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ARCHIV

Nr.2/2020, S.18

eu-politik

EU-Industriepolitik

Rolf Gehring, Brüssel /Rüdiger Lötzer, Berlin

Industriepolitik war schon immer konstitutiv für die Europäische Gemeinschaft. Thematisch zählte dazu gleich zu Beginn die Zähmung der westdeutschen Stahlindustrie in der sog. „Montanunion“, aber auch das Element der Regionalentwicklung sowie, relativ schnell einsetzend, Strukturkrisen im Kohlebergbau und in der Stahlindustrie. Heute gibt es Strategien für einzelne Industriesektoren, die eine Beschreibung der wirtschaftlichen Rahmenbedingungen, der aktuellen und zu erwartenden Entwicklungen und operationalisierte Politikansätze beinhalten. Gleichwohl dominiert das zentral regulierte Feld der Binnenmarktpolitik die Kommissionspolitik gegenüber den stofflich basierten Industrien, die an regionale Bedingungen, Akteure, stoffliche Voraussetzungen und Traditionen gebunden sind.

Mit der Finanzkrise von 2008 setzte eine Rückbesinnung auf die Bedeutung industrieller Produktion ein, gepaart allerdings mit einem Fokus auf eine ökologische Wirtschaft. Die Papiere, die zu den Themenbereichen Kreislaufwirtschaft, grüne Ökonomie, Bio-Ökonomie, nachhaltiges Wachstum usf. in den letzten Jahren veröffentlicht wurden, sind Legion. Fazit dieser Politik war, dass die weitere Entwicklung der Industrie nicht aus den industriellen Innovationen selbst kommt, auch nicht aus dem Dialog von Politik und Wirtschaft, sondern „von oben“, aus der politischen Steuerung, dem Umdenken, der Umkehr, den ökologischen Imperativen. So ist auch die am 10. März von der Europäischen Kommission vorgelegte „neue Industriepoltische Strategie für Europa“ auf die Themen Green Deal (das diesbezügliche Strategiepapier hat die Kommission im Dezember 2019 veröffentlicht) und Digitalisierung fokussiert.

Binnenmarktregulierung

Gleichwohl bleibt die Binnenmarktpolitik Rahmen und Fokus der Kommission für die Industriepolitik. Zeitgleich mit der Industriestrategie hat die Kommission einen Bericht zu Hindernissen bei der Umsetzung der Binnenmarktregeln veröffentlicht sowie einen Aktionsplan zur besseren Umsetzung eben dieser Regeln. In der Problembeschreibung weist die Kommission nicht ohne Grund auf Momente hin, die die wirtschaftliche Tätigkeit im Binnenmarkt behindern. Genannt werden unter anderem unterschiedliche technische Standards, Verwaltungsaufwand, bürokratische Hürden, fehlende Steuerharmonisierung bei der Lieferung von Waren und der Erbringung von Dienstleistungen, Benachteiligung durch öffentliche Auftraggeber, aber auch, dass Märkte in „einen breiteren kulturellen Kontext eingebettet“ sind (Vorlieben, Sprachen, Handelsbräuche). Auch makro- und mikroökonomische Bedingungen, geographische Gegebenheiten und Infrastruktur werden als Faktoren gelistet. Unabhängig von der Zwiespältigkeit mancher Punkte – so kann sich unter dem Punkt Benachteiligung durch öffentliche Auftraggeber sowohl Kritik an Tariftreuegesetzen als auch an korruptionsbedingtem Ausschluss von Marktteilnehmern verbergen – sind hier relevante rechtliche Rahmenbedingungen auch für industrielle Produktion gelistet, die europäisch reguliert werden können.

Das Dokument beginnt mit einem fast hymnischen Bekenntnis zur Industrie in Europa. Europa sei die Heimat der Industrie. Der Industrie und ihren Innovationen wird auch die tragende Rolle hin zu einer nachhaltigen, zirkulären Wirtschaftsweise zugesprochen. Da ist eine Änderung der Tonlage.

Themen und Politikbereiche

Die Strategie sieht u.a. folgende Maßnahmen vor: einen Aktionsplan für geistiges Eigentum, Überprüfungen der Wettbewerbsvorschriften, Modernisierung und Dekarbonisierung („raus aus der Kohle“) energieintensiver Industrien sowie einen Aktionsplan für kritische Rohstoffe und Arzneimittel.

Weitere Zielsetzungen, die in Schlagworten aufgeführt werden, sind:

• Stärkere Harmonisierung der Besteuerung

• Förderung der Vernetzung in der Welt der KMU (kleine und mittlere Unternehmen)

• Stärkung der Normung und Zertifizierung

• Fairer Wettbewerb und international Stärkung der WTO

• Nachhaltige Mobilität

• Revision der Verordnung zu transeuropäischen Energienetzen

• Allianz für sauberen Wasserstoff

Stichwort: Kreislaufwirtschaft

Etwas konkreter wird die Sache bei der Beschreibung der Kreislaufwirtschaft, wo als konkrete Handlungsfelder die Batterieproduktion, Textilien, einheitliche Ladegeräte oder Verbraucherrechte (das Recht auf Reparatur) aufgezählt werden. Weitere Politikplanung, die der Industriepolitik zuzuordnen wäre, findet sich dann erneut im Aktionsplan für den Binnenmarkt. So für den Bereich der Bekämpfung von rechtswidrigen und gefälschten Produkten oder zur Kennzeichnungspflichten entlang der Lieferketten, wie sie zum Beispiel in der europäischen Verordnung zum Holzhandel bereits bestehen.

Stichwort: Risikoanalyse

Zusätzlich plant die Kommission Risiken für verschiedene Industriebereiche zu analysieren, aber auch deren Bedürfnisse zu erfassen. Dazu soll bis September 2020 ein offenes Industrieforum eingerichtet werden, aus Vertretern der Industrie, darunter KMU, Großunternehmen, Sozialpartnern und Wissenschaftler, sowie Vertreter der Mitgliedstaaten und der EU-Institutionen.

Ansatzpunkte und Leerstellen

Alles in allem Punkte, gegen die wenig einzuwenden ist. Die Papierlage ist gut, könnte man sagen. Allein, was folgt daraus wirklich? Noch finden sich in der Strategie kaum konkrete Pläne und Vorhaben. Dies liegt nicht nur an der auf den ersten Blick schwer verdaulichen und abstrakten Amtssprache des Dokumentes, sondern auch an dem Bemühen, die extrem ausdifferenzierten EU-Politiken und Regulierungen möglichst komplett einzufangen. Dies führt zu endlosen Listen von Referenzdokumenten. Das Papier bleibt in weiten Teilen unkonkret, die Beschreibung konkreter Maßnahmen fehlt, findet sich allerdings stärker in den ebenfalls existierenden Strategien für einzelne Industriesektoren.

Auch fehlen Bezüge oder Ideen zu den verschiedenen Regionen der EU. Wie sollen sich die Mittelmeerländer konkret entwickeln, wie die Länder des Balkans, wie die baltischen Länder? Vorstellungen einer zentralen Regulierung werden hier nicht ergänzt durch Analysen, welche Ansätze und Produktionen für welche Regionen in Europa relevant sein könnten. Ebenfalls offen bleibt, wie die großen sozialen und wirtschaftlichen Unterschiede in der EU abgebaut werden sollen? Es bleibt zu hoffen, dass das geplante Industrieforum diesbezüglich offener ist.

Offen ist vor dem Hintergrund der Corona-Krise allerdings auch, wie viel von der vor der Corona-Krise entwickelten Strategie inzwischen Makulatur ist oder in den kommenden Jahren weiterverfolgt werden kann. Hier fällt zum Beispiel auf, dass die Vorstellung eines wirtschaftlich autarken Europas durchscheint, zumindest für eine Reihe von aufgelisteten Produktgruppen, Rohstoffe und Technologien. Es ist immer richtig, regionale Kreisläufe zu stärken. Fatal wäre aber eine Abkoppelung von der Weltwirtschaft.

Völlig unklar ist in dem Papier, wie eigentlich der soziale Rahmen für die angestrebte Transformation der Industrie aussehen soll. Ist mit industriellem Wandel ein rein technischer Prozess gemeint, betrieben von den Eigentümern der Unternehmen und vielleicht noch der Politik, oder ein sozio-ökonomischer Prozess, wo dann auch andere „Stakeholder“ wie Beschäftigte, Gewerkschaften, Betriebsräte, Regionen und Kommunen mit ins Spiel kommen?

Als vorsichtiges Fazit könnte man festhalten, dass das Papier zwar weitgehend zentralistische Politikvorstellungen präsentiert, aber den Raum für weitergehende, konkrete Vorstellungen zur stofflichen Weiterentwicklung der Industrien in Europa schon ein wenig öffnet. So könnte es am Ende auch als Rahmensetzung für konkrete Vorstellungen einer linken Industriepolitik in Europa gelesen werden – wenn denn solche Vorstellungen irgendwo entwickelt würden.

EU-Parlament drängt auf Ausgestaltung der Arbeitsbeziehungen

Rolf Gehring, Brüssel. Kommissionspräsidentin von der Leyen hatte bei ihrer Bewerbungsrede im Parlament damit gepunktet, selbiges in Zukunft aufzuwerten. Dies wird dahingehend interpretiert, dass eigene Gesetzgebungsinitiativen des Parlaments künftig stärkeres Gewicht erhalten. Der Beschäftigungs- und Sozialausschuss des Europäischen Parlaments hat in seinem Arbeitsprogramm vier Themen aufgenommen, die auf die Ausgestaltung der Arbeitsbeziehungen den Arbeitsschutz zielen. Dies sind:

– Das Recht offline zu sein;

– Schutz der Arbeitnehmer vor Asbestexpositionen;

– Die Revision der Richtlinie zu Europäischen Betriebsräten sowie;

– qualifizierte Berufsausbildung in Europa.

Weiterhin findet sich in der Liste der nicht legislativen Initiativstellungnahmen unter anderem folgende Themen:

- Demokratie am Arbeitsplatz/Mitbestimmungsrechte;

- Arbeitsbedingungen und Sozialschutz für Plattform-Beschäftigte;

- Bekämpfung von Armut in Arbeit.

Die Ausarbeitung der Berichte wird sich allerdings über die nächsten Jahre ziehen. Wir werden in den Politischen Berichten weiter hierzu berichten.

Abb. (PDF): Logo und Quelle: EU-Kommission, 10.3.2020. Eine neue Industriestrategie für Europa – https://ec.europa.eu/germany/news/20200310-neue-industriestrategie_de