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ARCHIV

Nr.1/2020, S.11

Thüringen: Sonderfall? Musterfall? Versuch, Thüringens Regierungskrise besser zu verstehen

Thüringen: Sonderfall? Musterfall?

01 dok 1 Aus dem Beschluss der Landesdelegiertenkonferenz Bündnis 90/Die Grünen, 25.1.2020 in Apolda

02 dok 2 SPD: Gemeinsam neue Wege gehen

03 dok 3 www.spd-thueringen.de

04 dok 4 Die Linke. Thüringen – gemeinsam vor neuen Herausforderungen

05 dok 5 Linke: Parteibasis steht hinter Rot-Rot-Grün

Siehe auch: Versuch, Thüringens Regierungskrise besser zu verstehen, Harald Pätzolt

Freitag, 14.2. Eingeleitet und zusammengestellt von Martin Fochler, München, Thorsten Jannoff, Essen, Alfred Küstler, Stuttgart

In so gut wie allen Industriegesellschaften stellt sich das Problem der Ballung und, damit verbunden, der Verzerrung der Lebensqualität. Megastädte mit Einwohnerzahlen im zweistelligen Millionenbereich scheinen Quell der Produktivität, die sogenannten Regionen gelten als Last. Siedlungsstruktur und politische Traditionen der Bundesrepublik Deutschland bieten Möglichkeiten, diesen Trend zu kontern. Politisch wirkt die starke Stellung der Bundesländer, wirtschaftlich die Existenz kleiner und mittlerer Unternehmen, die beweisen, dass Erfolg in der weltweiten Arbeitsteilung nicht vom Standort im Zentrum der Ballung abhängt, jedenfalls nicht, wenn die Infrastruktur leistungsfähig ist. Die Idee der Haupt- und Großstadt sitzt trotzdem fest, vor allem bei der jeweils jüngeren Generation, die von der Vielfalt der Chancen in den Ballungszentren beeindruckt ist und angezogen wird. Typisch dafür ist die gängige Bezeichnung des Landes als Umland. Solche Fixierungen aufzulösen gelingt nicht durch gute Worte oder bittere Kritik. Es kommt auf die Bereitstellung der Einrichtungen der Daseinsvorsorge und der technischen Infrastruktur an, für die in der BRD das jeweilige Bundesland und in ihm die Gemeinden verantwortlich sind und in Wahlen und Abstimmungen von der Wählerschaft auch verantwortlich gemacht werden. Dabei sind die Optionen „Entwickung als Metropolregion“ hier und „Entwicklung als Netzwerk“ in der Praxis hart umkämpft.

Thüringen: Das Modell der Entwicklung des Landes als und zum Umland einer „Metropole Erfurt“ wäre bizarr. Die polyzentrische Struktur, geschichtliche Gegebenheit in den deutschen Ländern, ist hier mit den Händen zu greifen, und wer sie unvorsichtig antastet – zum Beispiel durch eine rücksichtslose Gemeindereform – verbrennt sich die Finger. (Die Sache mit der Gemeindereform, von der die Koalition bzw. die Regierung Ramelow abrücken musste, wird wohl ein erheblicher Grund für den Verlust der Mehrheit gewesen sein.)

Dieses Bundesland kann nur als Kooperationsmodell gedeihen. Die Überbrückung von Verschiedenheiten durch Zusammenarbeit ist hier unumgänglich. Die Einstimmung auf Zusammenarbeit muss deswegen nicht harmonisch verlaufen. Eine Regierungsbildung mit einem Ministerpräsidenten aus den Reihen der Linken ist neben allem politisch-praktischen als Symbol von Brückenbildungen wirksam und wird von der öffentlichen Meinung getragen. Das wäre ohne Auseinandersetzung mit der DDR-Geschichte nicht möglich. Das Verdikt „kein Rechtsstaat“, das im Koalitionsvertrag fixiert ist, ist positiv als Bekenntnis zu Demokratie, Gewaltenteilung, menschenrechtlicher Bindung zu lesen.*

Kooperation als Grundsatz oder Wert ist mit der Idee der Anerkennung der Mitmenschen als Träger von Menschenrechten und Menschenwürde verschränkt. Ein nationalistisch-völkisches Wertsystem sieht in der rücksichtslose durchgreifende Zentralmacht das Mittel zum Sieg über die Anderen. Die destruktive Politik der AfD folgt dieser Logik. Die Zerstörung von Kooperationsbeziehungen und -möglichkeiten räumt den Weg frei. Letztlich geht es um die Macht im Bund, wozu ein führender Einfluss auf Parteien nötig ist, die liberales und konservatives Denken repräsentieren. In der Landespolitik ist es mit Symbolen allein nicht getan. Die Qualität der Regierung steht den Bürgerinnen und Bürgern allzu unmittelbar vor Augen. Für die Bildung einer Regierung ist letzten Ende maßgebend, ob ihre Vorhaben geeignet scheinen, allgemein empfundenen Mängeln abzuhelfen. Das ist aus der Ferne schwer zu beurteilen. Einen Hinweis darauf geben allerdings die Argumente, mit denen die SPD, Grüne und Linke ihrer Mitgliedschaft bzw. ihren Parteigremien die Akzeptanz des Koalitionsvertrags empfohlen haben. – Wir dokumentieren.

Nachtrag. Die., 18.2. Rot-Rot-Grün hat einen praktikablen Weg gefunden, das erarbeitete Regierungsprogramm in einem Wahlkampf zu verteidigen. Jetzt ist die CDU am Zug.

Abb. (PDF): 5.2.2020, Abendnachrichten: Bilder die im Gedächtnis haften.

* Koalitionsvertrag, S. 66 Schlussbemerkung: „Schlussfolgerungen aus dem DDR-Unrecht. Die Parteien verständigen sich darauf, nicht mit Organisationen, die das DDR-Unrecht relativieren, zusammenzuarbeiten. Die Koalition wird keine Personen, die direkt oder indirekt mit dem Sicherheitssystem der DDR zusammengearbeitet haben, in Positionen dieser Regierung entsenden. Ebenso sollen Menschen, die leugnen, dass die DDR kein Rechtsstaat war, keine Verantwortung in der gemeinsamen politischen Arbeit für Thüringen wahrnehmen. Mit allen, die in der DDR Schuld auf sich geladen haben, diese Schuld aber eingestehen, bekennen und ihren Beitrag zur Aufarbeitung leisten wollen, werden wir zusammenarbeiten.“

www.die-linke-thueringen.de/fileadmin/LV_Thueringen/dokumente/KoalitionsvertragGesamttext_20201701.pdf

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dok 1 Aus dem Beschluss der Landesdelegiertenkonferenz Bündnis 90/Die Grünen, 25.1.2020 in Apolda

In Verantwortung für Thüringen: Gemeinsam neue Wege gehen. Mit dem Ergebnis der Landtagswahl am 27. Oktober 2019 stellten die Wähler*innen die Thüringer Parteien vor die Aufgabe, gewohnte Pfade zu verlassen und neue Wege zu gehen.

Wir, Bündnis 90/Die Grünen Thüringen, stellen uns der Verantwortung für das Land und wollen gemeinsam mit Die Linke und der SPD den Weg in eine Minderheitsregierung, die gestaltet, gehen. In Gesprächen mit allen demokratischen Parteien, die im Landtag vertreten sind, haben wir die Bildung einer stabilen Regierung ausgelotet. Die Notwendigkeit, im Parlament jenseits der Koalition Mehrheiten zu suchen, sehen wir Bündnisgrüne auch als eine Chance für die Thüringer Politik, unter den demokratischen Parteien Brücken zu bauen.

In den Koalitionsverhandlungen haben wir für die Zukunft Thüringens viele wichtige Vorhaben vereinbaren können – u.a. in der Klimapolitik, für Kinder und Familien, für den ländlichen Raum, für gestärkten Verbraucher-und Tierschutz, für eine Stärkung der Demokratie, mehr Bürger*innenbeteiligung, gesellschaftlichen Zusammenhalt und eine menschenrechtsorientierte Flüchtlingspolitik.

Klimaschutz ist für uns zentral. Die Kommunen unterstützen wir weiterhin und verstärkt bei Investitionen in den Klimaschutz und bei nachhaltigen Klimaanpassungsmaßnahmen.

Mit einer gebündelten Verbraucher *innen-und Tierschutzpolitik werden wir die bisherige Tierwohlstrategie zu einem wirksamen Pakt für artgerechte Tierhaltung weiterentwickeln.

Wir wollen für die Menschen auf dem Land und in der Stadt gleichwertige Lebensverhältnisse in ganz Thüringen gewährleisten. Unser Ziel ist eine flächendeckende Mobilitätsgarantie. Gemeinsam mit den Bäuer*innen wollen eine zukunftsfähige Agrarwende umsetzen. Eine zukunftsfähige Entwicklung der ländlichen Räume in Thüringen wollen wir unter aktiver Beteiligung der Bevölkerung erreichen.

Uns geht es um gute Bildung für alle von Anfang an.

Für uns sind die Verteidigung unserer Demokratie, der Schutz aller hier lebenden Menschen sowie ein funktionierender Rechtsstaat existenzielle Aufgaben. Wir haben eine klare Haltung im Kampf gegen Neonazismus, Rassismus und Antisemitismus und stellen uns Hass und Gewalt entgegen. Zuwanderung wollen wir befördern und allen Menschen in Thüringen ein gutes Leben ermöglichen.

In der Landesregierung werden wir das Ministerium für Umwelt, Energie, Natur- und Verbraucherschutz sowie das Ministerium für Justiz und Bürgerbeteiligung übernehmen.

Der Landesverband von Bündnis 90/Die Grünen stimmt dem vorgelegten Koalitionsvertrag „Gemeinsam neue Wege gehen. Thüringen demokratisch, sozial und ökologisch gestalten“ zu und beteiligt sich an einer rot-rot-grünen Minderheitsregierung.

Abstimmungsergebnis: 93 Ja-Stimmen (85,3%), 9 Nein-Stimmen, 7 Enthaltungen.

https://gruene-thueringen.de/wp-content/uploads/2020/01/In-Verantwortung-für-Thüringen.-Gemeinsam-neue-Wege-gehen.pdf

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dok 2 SPD: Gemeinsam neue Wege gehen

17. Januar 2020. Aus dem Mitgliederbrief des SPD-Landesvorsitzenden Wolfgang Tiefensee zum vorliegenden Koalitionsvertrag zwischen den Parteien Die Linke, SPD und Bündnis 90/Die Grünen

Liebe Genossinnen und Genossen, bei der Landtagswahl am 27. Oktober 2019 haben wir eine herbe Niederlage erlitten. Obwohl wir alle gemeinsam bis zum letzten Tag gekämpft haben, ist unser Zweitstimmenergebnis mit 8,2 % der schlechteste Wert seit Wiedergründung der Thüringer SPD. Das ist bitter.

Die Sozialdemokratie war immer dann besonders wichtig für die Menschen, wenn sie deren Lebenssituation positiv verändert hat. Deshalb wollen wir weiter aktiv Politik gestalten Dabei stehen wir in Thüringen vor neuen und schwierigen Herausforderungen. Als Teil einer rot-rot-grünen Minderheitsregierung übernehmen wir Verantwortung für dieses Land und tragen dazu bei im Landtag konstruktive Lösungen für Thüringen zu suchen. Für unsere Vorhaben brauchen wir im Landtag jeweils auch Unterstützung über rot-rot-grün hinaus. Deshalb kann es diesmal auch keinen klassischen Koalitionsvertrag geben, der schon jedes Vorhaben genau ausbuchstabiert. Dieser Zukunftsvertrag ist eine Einladung an CDU und FDP, fünf Jahre mit uns zusammenzuarbeiten.

Für uns war es wichtig, dass in diesem Vertrag eine klare sozialdemokratische Handschrift zu erkennen ist. Ich denke, das ist uns gelungen.

Gute Arbeit und Gestaltung des Strukturwandels: Wir sind der Anwalt für diejenigen, die mit ihrer täglichen Arbeit Rückgrat unserer Gesellschaft sind. Gute Arbeitsbedingungen, faire Löhne, eine gelebte Sozialpartnerschaft, und demokratische Teilhabe für alle Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer sind zentrale Ziele sozialdemokratischer Arbeitsmarktpolitik.

Gute Bildung: Wir wollen die besten Startbedingungen und die besten Entfaltungsmöglichkeiten für alle Kinder und Jugendlichen.

Zusammenhalt und Sicherheit: Die SPD Thüringen setzt sich als Ziel, dass alle Menschen gut und sicher leben können.

Versöhnung von Stadt und ländlichem Raum: Für uns sind gleichwertige Lebensverhältnisse in der Stadt und im ländlichen Raum, insbesondere in Bezug auf die öffentliche Daseinsvorsorge eine Frage des Zusammenhalts unserer Gesellschaft.

Demokratie und Ehrenamt: Wir stehen für die Stärkung und Verteidigung der Demokratie und sind Anwalt für diejenigen, die sich zumeist ehrenamtlich für unser Gemeinwesen einsetzen und den Kampf gegen Rechts führen.

Liebe Genossinnen und Genossen, ich bitte Euch um Zustimmung zum vorliegenden Zukunftsvertrag und zu unserem Eintritt in die geplante Regierung.

Euer Wolfgang

https://www.spd-thueringen.de/koalitionsvertrag/

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dok 3 www.spd-thueringen.de

Die Delegierten des außerordentlichen Landesparteitages der Thüringer SPD haben am Abend des 24. Januar 2020 in Erfurt dem zwischen Die Linke, SPD und Bündnis 90/Die Grünen ausgehandelten Koalitionsvertrag mit großer Mehrheit zugestimmt und damit den Weg für einen Eintritt in eine Minderheitsregierung freigemacht.

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dok 4 Die Linke. Thüringen – gemeinsam vor neuen Herausforderungen

Beschluss des 7. Landesparteitages der Partei Die Linke. Thüringen am 14./15.12.2019 in Erfurt

Die Landtagswahlen am 27. Oktober mit 31 Prozent der Zweitstimmen für Bodo Ramelow und Die Linke sind der bisher größte politische Erfolg unseres Landesverbandes. Erstmals in der Geschichte unserer Partei sind wir stärkste politische Kraft in einem Bundesland geworden. (…)

Für uns gilt dabei, was wir mit unserem Landtagswahlprogramm als Kompass unserer Politik formuliert haben:

„Die Würde des einzelnen Menschen ist der Dreh- und Angelpunkt unserer Politik. Wir wollen ein Thüringen, in dem der soziale Zusammenhalt stark ist, in dem es gerecht zugeht, in dem die Menschen sich sicher fühlen. Alle in Thüringen lebenden Menschen sollen gleichberechtigt am gesellschaftlichen Leben – Arbeit, Kultur, Mobilität, Bildung – teilhaben können, unabhängig von Alter, Einkommen, Herkunft, geschlechtlicher Identität und Orientierung sowie körperlicher oder geistiger Beeinträchtigung.“

Das Ergebnis der Wahlen zum Thüringer Landtag am 27. Oktober stellt uns diesbezüglich vor neue Herausforderungen. Bisherige Koalitionsmodelle werden aufgrund der Mehrheitsverhältnisse im Landtag nicht mehr wie gewohnt funktionieren. Neues Denken wird erforderlich sein, damit Thüringen weiterhin auf demokratischer Grundlage gestaltet werden kann.

Wir als Partei, wir als Linke in Thüringen sind hierzu bereit. Wir sprechen mit allen demokratischen Kräften und Parteien in unserem Bundesland. Wir stellen uns den Herausforderungen unsicherer Mehrheitsverhältnisse und wollen den gesellschaftlichen Zusammenhalt stärken. Jede Regierungskonstellation jenseits der Linken wird auf einem Pakt mit Demokratiefeindinnen und –feinden beruhen müssen. (…)

Gemeinsam mit den Thüringerinnen und Thüringern werden wir Thüringen gestalten und den gesellschaftlichen Zusammenhalt stärken. Deshalb werden wir die folgenden Schwerpunkte in aktuelle und künftige Koalitionsgespräche und den mit den demokratischen Partner*innen zu vereinbarenden Zukunftsvertrag für Thüringen einbringen.

Aus Platzgründen hier nur als Stichpunkte dokumentiert: direktdemokratische Entscheidungen auszuweiten. Angleichung von Renten und Löhnen an das Niveau in Westdeutschland. Gesundheits- und Pflegeangebot. Gute Bildung für alle Kinder. Transformation von Industriestrukturen. Bürgerfreundliche und moderne Verwaltung in ganz Thüringen und starke Kommunen. Aufnahme geflüchteter Menschen. Wir wollen die Mobilität erhöhen. Bezahlbaren Wohnraum sichern. Natürliche Lebensgrundlagen schützen. Schutz der heimischen Landwirtschaft. Investitionsoffensive.

Abstimmungsergebnis: mehrheitlich beschlossen bei keiner Gegenstimme und 5 Enthaltungen

https://www.die-linke-thueringen.de/fileadmin/LV_Thueringen/dokumente/parteitage/lpt7_tagung1/Beschluesse/Beschluss_I1_Thueringen_vor_neuen_Herausforderungen.pdf

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dok 5 Linke: Parteibasis steht hinter Rot-Rot-Grün

3. Februar 2020: 95,29 Prozent der teilnehmenden Linken-Mitglieder stimmen dem ausgehandelten Koalitionsvertrag und der Bildung einer Minderheitsregierung zu. Damit steht auch die Parteibasis geschlossen hinter ihrem Kandidaten Bodo Ramelow und der Bildung einer Regierung der Linken mit SPD und Grünen.