Sanchez: „Nach zehn Jahre kollektiven Versagens soll versucht werden, auf die Forderungen der katalanischen Regierung eine positive Antwort oder eine Alternative anzubieten.“ Sanchez und die Bürgermeisterin Barcelonas, Adau Colau, vereinbarten, dass Barcelona wieder spanische Ko-Hauptstadt für Kultur und Wissenschaft wird, wofür jährlich ca. 25 Millionen Euro vorgesehen werden.

Reform des spanischen Strafgesetzes

Am 20. Januar hat die neue Regierung angekündigt, eine breite Reform des spanischen Strafgesetzes in Angriff zu nehmen, u.a. sollen die Delikte Rebellion (Hochverrat) und Aufruhr, neue Umweltverbrechen und Sexualverbrechen überarbeitet werden. Bezüglich des Deliktes Aufruhr schwebt der Regierung eine Harmonisierung mit den in Europa üblichen Definitionen und Strafmaßnahmen vor. Die Handlungen der verurteilten katalanischen Politiker würden, z.B. in Deutschland, als Widerstand gegen die Staatsgewalt bewertet und mit bis zu drei bzw. fünf Jahren Haft verurteilt (je nachdem, ob mit Gewalt oder kollektivem gewaltsamen Handeln verbunden). Für das Gesetzesvorhaben muss die Regierung eine absolute Mehrheit im Parlament finden. Man rechnet damit, dass das reformierte Strafgesetz frühestens Anfang 2021 in Kraft treten könnte, dann allerdings mit Rückwirkung auf die Urteile im Katalonienprozess, d.h. mit dann deutlich niedrigeren Haftstrafen. Ziel der neuen Regierung ist es, „die Katalonienkrise per Dialog und mit den Mitteln der Politik, statt der Justiz zu lösen“. Mittlerweile ist die politische Auseinandersetzung um das Verhältnis Kataloniens zum spanischen Staat in einem rechtlich, gerichtlich, politischen Labyrinth extremer Komplexität angelangt, das verschiedenste Gerichtsbarkeiten, Parlamente und Staaten umfasst.

Der Umfang der Justizverfahren im Rahmen des Katalonienkonflkts (über 70 Prozesse mit über tausend Angeklagten sind anhängig) verdeutlicht die Absicht der ehemaligen PP-Regierung, auf rechtlichem Weg die aktuelle politische und administrative katalanische Führungsschicht auszuschalten.

Abb. (PDF): Treffen zwischen Ministerpräsident Sanchez und der Bürgermeisterin von Barcelona Ada Colaus