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Nr.1/2020, S.26

Strategiedebatte: USA: Feminismus für die 99 % Feministisches Autor*innenkollektiv: Mehr Befreiung wagen. Die Linke auf die Höhe ihrer Möglichkeiten bringen.

Strategiedebatte: USA: Feminismus für die 99 %

Sabine Skubsch, Karlsruhe

Siehe dazu auch das Dokument auf den Seiten 28/29.

In den USA wird die Auseinandersetzung um die Ausrichtung des Feminismus ungleich heftiger geführt als in Deutschland. Immer wieder wird der Vorwurf erhoben, die Linke habe zu sehr auf Identitäts- und Frauenpolitik gesetzt und es dadurch ermöglicht, dass die Rechten die vernachlässigte soziale Frage besetzen konnten. Durch die Wahl Donald Trumps zum Präsidenten bekam diese Auseinandersetzung neuen Auftrieb. Warum war eine auf Frauenrechte und Identitätspolitik setzende Frau wie Hillary Clinton für die Mehrheit der Frauen unwählbar? Diese Frage wurde zum „Weckruf“ für das Manifest „Feminismus für die 99 %“. Die drei Autorinnen sind prominente marxistische Feministinnen. Nancy Fraser lehrt ebenso wie Cinzia Arruzza Politikwissenschaften an der New School in New York. Tithi Bhattacharya ist Professorin für südasiatische Geschichte.

Liberaler Feminismus setzt auf den Aufstieg talentierter Frauen

Das Manifest setzt am unteren Ende der Reichtumsskala an. Die Grenzziehung verläuft zwischen den unteren 99 % und dem obersten Prozent. Dazu muss man wissen, dass sich in den USA anders als hier mächtige Frauen aus Politik und Konzernzentralen wie Hillary Clinton oder Ivana Trump als Feministinnen bezeichnen. 2018 veröffentlichte die Facebookmanagerin Sheryl Sandberg ein Buch („Lean in“), in dem sie die Frauen auffordert, sich in den Vorstandsetagen durchzusetzen und darauf setzt, dass der „durch Zähigkeit errungener geschäftlicher Erfolg … der Königsweg zu Geschlechtergleichheit“ sei. (S. 9)

Gegen diese Gleichheitsvorstellung richten sich die Autorinnen. Dieser Feminismus setze nur auf den Aufstieg der von Hause aus gut ausgestatteten talentierten Frauen und propagiere eine auf Chancengleichheit beruhende Herrschaft, „einer Herrschaft, die … im Namen des Feminismus aufruft, sich dankbar dafür zu zeigen, dass eine Frau und kein Mann die Gewerkschaft zerschlägt, einer Drohne den Befehl erteilt, die Vater oder die Mutter zu töten, oder das Kind an der Grenze in einen Käfig zu sperren.“ Rein gar nichts sei feministisch an „Frauen aus der herrschenden Klasse“, die Austeritätspolitik und kriegerische Interventionen im Namen der Frauenbefreiung forcieren.

Clintons Aufstieg zeige die Kluft zwischen dem Aufstieg von Elitefrauen in hohe Ämter und der Verschlechterung der Lebensumstände der Mehrheit der Menschen. Clintons Niederlage habe die Niederlage des liberalen Feminismus offenbart. Statt dem Problem des „einen Prozents“, die „gläsernen Decke“ nach ganz oben zu durchstoßen, kämpft der Feminismus der 99% gegen den neoliberalen Ausverkauf des Gesundheitswesens, schlechte Arbeitsbedingungen und die ökologische Zerstörung. Der Kapitalismus benutzt die Natur als Spülbecken, in das aus einem Hahn Energie und Rohstoffe fließen und die Abfälle entsorgen werden. (S. 83)

Elf feministische Thesen gegen die kapitalistischen Krise

Angelehnt an das „Kommunistische Manifest“ und die elf Thesen von Karl Marx über Feuerbach werden in elf feministischen Thesen die Themen Krisenhaftigkeit des Kapitalismus, Abgrenzung gegen neoliberale Vereinnahmung, Sexismus, Umweltgerechtigkeit, Rassismus, gesellschaftliche Reproduktion, Gewalt gegen Frauen abgehandelt. Frauen sollten sich mit allen Bewegungen verbünden, die für die 99 % kämpfen. Die kapitalistische Krise bietet die Möglichkeit zum gesellschaftlichen Wandel. „In Krisenzeiten entzieht eine kritische Masse an Menschen den geltenden Autoritäten ihre Unterstützung. Indem sie die herkömmliche Politik ablehnen, beginnen sie nach neuen Ideen, Organisationen und Bündnissen Ausschau zu halten.“ (S. 30)

Arruzza, Bhattacharya und Fraser stellen eine entscheidende Frage: „Wer wird den Prozess der gesellschaftlichen Transformation anführen, in wessen Interesse und mit welchem Ergebnis?“ Keinen Zweifel lassen die Autorinnen daran, dass sie zu keinerlei Bündnis mit dem Neoliberalismus gegen den Rechtspopulismus bereit sind. Der fortschrittlich daherkommende Neoliberalismus stelle keine Alternative gegenüber dem reaktionären Populismus dar. Genauso wird jeder Opportunismus gegenüber rechts abgelehnt. Den Strömungen in den europäischen Linksparteien, die Positionen der Rechten gegen Einwanderung übernommen hätten, werfen sie vor, „mit dem Feuer zu spielen“. (S. 57)

Das Menschenmachen vor das Plusmachen stellen

Die Frage der gesellschaftlichen Reproduktion nimmt innerhalb des Programms eine zentrale Stellung ein. In kapitalistischen Gesellschaften ist das „people making“ – also die Sorge- oder Carearbeit – von der bezahlten Erwerbsarbeit, die zum „profit making“ – also zur Akkumulation des Kapitals – beiträgt, getrennt. Der Kapitalismus stützt sich auf die Haushaltsführung und Erziehung in der Familie. Diese Reproduktionsarbeit macht überhaupt erst den Kapitalismus möglich. Dadurch werden Arbeitskräfte erzeugt und ihre Arbeitskraft aufrechterhalten. Die Sorge um Menschen wird aber nicht als Arbeit definiert, sondern ihre lebenswichtige Bedeutung wird verschleiert. Sie wird geringer geschätzt als die Erwerbsarbeit und trotz aller Veränderungen wird die Hauptlast auch heute noch den Frauen zugeordnet. Das Menschenmachen wird „als ein bloßes Mittel zum Zweck des Plusmachens behandelt.“ (S. 34)

„Für uns besteht der ausschlaggebende Punkt, der Schlüssel zum Verständnis unserer Gegenwart, darin, dass der Klassenkampf auch Kämpfe um gesellschaftliche Reproduktion beinhaltet: um ein für alle zugängliches Gesundheitssystem und kostenlose Bildung, um Umweltgerechtigkeit und Zugang zu sauberer Energie, um Wohnraum und öffentliche Transportmittel.“ (S. 37)

Die vom Kapitalismus geschaffene Unterscheidung zwischen Plusmachen und Menschenmachen bleibt aber für das System selbst ein ständiger Widerspruch. Einerseits ist die kapitalistische Produktion auf nachkommende Arbeitskräfte angewiesen, andererseits stehen die Lohnarbeiterinnen den Unternehmen umso weniger zur Verfügung, je mehr Zeit sie für Sorge- und Hausarbeit aufbringen. Der Neoliberalismus griff die feministische Kritik am Modell der patriarchalen Familie mit einem Ernährer auf, um durchzusetzen, dass möglichst alle Erwachsenen einer Gesellschaft Erwerbsarbeit nachgehen. Die Zahl der pro Haushalt geleisteten Stunden Lohnarbeit stieg gegenüber der Nachkriegszeit enorm an.

Das Kapital macht auch die gesellschaftliche Reproduktionsarbeit selbst zur Profitquelle. Pflege u.a. wird zur Ware gemacht. In globalen „care chains“ wird die Pflegelücke von den Reicheren an die Ärmeren verschoben. Die Frauen, die das Geld haben, kaufen sich selbst vom Patriarchat frei, indem sie die Arbeit an vornehmlich migrantische Haushaltshilfen und Pflegekräfte delegieren.

„Das Kapital strebt zwar systematisch danach, den Profit zu steigern, doch Menschen aus der Arbeiterklasse streben spiegelverkehrt dazu nach einem würdevollen und sinnvollen Leben als gesellschaftliche Wesen. … der Anteil des Kapitals an der Akkumulation kann nur auf Kosten unseres Anteils am gesellschaftlichen Leben steigen.“ (S. 91)

Zentrales Ziel des Feminismus für die 99 % ist die Neuordnung des Verhältnisses von Produktion und Reproduktion. Dem Menschmachen und dem Leben der Menschen muss der Vorrang vor dem Plusmachen, der profitorientierter Produktion, gegeben werden.

Die weltweiten Frauenstreiks und -proteste können die Spaltung von Identitäts- uns Klassenpolitik überwinden

Inspiriert wurden die Vorstellung des Feminismus für die 99 % von den weltweiten Frauenstreiks und -Protesten, allen voran die „Ni una menos“-Bewegung gegen Frauenmorde in Argentinien. Die mächtigen Frauenstreiks in Lateinamerika, Madrid, der Schweiz und anderswo werden als Protest gegen die durch den Kapitalismus auf vielen Ebenen verursachte Krise gedeutet. Dem Manifest gelingt es, ein breites „wir“ von Frauenkämpfen einzubeziehen, ohne in ein essentialistisches Frauenverständnis zu verfallen. Abstrakte Erklärungen „weltweiter Schwesternschaft“ (S. 62) vermitteln einen falschen Eindruck von Homogenität. Die Unterschiede bedingt durch Klassenherrschaft und Rassismus untereinander müssen ernst genommen werden. Die Autorinnen wenden sich an einen breiten Kreis von Adressatinnen, deren Gemeinsamkeit in den vielen weltweiten kleinen und großen Kämpfen von Frauen liegt: Arbeitskämpfen, Kämpfen gegen Naturzerstörung, um Wohnungen, um Gesundheit oder um kostenfreie Bildung. Von all diesen Punkten aus fühlt man sich angesprochen. Sie setzen auf eine globale vernetzte Bewegung, die im Schulterschluss mit anderen antikapitalistischen Bewegungen steht.

Linke Kritik an Identitätspolitik, die an der berühmten Leier von Haupt- und Nebenwiderspruch anknüpft, also dass sich mit der Beseitigung der kapitalistischen Ausbeutung alle anderen Unterdrückungsformen in Luft auflösen würden, wird entschieden zurückgewiesen. Die neue feministische Welle hat „das Potenzial, die starrsinnige spalterische Gegenüberstellung von Identitäts- und Klassenpolitik zu überwinden. Die Einheit von Arbeitsplatz und Privatleben aufdeckend, weigert sie sich, ihre Kämpfe auf diese Bereiche zu beschränken. Und indem sie neu bestimmt, was als Arbeit gilt und wer als Arbeiterin zählt, weist sie die strukturelle Unterbewertung der – bezahlten und unbezahlten – Frauenarbeit durch den Kapitalismus zurück.“ (S. 18)

Anregungen für die linke feministische Diskussion in Deutschland

Deutschen Spitzenfrauen wie Merkel oder von der Leyen kann man kaum vorwerfen, den Feminismus für ihre Interessen zu funktionalisieren. Sie geben sich so, als ginge sie das Thema nichts an. Kramp-Karrenbauer versucht sich gar gerne auf der rechtspopulistischen Klaviatur. In Deutschland, dem Land von Rosa Luxemburg und Clara Zetkin, war der Kampf um Frauenrechte von je her stärker mit dem um soziale Gerechtigkeit verbunden und deswegen auch nicht in dem Maße neoliberal instrumentalisierbar wie in den USA und vielen anderen Ländern.

Hier steht aber eine breite Auseinandersetzung über die Funktionalisierung von Frauen für Ressentiments gegen Einwanderer auS. Dies wird von einem kleinen Teil von Feministinnen legitimiert. Alice Schwarzer ist beispielsweise Wortführerin eines islamophoben Feminismus, der Sexismus und Gewalt gegen Frauen einer bestimmten Herkunft („Nordafrikaner“) zuordnet und muslimische Frauen mit Kopftuchverbot bevormunden will.

Wegweisend für die Linke und den Feminismus ist der Aufruf nach Neuordnung des Verhältnisses von Produktion und Reproduktion, also die Sorgearbeit um Menschen vor die gewerbliche Arbeit zu stellen und auf alle Menschen zu verteilen. Diese Diskussion wird zwar genauso in Deutschland von Feministinnen geführt, allen voran hat die marxistisch-feministische Philosophin Frigga Haug dazu viel veröffentlicht, aber sie ist noch nicht im linken Mainstream angekommen. Die politische Linke bis zu den Grünen verbucht zwar gerne das Attribut „feministisch“ für sich, die Lebenslagen von Frauen bleiben aber weiter etwas „Besonderes“, das in Frauenkapitel des Wahlprogramms abgeschoben wird. Das Parteiprogramm der Linken geht beispielsweise vom eher männlichen Vollzeitarbeitnehmer als dem Normalen aus, obwohl längst prekäre, flexible oder Teilzeitarbeitsverhältnisse für viele und die Mehrheit der Frauen die Realität darstellen. Wenn man sich fragt, warum junge gut ausgebildete Frauen, die in eine Welt hineingeboren wurden, in der die rechtliche Gleichstellung von Frauen selbstverständlich ist, sich als Feministinnen sehen, stößt man auf das Thema der nicht gewürdigten Reproduktionsarbeit. Unter dem Label „Vereinbarkeit von Beruf und Familie“ wird den Frauen zwischen 20 und 60 abverlangt, ständig zwischen beidem hin und her zu hetzen, dem Takt der Erwerbsarbeit folgend. Es wird Zeit, dass eine andere Verteilung von Sorge- und Erwerbsarbeit auch in das Narrativ der Linken Einzug nimmt.

Abb. (PDF): „Women’s March“ in Washington am 21. Januar 2017, dem ersten Tag nach der Amtseinführung von Donald Trump

https://en.wikipedia.org/wiki/2017_Women%27s_March

Abb. (PDF): Feminismus für die 99%: Ein Manifest.

Erschienen 2018 in den USA. Autorinnen: Cinzia Arruzza (Foto rechts), Tithi Bhattacharya (Foto links), Nancy Fraser (Foto Mitte), TB-Ausgabe in Deutsch (Übersetzer Max Henninger) im August 2019. ISBN: 978-3-95757-786-3. 107 Seiten. Preis: 15,00 €. Als EPUB 10.99 €.

https://www.matthes-seitz-berlin.de/buch/feminismus-fuer-die-99.html.