PB
PDF

PB
ARCHIV

Nr.1/2020, S.13

Thüringen: Sonderfall? Musterfall? Versuch, Thüringens Regierungskrise besser zu verstehen

Versuch, Thüringens Regierungskrise besser zu verstehen

Siehe auch Thüringen: Sonderfall? Musterfall?

Harald Pätzolt, Berlin, 7.2.2020

Die handelnden Personen und ihre Absichten, der Verlauf und das Ergebnis der jüngsten Regierungskrise in Thüringen sind bekannt. Allein darum, weil etwas bekannt ist, ist es noch lange nicht erkannt (Hegel). Die Ereignisse im Freistaat sind als Teil und als Ausdruck einer langfristigen Entwicklung des bundesdeutschen Parteiensystems zu verstehen. Zugleich sind für den Verlauf einige Thüringer Besonderheiten als Bedingungen anzuführen.

I. Das deutsche Parteiensystem1 hat nach dem Ende des II. Weltkrieges, grob gesagt, zwei Phasen durchlaufen. In der ersten Phase dominierte das Modell der Volksparteien, die die alten Massenparteien der ersten Hälfte des Jahrhunderts ablösten. Funktionäre und Wählerschaften stammten einst aus gleichen Gemeinschaften, Lagern; letztere waren über Generationen stabil und regional wie lokal leicht zu verorten. Modernisierung brachte dann eine Ausdifferenzierung der Gesellschaft mit sich, die Parteien suchten, schichtenübergreifend vielfältige Gruppeninteressen unter einen Hut zu bringen. Also nicht mehr politische Schutzmacht für separierte gesellschaftliche Lager, sondern Mediatoren, die Heterogenes aggregierten und Interessenkompromisse formulierten. Das brachte eine neue Dynamik in die Beziehung zwischen Parteien und Wählerschaften, Spannungen zwischen Stamm- und Wechselwählern wurden permanent. Politische Identitäten der Parteien waren nicht länger gegeben, sie herzustellen nun eine wiederkehrende Aufgabe.

In der zweiten Phase brachten Wertewandel, Individualisierung und die Ausdifferenzierung der sozialen Verhältnisse mit sich, dass die Parteien für sich das Marktmodell der Politik übernahmen. Konzeptionell lieferte Anthony Downs mit seiner „Ökonomischen Theorie der Demokratie“ (1957) den entscheidenden Hinweis, dass das Wahlverhalten, arg verkürzt gesagt, von der Rechts-Links-Selbsteinordnung des Einzelnen abhängt. Das Wahlvolk wurde mit einer sogen. Glockenkurve abgebildet, in deren Mitte sich der Medianwähler befand. Die Volksparteien wurden von Multiinteressenparteien zu Mainstreamparteien, die bei Wahlen fortan um die majoritäre Mittewählerschaft konkurrierten. Die politische Ware, das Angebot, ersetzte die Interessenvertretung, es war ein Warenkorb politischer Problemlösungsversprechen.

Zur Hochzeit dieses Modus der Parteien-Wähler-Beziehung war „Mitte“ das liebste Wort der Parteieliten und der liebste Ort einer Majorität der Wahlberechtigten im Lande. Wenn etwas mit der Ära Merkel im kollektiven Gedächtnis der Republik bleiben wird, neben der Raute, wird es das Wort „Mitte“ sein.

Mit den zunehmenden sozialen und kulturellen Spannungen, von Krisen getriggert, traten neue Parteien auf, die zunächst und bis heute nach dem alten Muster jenseits der „Mitte“, also an den Rändern verortet wurden.

Das alte Modell funktionierte, solange man Menschen jenseits der „Mitte“ rechts oder links liegen ließ, nicht aber, seit sich die „Mitte“ nicht länger als verbindende Deutung eigener gesellschaftlicher Position behaupten kann. Es wird dennoch von den Eliten weiter benutzt, währenddessen sich praktisch neue politische Muster entwickeln.

II. Das deutsche Parteiensystem suchte und fand, zunächst auf Länderebene, neue Modi des Parteienwettbewerbs und des Koalierens/Regierens. Zum einen Bündnisse, die man, in Anlehnung an mathematische Modelle, als „Ergänzungsmengenmodelle“ beschreiben könnte, lösten „Schnittmengenmodelle“ ab. Die „Kenia-Koalitionen“ wären als jüngste Beispiele zu nennen. Es ist dieses Funktionsprinzip festzuhalten, auch wenn „Kenia“ als Anti-AfD-Koalitionen zustande kamen.2 Zum anderen versucht man in Thüringen das Modell der Minderheitsregierung. Perspektivisch stehen natürlich auch noch weitere Optionen offen, die dann eher mehrheitsdemokratisch-autoritär wären, basierend auf populistischen, personenbezogenen Bewegungs- oder Wahlparteien. Wir kennen das aus Nachbarländern und sehen die Versuche auch in Deutschland.

III. Zurück zu Thüringen. Vor dem Hintergrund der beschriebenen Entwicklungen des Parteiensystems in Deutschland sehen wir im Freistaat zu einen, dass der Wechsel zu einem Ergänzungsmengenmodus, Kenia, nicht möglich war und ist. Den mehrheitsdemokratischen Ausbruch aus dem Dilemma hat der FDP-Mann Kemmerich, gänzlich voraussetzungslos, frei von Gefolgschaft und Charisma, versucht. Und auf für den Beobachter geradezu verstörende Art und Weise, das einst Gewesene beschwörend, reden CDU, FDP und AfD (!) von einer „bürgerliche Mitte“, die es nicht mehr gibt. Das fußt auf einer Besonderheit in Thüringen. Nirgendwo sonst in Ostdeutschland ist der Niedergang der CDU derart steil (in 20 Jahren von 51% auf 21,8%) verlaufen. Man hat das, dafür ja der Exkurs über die generelle Entwicklung des Parteiensystems, „erlitten“, ohne groß dafür verantwortlich gewesen zu sein. Das ist gewiss eine traumatische Erfahrung. Man darf derartige „softe“ Faktoren nicht unterschätzen.

Das führt zu einer weiteren Besonderheit in Thüringen. Das Parteiensystem des Freistaates hat mit Ramelow, Mohring und Höcke drei sehr spezielle Spieler. Bodo Ramelow setzt, weit über Parteigrenzen ausgreifend, auf einer ideologischen Selbstverortung der Bevölkerung, die sich seit knapp 20 Jahren zur Hälfte als „links“ und „etwas links“ sieht, auf. Damit steht er, mit seinem Charisma und dem Habitus als „Landesvater“ freilich auch mehrheitsdemokratische Sehnsüchte breiter Bevölkerungskreise bedienend, jedem Versuch, eine „bürgerliche Mitte“ gegen einen „linken Rand“ auszuspielen, im Wege. Mit Björn Höcke mobilisiert ein faschistoider Typus mehr als die knapp 20% sich rechts bzw. eher rechts verortenden Menschen im Freistaat. Mike Mohring hat die überstandene Krebserkrankung auch als Politiker geprägt, ihn dürften Weisungen aus dem Konrad-Adenauer-Haus nicht zwangsläufig mehr bewegen.

Man sieht, die drei sind nicht die typischen Repräsentanten ihrer Parteien, auf sie kommt es genau darum an.

IV. Thüringens Regierungskrise beschleunigt politische Entwicklungen auf der Bundesebene. Die CDU muss den Parteivorsitz und damit die Frage der Kanzlerkandidatur klären. Friedrich Merz ist plötzlich wieder im Spiel. Das mit und von ihm verfolgte Szenario muss so nicht eintreten, liefert aber interessante Hinweise auf Kommendes.

Auch Merz redet gern über die Mitte, die er durch eine GroKo ausgezehrt sieht. Sein Kalkül: Die CDU muss, mit der CSU, erstens knallhart Wirtschaft und Industrie stärken. Sie muss zweitens, wie es sein ehemaliger Black Rock Boss Larry Fink betreibt, die Klimafrage von oben, durch das große Kapital, beantworten lassen. Er erinnert an die politische Folge des Atomausstiegs, die Grünen sanken kontinuierlich auf (BTW 2013) bis auf unter 10%. Und sie muss drittens den sozialen Zusammenhalt garantieren. Man hielte die AfD klein und die SPD auf unter 20%. Mit eigenen 35% plus x gäbe es keine GroKo mehr – die Probleme der ausgezehrten Mitte und der Ränder wären gelöst.

Dieses Szenario scheint die Herausforderung, andere haben heute schon mit dem Verdacht zu kämpfen, dieses und damit Merz (oder anders herum) auch verhindern zu wollen. Wenigstens werden sich die Protagonisten damit auseinander zu setzen haben.

1 Die folgende Darstellung verwendet Argumente, teils im Wortlaut, aus Texten (MS.) von Elmar Wiesendahl: Parteiendemokratie in der Transformation und: Aufstieg und Niedergang der Volksparteien. 2 Werner J. Patzelt verkennt dies in seinem Artikel: Minderheitsregierung? Warum eigentlich nicht? FAZ vom 09.12.2019, S. 7