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Nr.2/2020, S.19

eu-politik

Gute Löhne für alle? – Streit um die Initiative der EU-Kommission für Mindestlöhne in der EU

Thilo Janssen, Brüssel

Im Oktober 2008 forderte das Europäische Parlament „den Rat auf, eine EU-Vorgabe für Mindestlöhne“ zu vereinbaren, „die eine Vergütung von mindestens 60 % des maßgeblichen … Durchschnittslohns gewährleistet“. Die Forderung schien utopisch. In Deutschland gab es keinen gesetzlichen Mindestlohn. Konservative und Liberale waren der Idee spinnefeind und auch aus Gewerkschaften wie der IG Metall gab es Kritik. Ohne die BRD schien eine EU-Regelung jedoch unmöglich. Der Vertrag über die Arbeitsweise der Union spricht der EU in Artikel 153 eine Kompetenz in der Sozialpolitik zu, auch für die Arbeitsbedingungen. Allerdings heißt es ausdrücklich: „Dieser Artikel gilt nicht für das Arbeitsentgelt“. Somit schien die Idee eher etwas für linke Parteiprogramme als für die europäische Realpolitik zu sein.

Doch im Frühjahr 2020 scheint nun alles anders. In Deutschland gibt es einen Mindestlohn. Die aktuelle Bundesregierung hat in ihren Koalitionsvertrag geschrieben: „Wir wollen einen Rahmen für Mindestlohnregelungen … in den EU-Staaten entwickeln.“ Und Kommissionspräsidentin von der Leyen kündigte an: „Innerhalb der ersten 100 Tage meiner Amtszeit werde ich ein Rechtsinstrument vorschlagen, mit dem sichergestellt werden soll, dass jeder Arbeitnehmer in unserer Union einen gerechten Mindestlohn erhält.“

Doch es gibt nach wie vor fünf EU-Länder, in denen es keine gesetzlichen Mindestlöhne gibt. Schweden und Dänemark kennen auch keine Allgemeinverbindlichkeitserklärungen. Gleichzeitig ist in diesen Ländern die Gewerkschaftsmitgliedschaft mit über 65 % noch vergleichsweise hoch. Die Tarifabdeckung liegt bei über 80 % in Dänemark und bei rund 90 % in Schweden. Doch auch das nordische Modell steht seit Jahren unter massivem Druck. Es sind die Gewerkschaften aus diesen Ländern, die einen weiteren Angriff auf das nordische Arbeitsmarktmodell fürchten.

Auf der anderen Seite stehen die osteuropäischen Gewerkschaften. In Polen ist die Gewerkschaftsmitgliedschaft von 1999 bis 2016 von rund 29 % auf 12,7 % gesunken, in Estland von 17 % auf 4,3 %. Neoliberale Reformen und Krisenmaßnahmen haben sektorale Tarifstrukturen zerstört. Während die Produktivität der osteuropäischen Wirtschaften stetig stieg, zogen die Löhne in den meisten Branchen kaum mit. Osteuropäische Gewerkschaften fordern deshalb einen rechtlichen EU-Rahmen für Mindestlöhne, eine Stärkung der Tarifpolitik durch EU-Regeln und in manchen Fällen sogar grenzüberschreitende Tarifverhandlungen für Beschäftigte multinationaler Konzerne. Was in Skandinavien als Angriff auf die Gewerkschaften gilt, ist in Osteuropa der letzte Strohhalm.

Der Europäische Gewerkschaftsbund (EGB) hat in seiner Antwort an die EU-Kommission in der ersten Phase der Sozialpartnerkonsultation einen Kompromiss mit 83% Zustimmung ausgehandelt. In der Stellungnahme fordert der EGB eine Mindesthöhe in Höhe von 60 % des jeweiligen nationalen Medianlohns, verbunden mit einem Warenkorbmodell. Der EGB betont: Nur durch eine massive Stärkung autonomer sektoraler und übersektoraler Tarifverhandlungen können gute Löhne entstehen, was gleichzeitig zu einer Erhöhung der Mindestlöhne führt. Außerdem müssten funktionierende Systeme (wie in Skandinavien) vor negativen Einfluss durch EU-Regeln geschützt werden.

Die Gewerkschaftsverbände aus Schweden, Dänemark, Norwegen und Island schrieben daraufhin einen Brief an die EU-Kommission. Darin heißt es, dass sie die Position des EGB nicht unterstützen. Ein wohl einmaliger Vorgang.

Am 6. Mai startet die EU-Kommission die nächste Konsultation der Europäischen Sozialpartner. Dann wird es ernst, denn jetzt müssen konkrete Vorschläge auf den Tisch. Wahrscheinlich ist, dass die Kommission eine Rahmenrichtlinie für nationale Mindestlöhne und eine (unverbindliche) Empfehlung für eine Stärkung der nationalen Tarifstrukturen anstrebt, beides auf Basis des Artikel 153 AEUV. Übrigens ist noch nicht klar, wie die Kommission das rechtliche Problem lösen wird (oder kann).

Abb. (PDF): Grafik: WSI-MINDESTLOHNBERICHT 2020, https://www.wsi.de/de/wsi-mitteilungen-wsi-mindestlohnbericht-2020-europaeische-mindestlohninitiative-vor-dem-durchbruch-22467.htm