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ARCHIV

Nr.1/2020, S.16

EU-Außen- und Sicherheitspolitik: Wieviel Kontinuität unter sozialdemokratischer Führung?

Interview mit Norbert Hagemann *

01 Norbert Hagemann: Zur Person

Frage:Mit dem Vertrag von Amsterdam wurde 1999 die Funktion des „Hohen Vertreters für die gemeinsame Außen- und Sicherheitspolitik“ in der EU geschaffen. Welches sind seine Aufgabenfelder und wie hat sich seine institutionelle Rolle seit 1999 verändert?

Norberg Hagemann: Die Einrichtung dieser Funktion war damals eine klare Umsetzung des Willens der großen, die europäische Integration treibenden Mitgliedstaaten, einen Mechanismus der gemeinsamen Koordinierung in der Außenpolitik zu etablieren. Darin sollte allerdings auch die Verteidigungspolitik eingebunden werden, denn es gab den klaren Plan, die Westeuropäische Union (WEU) mit ihren Parallelstrukturen aufzulösen und in die EU zu integrieren. Inhaltlich ging es um möglichst gemeinsame Strategien, Aktionen und Standpunkte in diesen Politikbereichen, um die eigenen internationalen Machtpositionen zu stärken und zugleich Globalisierungsgewinne zu sichern. Der Hohe Vertreter der damals in Personalunion auch Generalsekretär des Europäischen Rates war, hatte die Aufgabe, die koordinierende Arbeit zur unmittelbaren Umsetzung dieser Ziele zu organisieren. Während der Vertrag von Nizza (2000) die sicherheits- und verteidigungspolitischen Kompetenzen der EU noch einmal ausweitete, wurde die Funktion des Hohen Vertreters selbst erst mit dem Vertrag von Lissabon (2007) aufgewertet: als Beauftragter des Rates für die Gemeinsame Außen- und Sicherheitspolitik, war er jetzt auch Vizepräsident der Kommission, zuständig für Außenbeziehungen. In dieser Funktion ist er auch der oberste Dienstherr von fast 8 000 Diplomaten und Angestellten des neu geschaffenen Europäischen Auswärtigen Dienstes (EAD) und steht zugleich der relativ kleinen Europäischen Verteidigungsagentur (EDA) vor, die den Auftrag hat, beim Auf- und Ausbau europäischer militärischer Kapazitäten, auf die Kohärenz von Industrie-, Rüstungs- und Sicherheitspolitik zu drängen.

Die zentralen Aufgaben des Hohen Vertreters und Vizepräsidenten (HV/VP) sind, die EU auf internationaler Ebene zu vertreten, den regelmäßigen Tagungen des Rates der Außenminister der Mitgliedsstaaten der EU vorzusitzen und über den Rat und die Europäische Kommission hinweg die Kohärenz jeglichen außenpolitischen Handels der EU, d.h. ein über verschiedene Politikbereiche hinweggehendes abgestimmtes Vorgehen zu sichern. Alle Politikbereiche mit Außenwirkung, so z.B. die humanitäre Hilfe, die Entwicklungszusammenarbeit, aber auch der Handel, sollen hierüber unter das Primat der strategischen außen- und verteidigungspolitischen Ziele der EU gestellt werden. An dieser Konstellation hat sich nach Lissabon grundsätzlich nichts geändert. Auch die neue Europäische Kommission und ihr Hoher Vertreter werden sich an die entsprechenden Vorgaben der Verträge halten müssen.

In der politischen Sprache der Kommission ist gegenwärtig eine gewisse Akzentuierung zu erkennen. So spricht man nicht mehr von der EU als „globalem Akteur“ sondern als „globalem Führer“ (global leader). Das, was wir bisher über die zukünftige als „geopolitisch“ apostrophierte Ausrichtung der Kommission wissen, lässt erkennen, dass die Durchsetzung der beschriebenen Kohärenz das zentrale politische Ziel bleibt und dass zugleich die Arbeit der Kommission in allen Politikbereichen des auswärtigen Handelns deutlich „strategischer“ und „effizienter“ werden soll. Dazu bedient sich die neue Kommissionspräsidentin von der Leyen im ersten Schritt vor allem verbindlicher Vorgaben für die Kommissare, neuer Aufgabenzuordnungen unter diesen sowie einer veränderter internen Arbeitsorganisation.

Könnte aus deiner Sicht die Ausweitung der Aufgaben Einfluss auf die Positionsbestimmungen der EU haben und wäre eine Einhegung der unterschiedlichen außenpolitischen Interessen der Mitgliedsstaaten, die – historisch gesehen nicht unbedingt unverständlicherweise – oft stark divergieren, perspektivisch denkbar?

Bisher gibt es noch relativ wenig politisches Material der Kommission oder auch vom Rat, anhand dessen man konkret ableiten könnte, was sich gegebenenfalls an der Positionierung der EU wohin verschiebt. Aber trotz einer gewissen Unschärfe zeigt sich eine Logik. So hat die Kommissionspräsidenten bis dato zwar noch offen gelassen, was sich hinter der als „geopolitisch“ charakterisierten Kommission verbirgt, aber ihre Reden und die einiger ihrer Kollegen sind voll mit richtungsweisenden Begriffen: „technologische Souveränität“, „Entwicklung und Durchsetzung europäischer technologischer Standards“, „eigene europäische Wege, die nicht die der USA oder Chinas seien“, „strategische Autonomie im Verteidigungsbereich“ usw. Es scheint also gegenwärtig darauf hinauszulaufen, dass die Kommission einen Kurs anstrebt, der vor dem Hintergrund globaler Umbrüche, sich verschärfender internationaler Auseinandersetzungen, aber auch gewachsener Widersprüche mit den USA die Stärkung der EU als selbständigem („geostrategischen“) Pol im internationalen Machtgerangel zum Ziel hat.

Interessant ist in diesem Zusammenhang, dass die neue Kommissionspräsidentin die Umsetzung des von den Vereinten Nationen gemeinschaftlich vereinbarten Normen- und Zielkatalogs der Nachhaltigkeit (Sustainable Development Goals SDG) zu einer zentralen Achse ihrer Politik gemacht und alle Kommissare hierauf verpflichtet hat. Das könnte die Basis für ein mehr kooperatives Agieren der EU in der Welt und damit Ausgangsbasis für die Lösung so mancher weltgemeinschaftlicher Herausforderung, angefangen von der sozialen bis hin zur ökologischen Frage bilden. Ob der HV/VP seine koordinierende Rolle darin sieht, die zum Teil gegenläufigen, eher die globale Konkurrenzfähigkeit und somit potentiell auch die internationale Konfrontation stärkenden Ziele und Politiken der anderen Kommissare in eine solche Richtung zu koordinieren, scheint unwahrscheinlich. Am Ende hat in vielen Fragen auch nicht die Kommission oder der HV/VP, das letzte Wort in der EU-Politik, sondern der Rat, d.h. die Regierungschefs der Mitgliedsstaaten. Dieser ist zurzeit durch tiefe Widersprüche und Streitereien gekennzeichnet. Diese sind repräsentieren stark divergierende Interessen und müssen austariert werden. In der Regel geschieht das über interne Prozeduren, wie z.B. die Abstimmmodalitäten. Das auch von links immer wieder kritisierte „Mauscheln hinter verschlossenen Türen“ ist vor dem Hintergrund auseinander driftender Interessen ein Versuch, über einen solchen Mechanismus diese zu berücksichtigen, oder notfalls so zurückzudrängen, dass ein gemeinsames Handeln möglich wird. Je mehr im Laufe der Jahre Mitglieder zur EU stießen und sich zugleich die Politikbereiche der EU ausweiteten und an Tiefe zunahmen, rückte die Frage der Einhegung von national unterschiedlichen Positionen in den Mittelpunkt des Interesse gerade der großen tonangebenden Mitgliedstaaten. Begründet wurde dies in der Regel mit einem unterstellten Zeit- und Kostendruck sowie einem abstrakten Effizienzerfordernis. Vielfach hatten aber gerade die Großen – und hier sehr oft gerade auch Deutschland – keine Lust mehr auf die sich ständig wiederholenden Debatten. In den Vordergrund rückten damit Forderungen, auch im Verantwortungsbereich des HV/VP von der notwendigen Einstimmigkeit der Abstimmungen zu Abstimmungen mit qualifizierter Mehrheit überzugehen. Für mich ist das der methodisch-strukturelle Grund der sich beständig verstärkenden zentrifugalen Kräfte in der EU. Es ist doch ganz klar: wenn der Binnenmarkt mit seinen Logiken und Regeln die Mitgliedstaaten hart in Gewinner und Verlierer einteilt, letztere in den tonangebenden EU-Gremien auch noch strukturell „immer“ überstimmt werden, suchen diese Staaten Wege, mehr Gewicht zu erlangen, sei es in Staatenverbünden wie den Visegrádstaaten (Ungarn, Polen, Tschechische Republik, Slowakei) oder auch der Hanseatischen Allianz oder sie interessieren sich für Entwicklungsperspektiven, die sich ihnen im Rahmen der „Neuen Seidenstraße“ bieten. Als Reaktion drängen die ewigen Gewinner dann wieder auf die Einheit im Handeln, auf die Effizienz und die Kohärenz und so weiter und so fort. Die neue Kommissionspräsidentin forderte nunmehr den HV/VP sogar dazu auf, generell das Suchen gemeinsamer Positionen hinter sich zu lassen und bei Vorschlägen sich von vornherein der vertraglichen Möglichkeiten, mehrheitlich abzustimmen, zu bedienen. Die Erklärung, ob sich die Kommissionspräsidentin damit per Arbeitsanweisung an ihre Kommissare vom zentralen Integrationsmotto des Lissabon Vertrages „In Vielfalt geeint“ verabschiedet, ist sie bislang noch schuldig geblieben.

Was steht aktuell auf der Tagesordnung des Außenbeauftragten?

Der HV/VP Josep Borrell, ein katalanischer Sozialdemokrat, ist außenpolitisch und in EU-Angelegenheiten kein unbeschriebenes Blatt, war er doch einige Zeit spanischer Außenminister und eine halbe Wahlperiode auch Präsident des Europäischen Parlaments. Somit war seine Agenda auch seit dem ersten Tag dicht gefüllt. Er bereiste in der Zeit seit dem Dienstantritt bereits den Westbalkan, war im Iran und in den USA und auch in Deutschland. Zahlreiche Treffen mit Außenministerkollegen standen bereits auf seiner Tagesordnung wie auch die Beratungen mit dem Europäischen Parlament, zu denen er per Vertrag verpflichtet ist.

Sehr viel Zeit seiner Arbeit werden zukünftig wohl diejenigen Aufgaben in Anspruch nehmen, die er durch die Ausweitung seines Aufgabenportfolios hinzubekommen hat. Mit der Humanitären Hilfe, der Entwicklungszusammenarbeit (erst einmal begrenzt auf Afrika) und der Migrationspolitik wurden ihm einfach Bereiche direkt zugeordnet, die er früher nur im Sinne politischer Kohärenz zu koordinieren hatte. Die Verantwortung für die anderen Bereiche trägt der HV/VP zwar nicht unmittelbar, er zeichnet allerdings für alle Kommissare mit einem Portfolio auswärtiger Beziehungen, also der Nachbarschafts- und Erweiterungspolitik, des Krisenmanagements, der internationalen Partnerschaften (Entwicklungspolitik) und des Handels fachlich verantwortlich. Damit liegen am Ende beim HV/VP alle gegenwärtig schweren politischen Probleme auf dem Tisch. Er hat den Gesamthut auf für die anstehende Klärung des Verhältnisses der EU zu China und den USA, für die schwierigen, sich hinziehenden Verhandlungen zum Investitionsabkommen mit China, für ein nach dem Scheitern von TTIP angestrebtes neues Handelsabkommen mit den USA, für die Regelung der Beziehungen mit dem aus der EU ausgetretenen Vereinigten Königreich aber auch für die Beseitigung des Scherbenhaufens in der Nachbarschafts- und Erweiterungspolitik auf dem westlichen Balkan. Ungeachtet der französischen Blockade der Beitrittsgespräche mit Nordmazedonien hat die Kommissionspräsidentin unzweideutig klar gemacht, dass der Westbalkan unverändert zur „Einflusssphäre“ der EU gehören soll.

Daneben hat jeder der Kommissare von der Präsidentin Kohärenzvorgaben bekommen, um das Ziel der bisher nicht näher definierten „geostrategischen Kommission“ umzusetzen. Sie hat zudem angekündigt, alle 14 Tage auf der Tagung des Kollegiums der Kommissare Fortschritte und konkrete Fragen aus den Politikbereichen der vom HV/VP geleiteten Gruppe der Kommissare zu diskutieren. Dabei wird es allen Anschein nach auch um Fragen, wie in der Agrarpolitik die weltweite Durchsetzung europäischer Lebensmittelstandards, in der Binnenmarktpolitik die Stärkung der „technologischen Souveränität“ Europas, im Transportbereich die Entwicklung der infrastrukturellen Verbindungen der EU mit den Nachbarschaftsländern oder im Justizbereich die Förderung der Datenschutzgrundverordnung als globales Modell gehen. Diese transversale Arbeit zu koordinieren und die entsprechenden Vorbereitungen für die Tagungen der Kommission zu treffen steht ebenso in der Verantwortung des HV/VP. Dem Protokoll einer ersten solchen Besprechung des Kollegiums der Kommissare ist zu entnehmen, dass die Europäische Kommission unter seiner Verantwortung dem Rat in Jahresfrist die zukünftige „politische und strategische Ausrichtung“ („boussole stratégique“) in der Gemeinsamen Sicherheits- und Außenpolitik (GSVP) vorlegen muss. Angesichts gravierender Divergenzen zwischen den Mitgliedstaaten verlangt der Rat von der Kommission ganz offensichtlich mehr Klarheit, was sie mit der politisch anvisierten „Verteidigungsunion“ meint und welche Rolle hierbei die politisch-strategischen und die industriepolitischen Säulen spielen. Schreitet der HV/VP auf dem von seiner Vorgängerin eingeschlagenen Weg fort, ist nicht auszuschließen, dass er am Ende nicht nur die GSVP und damit die Fachminister der Mitgliedstaaten politisch koordiniert, die Rüstungskooperation der Mitgliedstaaten der EU steuert, sondern auch noch über die unmittelbare Zuweisung von Mitteln aus dem Verteidigungsfonds für die entstehende europäische Rüstungsforschung und –produktion entscheidet.

Die Fragen stellten Eva Detscher und Rolf Gehring

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Norbert Hagemann: geboren in Rostock, wohnhaft Berlin, ausgebildeter Außenpolitiker (1974–79 in Moskau), Dr. Phil., die letzten zwei Wahlperioden Büroleiter bei MdEP Helmut Scholz (Die Linke) mit Arbeitsschwerpunkten Internationale Beziehungen (AFET) sowie konstitutionelle Fragen / Verfassungsrecht (AFCO), aktuell Senior Research Fellow am WeltTrends Institut für Internationale Politik Potsdam

Abb. (PDF): Rolf Gehring. Das Bild von der Webpage des European External Action Service bewirbt die Globalstrategie der Europäischen Union. Was die Bilder vermitteln und vermitteln sollen ist Kooperation, Diplomatie, Hilfe, Konfliktprävention als Ziele und Praxis der europäischen Außenpolitik. Tatsächlich ist die Globale Strategie wohl mit der Begrifflichkeit gestaltungsoffen am besten charakterisiert. In den ersten Jahren dominierten Projekte, die in den Bereich der Entwicklungszusammenarbeit fallen. Bezüglich des Projektes Sofia verweist die Kommission auf Zehn-, wenn nicht Hunderttausende Gerettete, während Kritiker das Ziel der Vorverlagerung der Außengrenzen betonen. Diese tatsächliche Ambiguität verweist aber auch auf Ausgestaltungsmöglichkeiten, denen sich linke Politik dringend zuwenden sollte.

Abbildung: https://eeas.europa.eu/topics/eu-global-strategy/64034/vision-action-eu-global-strategy-practice-three-years-looking-forward_en