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Nr.2/2020, S.27

Ankündigungen / Diskussion / Dokumentation

Kritische Ökonomie für Querdenker

E. Duflo, A.V. Banerjee: „Gute Ökonomie für harte Zeiten“

Rüdiger Lötzer, Berlin

Das in den USA lebende Ehepaar Esther Duflo und Abhijit V. Banerjee ist in den deutschen Medien und auch in der wirtschaftswissenschaftlichen Diskussion hierzulande bisher eher unbekannt. Man beschäftigt sich bei uns immer noch lieber mit den bekannten Stereotypen der Neoklassik, den neoliberalen und nationalistischen Tiraden des langjährigen Ifo-Chefs Prof. Sinn samt Fangemeinde oder den kaum noch gelesenen Gutachten des „Sachverständigenrats“ der Bundesregierung auf der einen Seite, und wenigen Keynesianern auf der anderen Seite, denen außer dem Vorschlag, wieder mehr öffentliche Schulden zu machen, wenig einfällt. Darüber hinaus gibt es wenig Neues, und schon gar keine überzeugenden Ratschläge, wie der sich vertiefenden sozialen und regionalen Spaltung der Gesellschaft entgegengewirkt werden kann.

Gegenüber diesem öden Einerlei ist die Entwicklung in anderen Weltgegenden geradezu erfrischend. Ein Beispiel ist das Ehepaar Duflo/Banerjee. Esther Duflo, 1972 in Paris geboren, ist Professorin für Armutsbekämpfung und Entwicklungsökonomie am Massachusetts Institute of Technology (MIT) in den USA.

Das „Poverty Action Lab“

Mit ihrem 1961 in Mumbai in Indien geborenen Mann, der heute ebenfalls am MIT lehrt und die UNO, die Weltbank und die indische Regierung berät, gründete sie vor Jahren ein „Poverty Action Lab“, ein Netzwerk von Soziologen und Ökonomen, dass sich weltweit die Bekämpfung der Armut zum Ziel gesetzt hat. Dieses Netzwerk war schon bei der Formulierung der „Millenium-Ziele“ der Vereinten Nationen im Jahr 2000 aktiv. Der französische Wirtschaftswissenschaftler Thomas Piketty („Das Kapital im 21. Jahrhundert“) gehört ebenso zu dieser neuen Richtung der Ökonomie wie der indische Wirtschaftswissenschaftler Amartya Sen („Ökonomie für den Menschen“). Ihr Ziel ist es, weg zu kommen von der öden Apologie des Reichtums und der bestehenden Zustände als der angeblich besten aller möglichen Welten, hin zu einer Überwindung von Armut, sozialer Spaltung und Unterentwicklung.

2019 Nobelpreisträger

2019 erhielten Esther Duflo und ihr Mann als erstes Ehepaar gemeinsam den Nobelpreis für Ökonomie. Nach der US-Amerikanerin Elinor Ostrom, die 2009 für ihre Studien zur Allmendewirtschaft den Nobelpreis für Ökonomie erhielt, ist Esther Duflo erst die zweite Frau, die diesen Preis bekam. Nun ist ihr erstes Buch in deutscher Sprache erschienen, und es lohnt sich!

In neun Kapiteln versuchen die beiden US-Ökonomen darin, auf aktuelle Themen wie Arbeitsmigration, wirtschaftliches Wachstum, wie kommt es dazu und haben Steuern, insbesondere hohe oder niedrige Spitzensteuersätze, irgendeine Auswirkung auf wirtschaftliches Wachstum, wer sind die Gewinner und Verlierer der Liberalisierung des Welthandels und wie kann einer explodierenden Ungleichheit in Zeiten schnellen technologischen Wandels wirksam entgegen gewirkt werden – auf all diese Fragen ernsthafte Antworten zu geben und nicht nur bekannte Plattitüden zu wiederholen.

Ökonomische und politische „Lehrmeinungen“ gegen den Strich gebürstet

Beispiel Migration: „Angefangen von Präsident Donald Trumps äußerst wirkungsmächtiger Beschwörung vermeintlicher Horden mordlüsterner mexikanischer Migranten bis zur ausländerfeindlichen Rhetorik der Alternative für Deutschland, des französischen Front National und der Brexit-Anhänger, ganz zu schweigen von den regierenden Parteien in Ungarn und der Slowakei und bis vor einiger Zeit auch in Italien, ist sie das vielleicht beherrschende politischen Thema in den reichsten Ländern der Welt“, schreiben sie zu Beginn (S. 24). „Woher kommt diese Panik? Der Anteil grenzüberschreitender Migranten an der Weltbevölkerung war im Jahr 2017 ungefähr so groß wie im Jahr 1960 oder 1990: 3 Prozent.“ (ebenda). Das sei „nicht gerade eine Sintflut“. Und sie stellen fest: „Rassistische Panikmache aus Angst vor einer ‚Vermischung der Rassen‘ und getragen vom Mythos der Reinheit ignoriert die Fakten.“ (S. 25) Das belegen sie anhand mehrerer Umfragen, vor allem aber an einer in der Schulbuch-Ökonomie verbreiteten Standardbehauptung. Diese lautet „Menschen wollen mehr Geld und ziehen alle dorthin, wo die Löhne am höchsten sind.“ In der Folge steigt das Arbeitskräfteangebot in diesen Gebieten, und die Löhne fallen. Ihre Antwort darauf: „Die Logik ist einfach, bestechend und falsch.“ (S. 27) „Erstens haben Lohnunterschiede zwischen Ländern … (Standorten) relativ wenig damit zu tun, ob es Wanderungsbewegungen von Menschen gibt oder nicht.“ (ebenda). Sofort fällt einem hierzulande die Wanderung von Süddeutschen nach Berlin ein – offensichtlich nicht von den hohen Löhnen in Berlin angelockt, denn diese sind niedriger als in Bayern oder Baden-Württemberg. Duflo/Banerjee bestätigen das auch anhand einer Fülle weiterer Beispiele aus Indien, China und anderen Ländern. Tatsächlich verlassen Menschen ihre Heimat oft nur in extremer Not. Hinzu kommt: Menschen sind keine Wassermelonen, wie die Neoklassik behauptet. Sie unterliegen nicht einfach dem Gesetz von Angebot und Nachfrage. Sie haben Familien, kulturelle Traditionen. Sie kooperieren im Arbeitsprozess. Sie haben soziale Netzwerke. Sie brauchen Wohnraum, soziale Infrastruktur. Hinzu kommt: „Migration ist ein Sprung ins Unbekannte“ (S. 68) All das spielt eine Rolle auf den Arbeitsmärkten und auch beim Thema Arbeitsmigration. „Letztlich müssen wir uns immer wieder ins Gedächtnis rufen, dass viele Menschen, ganz unabhängig von den Anreizen, die sich ihnen bieten, nicht wegziehen werden. Diese Immobilität, die der konventionellen wirtschaftswissenschaftlichen Sicht rationalen menschlichen Handelns zuwiderläuft, hat weitreichende gesamtwirtschaftliche Auswirkungen. Sie betrifft die Folgen einer breiten Palette wirtschaftspolitischer Maßnahmen, die wir in diesem Buch immer wieder sehen werden“, stellen sie zum Abschluss dieses Kapitels fest.

Vorschläge zum Umgang mit dem Thema technologischer Wandel und Standortkonkurrenz

So geht es dann weiter. Schon fast kurios: ihre Vorschläge zum Umgang mit dem Thema technologischer Wandel und Standortkonkurrenz lesen sich wie eine wissenschaftliche Erklärung aktueller Tarifforderungen der IG Metall. Lesenswert sind auch die Ausführungen zur Bildung und Festigung von fremdenfeindlichen Stereotypen, zur Liberalisierung des Welthandels, der keineswegs nur Gewinner, sondern auch Verlierer produziert. Zum Thema Steuern, wo Duflo/Banerjee nachweisen, dass die Senkung der Spitzensteuersätze in den USA seit Reagan, in Großbritannien seit Thatcher usw. keineswegs zu mehr Wachstum führte, sondern nur zu einer Vertiefung der sozialen Spaltung.

Zum Thema Sozialpolitik, wo sie sich mit den auch hierzulande bekannten Dogmen des „Förderns und Forderns“ kritisch auseinandersetzen und für deutlich weniger Auflagen und mehr Respekt gegenüber Menschen in Not plädieren. Ganz nebenbei erfährt man dabei auch, dass die mit Abstand erfolgreichste Maßnahme im Kampf gegen die Malaria die kostenlose Verteilung von Millionen Mückennetzen in Afrika war.

Insgesamt ein Buch, das anregt zum Nachdenken, zum Suchen nach neuen, unkonventionellen und zur Abwechslung mal wirksamen Lösungen gegen Armut und Benachteiligung.

Abb. (PDF): Abhijit V. Banerjee, Esther Duflo, Gute Ökonomie für harte Zeiten, Penguin Verlag, 2020, 555 Seiten, 26 Euro.