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ARCHIV

Nr.2/2020, S.22

rechte provokationen – demokratische antworten

Ein Zeugnis jüdischer Vielfalt in Hamburg

Im November 2019 entdeckte die Öffentlichkeit, welcher große kulturelle Schatz in einem Hinterhof in der Poolstraße in der Neustadt zu verrotten droht: die Ruinen des weltweit ersten jüdischen Reformtempels

Christiane Schneider, Hamburg

Mit dem antisemitischen Anschlag auf die Synagoge in Halle einige Wochen zuvor – nur der Zufall hatte ein Massaker an den am höchsten jüdischen Feiertag Jom Kippur versammelten Gläubigen verhindert – war vielen Menschen bewusst geworden, wie akut bedroht jüdische Menschen und jüdische Einrichtungen heute wieder sind. Bürgerschaft und Senat beschlossen Maßnahmen zum Schutz und zur Stärkung jüdischen Lebens in Hamburg. Die jüdische Einheitsgemeinde brachte ihr Anliegen in die Öffentlichkeit, die in der Reichspogromnacht 1938 von den Nazis geschändete und im Jahr darauf zerstörte Synagoge am Bornplatz, damals die größte Synagoge in Norddeutschland, wiederaufzubauen. Sie fand Unterstützung, und in ihrer letzten Sitzung vor den Wahlen beschloss die Bürgerschaft einen interfraktionellen Antrag für eine Machbarkeitsstudie, für die der Bund 600 000 Euro zur Verfügung stellt, und brachte den Wiederaufbau damit auf den Weg.

Die Zukunft der Überreste des Tempels in der Poolstraße, der 1944 durch eine Fliegerbombe getroffen wurde, ist dagegen noch ungewiss. Jahrzehntelang hat die Stadt die Ruinen zerfallen lassen. Erst 2003 wurden sie unter Denkmalschutz gestellt, ohne dass dies den weiteren Zerfall aufgehalten hätte. Obwohl die Stadt damals das „öffentliche Interesse an der Erhaltung des Ensembles bestehend aus den baulichen Resten des Tempels und den Vorderhäusern an der Poolstraße“ feststellte, ergriffen weder sie noch der private Eigentümer des Hofs erhaltende Maßnahmen. Erst im November, wohl als Reaktion auf die wachsende öffentliche Aufmerksamkeit, schickte die Stadt eine Sicherungsverfügung an den Eigentümer, die ihn zu erhaltenden Maßnahmen verpflichten sollte. Die Gebäude sind in einem so schlechten Zustand, dass die Londoner Foundation for Jewish Heritage sie in ihre „Top 19 Watchlist“ der am stärksten bedrohten jüdischen Relikte in Europa aufgenommen hat,

Der Eigentümer will das Grundstück verkaufen. Im Oktober 2019 hat das Bezirksamt Mitte einen Bauvorbescheid erteilt. Darin heißt es, „dass die Tempelreste vom künftigen Besitzer mit einem Wohngebäude überbaut werden dürfen. In den alten Mauern selbst soll laut Bescheid eine Gastronomie einziehen, ein Kinderspielplatz ist in der Mitte (des Hofes – CS) geplant, eine Tiefgarage wird in den Boden gegraben … Was ein solcher Umbau für die Ruine des Tempels bedeutet, ist schwer abzusehen. Offiziell muss sie gesichert und bewahrt werden, auch das steht in dem Bescheid.“1

Deshalb wandte sich die liberale jüdische Gemeinde, eine erst 2004 gegründete kleinere Gemeinde, die nicht der (überwiegend konservativen) Einheitsgemeinde angehört, im November letzten Jahres mit dem dringenden Appell an die Öffentlichkeit, die Tempel-Ruine zu erhalten. Ihr Vorschlag: sie als interreligiöses Begegnungszentrum zu nutzen. Der Appell stieß auf breite öffentliche Resonanz. Menschen fanden sich zusammen, um das Thema weiter an die Öffentlichkeit zu bringen. Sie luden zu einem „Tempelleuchten“ am 1. Dezember ein, zu dem trotz Kälte über 100 Menschen kamen: Der Lichtkünstler Michael Batz warf vor dem Hofeingang Lichtbilder zur Geschichte des Tempels auf die Fläche eines Kleinlasters, die er und Miriam Rürup, die Direktorin des Instituts für die Geschichte der deutschen Juden in Hamburg, mit viel Kenntnis erläuterten. Das Interesse war so groß, dass das „Tempelleuchten“ mit weiterhin guter Beteiligung noch zweimal wiederholt wurde. In einer weiteren Versammlung sprachen sich Menschen aus unterschiedlichen Bereichen, Historikerinnen und Historiker, Menschen aus der Kulturszene und dem Bildungsbereich und andere, für die Rettung der Tempelruine und für eine öffentliche Lösung und öffentliche Nutzung aus. Die Gründung eines Fördervereins ist im Gespräch. Leider hat die Corona-Krise all diese Aktivitäten unterbrochen.

Zeugnis der jüdischen Emanzipationsbewegung

Der Tempel ist ein einzigartiges Zeugnis der an der jüdischen Aufklärung orientierten Emanzipationsbewegung. Unter der französischen Besatzung (1811 bis 1814) hatten Juden in Hamburg die vollen bürgerlichen und politischen Rechte erhalten. Ihre Gleichstellung hatte jedoch keinen Bestand. Nach Ende der Besatzung traten die alten Beschränkungen und diskriminierenden Regelungen des „Judenreglements“ von 1710 wieder in Kraft; die Stadt wies die Gesuche der jüdischen Gemeinde auf Wiederherstellung der Bürgerrechte vehement zurück. Nach der Niederlage konzentrierte sich ein Teil der jüdischen Bevölkerung auf die Modernisierung des jüdischen Lebens, vor allem auf Reformen des jüdischen Schulwesens. Andere Bestrebungen richteten sich auf die Umgestaltung des kultischen Lebens, also auf die Modernisierung des Gottesdienstes und des religiösen Lebens. In Hamburg war hier der 1817 gegründete Neue Israelitische Tempelverein aktiv, eine der frühesten religiösen Reforminitiativen der Juden in Deutschland. Er veranstaltete ab 1818 zunächst in einem angemieteten vormaligen Tanzsaal und später in einem neu erbauten kleinen Bethaus, erstmals Tempel genannt, Gottesdienste, die in der jüdischen Tradition bislang unbekannte Elemente wie deutschsprachige Kanzelreden, Orgelspiel und Chorgesang beinhalteten.2 Doch das Gebäude wurde verkauft, der Tempelverein stand wieder auf der Straße, bis er nach einigen Auseinandersetzungen mit der Stadt 1841 das Gelände an der Poolstraße kaufen konnte.

Ende 1842, nach dem „Großen Brand“, der die Hamburger Innenstadt verwüstete, den Senat aber auch zu Strukturreformen und u.a. zur Aufhebung vieler Einschränkungen für die jüdische Bevölkerung zwang, trafen sich Mitglieder des Tempelvereins im Hinterhof der Poolstraße, um den Grundstein eines neuen Bethauses, ihres „Tempels“, zu legen. Schon die Bezeichnung „Tempel“ war Programm. Wolfgang Georgy von der Liberalen Jüdischen Gemeinde drückte es 2017 anlässlich des 200. Jahrestags der Gründung des Tempelvereins so aus: „Man wollte jetzt nicht mehr, wie das also die Orthodoxie seit Jahrhunderten getan hat, hoffen auf die Wiedererrichtung des Tempels in Jerusalem. Sondern man hat gesagt: ‚Wo meine Heimat ist, ist auch mein Tempel.’“3 Die jüdischen Reformkräfte in Hamburg lösten sich also von dem Ziel der Rückkehr nach Jerusalem und gaben zugleich ihrem Anspruch auf die volle Gleichberechtigung Ausdruck. So enthielt das neue Gebetbuch, das Hamburger Tempelgebetbuch von 1841, nicht mehr die Bitte um Rückkehr nach Israel, sondern den Wunsch nach „Befreiung von Unterdrückung und Ungerechtigkeit“ in den Ländern, in denen Juden leben.

Am 5. September 1844 wurde der Tempel eingeweiht. Er wurde zu einem Bezugspunkt für jüdische Reformbestrebungen in aller Welt und ist für die jüdischen Reformgemeinden insbesondere in den USA bis heute von Bedeutung.

Der Reformtempel

Schon der Bau entsprach nicht den herkömmlichen Baumustern. „Das fängt eigentlich schon mit der Eingangssituation an“, erläuterte Miriam Rürup beim ersten „Tempelleuchten“. „Es gibt einen Eingang, durch den Männer und Frauen zugleich gehen. Man betritt diesen Tempel schon gemeinsam. Dann sitzt man zwar noch nicht gemeinsam. Der große Unterschied zu vorherigen Tempeln … bzw. Synagogen ist, die Männer können auch die Frauen sehen (denn die Frauenräume waren auf der Empore und anders als in den Synagogen nicht mehr abgeschirmt – CS). Allein das schon hat in der Hamburger jüdischen bürgerlichen Schicht für Furore gesorgt.“ (4) Insgesamt erinnert der dreischiffige Tempel eher an eine protestantische Kirche. Er hatte eine Orgel und einen Platz für einen – gemischten! – Chor. Die Sitzplätze waren nicht mehr auf das Zentrum des Raumes ausgerichtet, sondern auf die Apsis, wo sich jetzt der Toraschrein, die Predigtkanzel und das erhöhte Pult zum Lesen aus der Tora, der Amud, der traditionell im Zentrum stand, befanden. Die Predigten wurden auf Deutsch gehalten.

Mädchen konnten hier erstmals nun auch ihre religionsgesetzliche Volljährigkeit feiern, die „Konfirmation“ genannt wurde. Bis dahin war die Feier der Volljährigkeit – Bar Mitzwah – den Jungen vorbehalten. Nun sollten auch Frauen in den Gottesdienst eingebunden werden. Der Fortschritt in der Emanzipation der Frau, den die jüdische Reformbewegung bewirkte, zeigte sich u.a. auch auf den Rabbinerkonferenzen, die zwischen 1844 und 1846 massive Proteste des orthodoxen Lagers auslösten: Hier wurde u.a. über die Stellung der Frau und über Aspekte des Ehe- und Scheidungsrechts diskutiert. „Heute steht das liberale und Reformjudentum unter anderem für die gleichberechtigte Rolle von Frauen und Männern im Gottesdienst, sodass heute auch Frauen Rabbinerinnen werden können“, resümiert Miriam Rürup.

Die seit 1817 vom Tempelverein angestoßenen Reformen riefen heftige Proteste der Traditionalisten hervor. Diese versuchten etwa das neue Gebetbuch mit seinen Neuformulierungen, Kürzungen und Übersetzungen ins Deutsche und die veränderte Liturgie zu verhindern, vergebens. Einer der Förderer des neuen Tempels war Salomon Heine. Sein Neffe Heinrich Heine griff den Konflikt 1843, kurz vor Fertigstellung des Tempels, in „Deutschland. Ein Wintermärchen“ auf:

„Die Juden teilen sich wieder ein

In zwei verschiedne Parteien;

Die Alten gehn in die Synagog’,

Und in den Tempel die Neuen.

Die Neuen essen Schweinefleisch,

Zeigen sich widersetzig,

Sind Demokraten; die Alten sind

Vielmehr aristokrätzig.

Ich liebe die Alten, ich liebe die Neu’n -

Doch schwör ich, beim ewigen Gotte,

Ich liebe gewisse Fischchen noch mehr,

Man heißt sie geräucherte Sprotte.“

Erst in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts entspannte sich der Konflikt.

Das kulturelle Erbe des Reformtempels retten!

Nach krisenhaften Entwicklungen der Tempelgemeinde in der zweiten Jahrhunderthälfte blühte das Gemeindeleben gegen Ende des Jahrhunderts wieder auf. Doch nach der Reichsgründung, die zu einer weitgehenden rechtlichen Gleichstellung der Juden führte, zog es nach und nach viele gutsituierte Juden aus der Enge der Neustadt – ein überwiegend proletarisch geprägten Stadtteil, in dem bis dahin der Großteil der jüdischen Bevölkerung Hamburgs lebte – ins boomende Grindelviertel. Hier entstanden die Neue Dammtorsynagoge und die erste freistehende, große Hauptsynagoge am Bornplatz. Auch die Reformgemeinde baute in der Oberstraße in Harvestehude einen neuen Tempel, mit bis zu 1.200 Plätzen einer der letzten großen jüdischen Bauten in Deutschland. Nach der Pogromnacht des 9. November 1938 wurde er zwangsverkauft und 1953 durch den NDR gekauft und umgenutzt. Sein äußeres Erscheinungsbild ist bis heute erhalten.

Den Tempel in der Poolstraße verkaufte der Tempelverein 1937. Es heißt, der Verkauf sei freiwillig erfolgt. Die „Zeit“1 ist der Frage der „Freiwilligkeit“ nachgegangen und hat starke Anhaltspunkte dafür gefunden, dass es damit nicht weit her war. Jedenfalls stellte die Jewish Trust Corporation, die sich nach Krieg um die Restitution von geraubtem jüdischem Eigentum kümmerte, einen Antrag auf Restitution des Grundstücks und forderte eine Rückerstattung oder Entschädigung. Das Verfahren endete mit einem Vergleich, die JTC erhielt 20 000 Mark und verzichtete auf ihre Ansprüche.

Die Linksfraktion hat den interfraktionellen Antrag zum Wiederaufbau der Bornplatzsynagoge mitgetragen. Sie unterstützt die Rettung der Tempel-Überreste in der Poolstraße. Denn jüdisches Leben war bis zu seiner Auslöschung durch das faschistische Deutschland vielfältig, und seine Vielfalt entwickelt sich heute aufs Neue. Auch deshalb gilt es den Reichtum des vielfältigen jüdischen Lebens neu zu entdecken und die Initiativen, die das kulturelle Erbe des Reformtempels retten wollen, zu unterstützen.

Abb. (PDF): Bildvortrag von Michael Batz beim dritten „Tempelleuchten“.

Abb. (PDF): wiki: Der Neue Tempel Innenansicht am Einweihungsabend 1844 mit Blick auf die Apsis. unten: Die Überreste der Apsis heute. c.s.