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ARCHIV

Nr.1/2020, S.30

Kalenderblatt: 1872 Großbritannien

Arbeitsschutz in Bergwerken – Widerstand und Stimme

01 „Royal Commissions“ stärken die gesellschaftliche Akzeptanz

02 Kohlebergbau – eine wichtige, aber gefährliche Industrie

Von David Walters, Cardiff/Großbritannien und Michael Quinlan New South Wales/Australia

In den 1970er und 1980er Jahren führten wichtige Reformen von Gesetzen für Arbeitssicherheit und Gesundheitsschutz in den meisten westeuropäischen Ländern unter anderem zur Einführung der Arbeitnehmerbeteiligung im Arbeits- und Gesundheitsschutz. Auch außerhalb Europas wurden solche Institutionen etabliert. Es hat sich gezeigt, dass eine solche Vertretung von Arbeitnehmerinteressen die Sicherheit und und den Gesundheitsschutz in den Betrieben deutlich verbessert hat. In den Kommentaren damals und heute wird jedoch weitgehend übersehen, dass die Arbeitnehmervertretung im Arbeits- und Gesundheitsschutz eine weitaus längere Geschichte hat: in einigen Ländern war sie bereits ein Jahrhundert früher im Kohlebergbau eingeführt. Im Vereinigten Königreich beispielsweise sind gesetzliche Maßnahmen, die den Arbeitnehmern das Recht auf eine Vertretung in Fragen des Gesundheitsschutzes und der Sicherheit im Kohlebergbau einräumen, fast ein Jahrhundert älter als in anderen Sektoren, was auf den Coal Mines Act (Gesetz für die Kohlebergbau) von 1872 zurückgeht.

1872: Bergleute könnenArbeitsinspektoren „aus ihrer Mitte“ bestimmen

Historische Forschungen zeigen, dass erstmals im Gesetz von 1872 Bestimmungen auftauchen, die es den Bergarbeitern ermöglichen, aus ihrer Mitte Arbeitsinspektoren in den Kohlebergwerken zu ernennen und die diesen Inspektoren das Recht auf regelmäßige Inspektionen der Sicherheit und des Gesundheitsschutzes im Bergwerk einräumten und dies das Ergebnis eines langen politischen Kampfes war, den die frühen britischen Bergarbeitergewerkschaften geführt hatten. Diese Gewerkschaften waren während des 19. Jahrhunderts auf lokaler und regionaler Ebene gegründet worden und spiegelten den unterschiedlichen Charakter des Kohlebergbaus in verschiedenen Teilen des Landes, aber auch den vereinigenden Charakter dieser sozialen Organisation wider, die sich in den Gemeinden rund um die Kohlebergwerke entwickelte. Viele einzelne Gewerkschaftsorganisationen schlossen sich in der Miners‘ Federation of Great Britain (Föderation der Bergarbeiter des Vereinigten Königreiches) zusammen, behielten aber bis weit ins 20. Jahrhundert hinein ihre spezifischen Eigenschaften und ihre Handlungsautonomie. Ihre Führer gehörten oft zu den frühen sozialistischen Parlamentsmitgliedern und bildeten eine politische Lobby für die Arbeiter in einer Verwaltung, die von den kapitalistischen Interessen der Bergwerksbesitzer und Industriellen, die nach der industriellen Revolution immer stärker ins öffentliche Leben traten, dominiert war.

Die Idee setzt sich in der Kohlebergbauindustrie international durch

Etwa zur gleichen Zeit – oder etwas später – kam es zu ähnlicher Gesetzgebung in einigen anderen europäischen Ländern mit bedeutender Kohlebergbauindustrie, wie z.B. in Frankreich und Belgien. Sie waren ein Element der Gewerkschaftskampagnen, die die erschreckenden Sicherheits- und Gesundheitsbedingungen in den Kohlebergwerken jener Zeit anprangerten: Bedingungen, die bekanntermaßen zu regelmäßigen Grubenunglücken mit vielen Todesopfern und zu einem inzwischen gut dokumentierten Überhandnehmen von Berufskrankheiten und alltäglichen Verletzungen und Todesfällen führten. Die Bergarbeiterorganisationen setzten sich für die Verbesserung der Arbeitsumgebung in den Kohlebergwerken und die striktere Durchsetzung der Sicherheitsnormen ein. Sie sind jedoch von besonderer Bedeutung, weil sie einen gesetzlichen Mechanismus den Weg bereitet haben, der Arbeitnehmern und ihren Gewerkschaften eine Stimme verschafft haben, wenn es um Festlegung von Verbesserungen bei Sicherheit und Gesundheit geht. Sie sind auch deshalb von Bedeutung, weil sie das Ergebnis eines Kampfes um Mitsprache in Fragen der Arbeitssicherheit und des Gesundheitsschutzes in von Feindseligkeiten geprägten Arbeitsbeziehungen darstellen, nämlich eine, in der eine vielschichtige und weite politische Opposition gegen die Bestrebungen der organisierten Arbeitnehmerschaft vorherrschend war.

Begrenzte Eingriffsmöglichkeiten, fehlende finanzielle Absicherung

Anfangs waren die Möglichkeiten, Maßnahmen durchzusetzen, natürlich in ihrer Wirksamkeit begrenzt. Das lag zum Beispiel an fehlender finanzieller Unterstützung für die Bergleute, die sich für den Posten eines Arbeitsinspektors zur Verfügung stellten. Es wurde auch verlangt, dass diese in den von ihnen inspizierten Bergwerken beschäftigt waren – so sollte ihren Arbeitgebern ermöglicht werden, ihre Aktivitäten zu kontrollieren und einzuschränken und sie zu schikanieren, wenn sie ihre Arbeitsschutzaufgaben bei der Arbeit wahrnahmen. Auch war anfangs weder Beamten der Bergarbeitergewerkschaften noch anderen in deren Namen tätigen Experten der Zugang zu den betreffenden Bergwerken erlaubt. Zeugenaussagen aus dieser Zeit veranschaulichen, dass die örtlichen Bergarbeiterorganisationen trotz vorhandener gesetzlicher Rechte oft nicht in der Lage waren, diese effektiv zu nutzen. Berichte legen nahe, dass die praktischen Möglichkeiten der Bergleute, ihre Interessen wirksam zu vertreten, in der Praxis stark eingeschränkt waren. Nur wenige örtliche Gewerkschaftsorganisationen konnten es sich leisten, die Kosten für Bergarbeiterinspektoren zu tragen. Manchmal schlossen sie sich zusammen, um Stellen zu finanzieren, aber die Ressourcen blieben ein Problem. In einem Bericht über die Aktivitäten in Südwales – einer der aktivsten Regionen für Arbeitnehmerinspektionen – wird ein Bergarbeiter zitiert:

„… wir schicken gelegentlich Arbeiterinspektoren nach unten, aber unsere finanzielle Lage ist so, dass wir es uns nicht erlauben können, dies weiterhin zu tun.“

Die Feindseligkeit der Arbeitgeber wird auch in Aussagen ehemaliger Arbeitsinspektoren bezeugt:

„Die Hauptschwierigkeiten, die wir sofort erkannten, bestanden darin, dass sie uns, den Zechenleitern gegenüber feindlich gesinnt waren … Sie wollten verhindern, dass wir nach unten gehen und ließen uns mal das eine, mal das andere nicht machen.“

Der Coal Mines Act von 1911

In den folgenden Jahrzehnten führten die Bergarbeitergewerkschaften eine Kampagne gegen diese Einschränkungen in den Bestimmungen, und nach mehreren Einzelverbesserungen in den darauffolgenden Jahren (und unterstützt durch die wachsende Stärke der Bergarbeitergewerkschaften) waren sie 1911 endlich erfolgreich. Dabei konnten sich auf eine zusätzliche Unterstützung durch die Ergebnisse der Untersuchungen durch die Königliche Kommissionen über die Sicherheit im Bergbau stützen. Die Königlichen Kommissionen waren ein wichtiges Element der sozialen Reformen im Großbritannien des 19. Jahrhunderts. Die Regierung hatte sie eingerichtet, um als wichtig eingestufte soziale Probleme oder Katastrophen zu untersuchen und darüber zu berichten. Sie waren ein wichtiger Baustein auf dem Weg zu bahnbrechenden Reformen im Kohlebergbau. Im 19. Jahrhundert allerdings wurde die Einrichtung dieser Kommissionen auch als ein Mittel kritisiert, mit dem die Regierungen offensichtlich notwendige Reformen, vermieden oder verzögert haben.

Die Gesetzgebung wurde durch den Coal Mines Act 1911 dahingehend erweitert, dass die Bergleute ihre Inspektoren auch aus dem Kreis derer ernennen konnten, die nicht in dem von ihnen inspizierten Bergwerk beschäftigt waren. Abschnitt 16 des Gesetzes erfüllte weitere Forderungen der Bergarbeiterorganisationen nach dem Recht der Arbeitsinspektoren auf die Untersuchung von Unfällen und dem Recht auf Unterstützung durch einen Rechtsberater oder Bergbauingenieur. In der Praxis machte dies sowohl die Vertretung in Fragen des Arbeitsschutzes in den Bergwerken als auch die Unterstützung durch eine Vertretung auf Distriktebene möglich. Das System hat sich in Ländern, in denen es bis heute besteht, wie z.B. Australien, als besonders erfolgreich erwiesen.

1954: Rechte der Bergleute auf Vertretung bei der Organisation des Arbeits- und Gesundheitsschutzes

Für mehr als 40 Jahre bildeten diese Bestimmungen dann die Grundlage für die Rechte der Bergleute auf Vertretung bei der Organisation des Arbeits- und Gesundheitsschutztes im Vereinigten Königreich (OSH), bis sie von Abschnitt 123 im Mines and Quarries Act 1954 (Gesetz über Bergbau und Steinbrüche) ersetzt wurden. Darin wurden Inspektoren für die Arbeiter sowohl auf Bergwerks- als auch auf Bezirksebene obligatorisch sowie Bestimmungen zur Dokumentation ihrer Untersuchungen. Dadurch wurde das duale Vertretungssystem der Arbeiter im Kohlebergbau im Bereich des Arbeits- und Gesundheitsschutzes überhaupt erst funktionstüchtig, das ein Jahrhundert vor der Einführung ähnlicher Bestimmungen in anderen Sektoren erkämpft worden war. Dieser wichtige Beitrag zu einer verbesserten Praxis im Bereich des Arbeitsschutzes wird allgemein anerkannt. Wahr ist aber auch, dass in vielerlei Hinsicht die von diesen Maßregelungen getroffenen Formulierungen in mehrfacher Hinsicht belastbar stärker sind als die neu geschaffenen aus den 70er Jahren, und zwar, weil sie als Ergebnis des organisierten Widerstands gegen Ausbeutung erkämpft wurden.

Übersetzung und redaktionelle Bearbeitung Eva Detscher, Karlsruhe und Rolf Gehring, Brüssel

Abb. (PDF): Die Bergwerkslandschaft Nordwest und Nordengland im 19. Jahrhundert. Die wirtschaftlichen, technologischen und sozialen Bedingungen der Zeit haben die Region, die Menschen und die Kultur strukturierend geprägt, bis heute.

Abb. (PDF): Kinderarbeit: Transport einer mit Kohle gefülltes Lore, wie in dem 1853 erschienenen Buch The White Slaves of England von J. Cobden dargestellt. Bereits 1842 wurde eine Royal Commission eingerichtet. Die vier Kommissionsmitglieder inspizierten Hunderte von Minen, stiegen hinab und führten Interviews mit den Kindern, andren Arbeitern, Vorgesetzten und Eignern. Der Kommissionsbericht wurde ein wichtiger Baustein für die Einschränkung der Kinderarbeit.

Quelle : https://en.wikipedia.org/wiki/Mines_and_Collieries_Act_1842#/media/File:Coaltub.png

01

„Royal Commissions“ stärken die gesellschaftliche Akzeptanz

1938 stellte die Königliche Kommission für die Sicherheit in den Bergwerken fest:

„… die Sicherheit kann dadurch gefördert werden, dass die Arbeiter und ihre Vertreter durch diese Inspektionen eine aktive Rolle in Sicherheitsfragen übernehmen.“

Es bestand kaum Zweifel am Wert einer solchen Inspektion und an der Notwendigkeit ihrer Förderung:

„Alle Aussagen, die gemacht worden sind, unterstützten die Ansicht, dass die regelmäßige Inspektion eines Bergwerks durch Vertreter der Arbeiter einen wünschenswerten Schutz darstellt, der in jeglicher Hinsicht gefördert werden sollte …“

1947 konnte der Chefinspektor der Bergwerke schreiben:

„Alle diese Überprüfungen …, die von die Arbeiterprüfern durchgeführt wurden, werden von Bergbauinspektoren und Managern begrüßt und sind für sie von beträchtlichem Wert, weil sie nicht selten Mängel ans Licht bringen, die ansonsten unentdeckt und ohne Abhilfe geblieben wären und die die Sicherheit der Mine ernsthaft beeinträchtigt hätten.“

02

Kohlebergbau – eine wichtige, aber gefährliche Industrie

Die Geschichte des Kohlebergbaus in Großbritannien mit seinem enormen Umfang und dem Wachstum im 19. und frühen 20. Jahrhundert und der anschließende Niedergang sind gut dokumentiert. Hunderttausende von Bergleuten waren 1913, als die Kohleproduktion mit 287 Millionen Tonnen ihren Höhepunkt erreichte, in diesem Industriezweig beschäftigt. Aus den Berichten geht hervor, dass dieses Wachstum zum Teil auf die Nachfrage und zum Teil auf die Entwicklung von Technologien, die eine Kohleförderung aus immer tieferen Schichten ermöglichten, zurückzuführen ist, was in der Konsequenz für die betroffenen Bergleute höheres Risiko bedeutete. Diese Folgen zeigten sich sowohl durch häufige Katastrophen mit mehreren Todesopfern, was den Ruf nach regulierendem Eingreifen näherte, als auch durch eine viel höhere Zahl von Todesfällen und Krankheiten, die für den Bergbau typisch und in den Bergbaugemeinden immer gegenwärtig waren. Die Quantifizierung des vollen Ausmaßes der schädlichen Folgen des Bergbaus wurde durch das Fehlen einer zuverlässigen Berichterstattung und die begrenzte offizielle Anerkennung seiner Auswirkungen auf die Gesundheit im 19. und frühen 20. Jahrhundert erschwert, aber sie war dennoch in das stillschweigende Wissen der Bergleute und ihrer Gemeinden eingebettet und mitverantwortlich dafür, dass Fragen der Arbeitssicherheit und Gesundheit zu wichtigen Triebkräften für die Mobilisierung der Bergleute für kollektives Handeln wurden.

Die Geschichte der Bergbaugewerkschaften erkennt ihre eigene Rolle bei der Regulierungsreform ebenso wie die der sozialen Reformer und anderer wichtiger Akteure an. Im Gegensatz dazu, dass der Arbeits- und Gesundheitsschutz für die Mobilisierung eine zentrale Rolle gespielt hat, geben sie jedoch unzureichend Auskunft darüber, wie sie mithilfe der Nutzung der erreichten Vorkehrungen ihrer Stimme innerhalb der Kohleminen Gehör verschaffen konnten.