PB
PDF

PB
ARCHIV

Nr.2/2020, S.28

Ankündigungen / Diskussion / Dokumentation

Rolf Reißig: Transformation von Gesellschaften. Eine vergleichende Betrachtung von Geschichte, Gegenwart und Zukunft

Marburg (Schüren Verlag) 2019, 240 Seiten

Von Harald Pätzolt, Berlin

„Wie setzen wir den Transformationsprozess hin zu einer nachhaltigen Gesellschaft in Gang?“ Diese Frage stellte der Alt-Bundespräsident Horst Köhler 2019 auf einem Kongress, und er fuhr fort: „Dabei ist klar: Eine Transformation wird kommen, so oder so – als politischer Aufbruch oder als politisches Debakel, ,by design or by disaster‘.“1

Rolf Reißig geht dieser Frage in seinem neuen Buch sozialwissenschaftlich auf den Grund. Im dritten und abschließenden Teil „Eine neue „Große Transformation“ im 21. Jahrhundert“ diskutiert er Möglichkeiten und Blockaden der politischen Gestaltung und plädiert leidenschaftlich für das „by design“. Es muss gelingen!

Vorliegendes Werk darf als Fortschreibung seines vor zehn Jahren erschienenen Buches „Gesellschafts-Transformation im 21. Jahrhundert. Ein neues Konzept sozialen Wandels“ gelesen werden. Rezensent möchte auf die Auseinandersetzung von Raj Kollmorgen mit dem Buch aus 2009 hinweisen. Darin vermisste Kollmorgen die historisch-vergleichende Perspektive, ein längst behobener Mangel. Beim zweiten großen Kritikpunkt, der geforderten „Problematisierung der … widersprüchlichen Eigenschaften“ von Transformationen (S. 149) ist Reißig aus guten Gründen festgeblieben.2

Pfadwechsel, Akteurshandeln, Zukunftserwartung

Sozialer Wandel findet, auch mit Phasen der Stagnation, on the long run, immer statt. Mit dem Begriff der Transformation wird von Reißig der Sonderfall sozialen, gesellschaftlichen Wandels gefasst. Als Begriffsbestimmungen führt er drei Merkmale an:

(1) den Pfadwechsel: Entwicklungen sind pfadabhängig, gelangen aber an Punkte, wo sich Alternativen auftun.

(2) Akteurshandeln: dieser Wandel ist menschengemacht.

Und (3) Zukunftsorientierung: Auch wenn das Plänemachen zum Handeln gehört, so impliziert das Vorhandensein von Alternativen, dass wir es bei einer Transformation mit einem offenen Suchprozess zu tun haben.

Dass Reißig eine vergleichende Betrachtung wählt ist nicht trivial. Es geht auch anders, wie beispielsweise Philipp Ther mit seiner zeitgleich erschienen Studie „Das andere Ende der Geschichte“ (Suhrkamp 2019) vorgeführt hat, in der er sich auf die letzten drei Jahrzehnte bezog. Reißig fragt danach, was aus den historischen Transformationsfällen und dem darüber akkumulierten Wissen für das Verständnis der heutigen Transformation zu lernen ist. Er orientiert dabei auf typische Merkmale von Transformationen, auf Typen, Verlaufsformen und Konturen.

Im Ergebnis seiner historisch vergleichenden Studien, die Realprozessen und wissenschaftlichen Diskursen gleichermaßen gelten, entwickelte Reißig über die Jahre ein Instrumentarium, das er in diesem Buch zur kollektiven Nutzung anbietet, die aktuelle Transformation nicht nur zu verstehen, sondern zu gestalten, nicht zum Desaster werden zu lassen.

Bestimmungsachsen zur Deutung von Transformationsprozessen

Reißig bietet uns dazu sechs Bestimmungsachsen (S. 24f.) an. Auf diesen Achsen werden von Reißig jeweils Pole markiert, zwischen denen die jeweiligen Transformationen sich bewegen:

(1) Voraussetzungen, Ursachen und Triebkräfte. Diese werden wirtschaftlich, sozial und kulturell differenziert; nach inneren versus äußere Widersprüchen, Neuem versus Altem gefragt.

(2) Bewegungsformen und Muster. Was ist evolutionär, nichtintendiert, graduell, gewaltlos, was intendiert, ereignis- und bruchhaft, konflikt- und gewaltbeladen? Was geschieht von Oben, was von Unten?

(3) Träger und Akteure. Welche Rolle spielen Avantgarden, Führer, Gruppen und welche die Massen, Klassen und Schichten?

(4) Räumliche und zeitliche Erstreckung. Der Fokus kann auf dem Lokalen, Regionalen, Nationalen bis Globalen liegen. Die zeitliche Erstreckung reicht von Jahren über Jahrzehnte bis zu Jahrhunderten – je nachdem.

(5) Neuheit. Sozialer Wandel als Wandel im gegebenen Entwicklungs-, Ordnungs- und Gesellschaftsmodell versus sozialer Wandel als Übergangs- und Umbruchprozess zu einem neuen sozio-ökonomischen und soziokulturellen Entwicklungs- und Gesellschaftstyp. Und endlich

(6) Ziel und Wirkungsrahmen von Transformationen. Hierbei kommen „Vorstellungen“, „Orientierungen“, „Konzepte“ und „Utopien“ versus tatsächliche Resultate der gesellschaftlichen Umwandlungsprozesse in den Blick. Einbeschlossen sind bei dieser Bestimmungsachse Frage nach „gelungener“, „gescheiterter“ oder „hybrider“ Transformation. Soll heißen: Welcher Grad der Etablierung und Institutionalisierung eines neuen Entwicklungspfades und welcher Grad von Freiheit, Gleichheit und Demokratie als Basis individueller Entwicklungsmöglichkeiten und Lebensführung, Offenheit und weiterführenden Entwicklungsoptionen wurde bzw. wird erreicht?

Eine Typologie von Transformationen

Im Ergebnis seiner Transformationsvergleiche durch die Geschichte bietet uns Reißig eine Typologie von Transformationen an:

(1) den Strukturtyp mit drei Merkmalen: Pfadwechsel; eingreifendes, gestaltendes Handeln von Akteuren; Orientierung auf Zukunft, verstanden als offener Auseinandersetzungs- und Suchprozess in einem neuen Möglichkeitsraum.

Und (2) die Entwicklungs- bzw. Wandlungstypen. Bei diesen unterscheidet er zwischen (a) Transformationen als Wandel, Übergang, Wechsel zwischen Zivilisationstypen (archaisch, traditionell, modern). Die erste Große Transformation sieht er im Übergang von der Tradition zur Neuzeit, zur Moderne, die zweite ist ihm die neue Große Transformation im 21. Jahrhundert. Ein weiterer Typ ist (b) Transformation als Wandel, Wechsel, Übergang zwischen Formationstypen (wovon es zwei archaische, drei traditionelle und zwei moderne gibt).

Dann gibt es die Transformation in der Moderne als Wandel, Übergang, Wechsel zwischen Gesellschaftstypen, zwischen sozioökonomischen und soziokulturellen Entwicklungspfaden (New Deal, Staatssozialismus, Marktliberalismus und die Postsozialistische Transformation). Endlich komplettiert die Transformation als Transition, Wechsel politisch-institutioneller Regimetypen der 70er und 80er Jahre von Diktaturen und autoritären Regimen hin zu parlamentarischen Demokratien. Rezensent bemerkt eine nicht näher begründete Herabstufung dieses Typs gegenüber den anderen.

Ein Angebot an die breite Leserschaft

Jede dieser Dimensionen ist gewissermaßen ein Laufsteg, ein Knüppeldamm im empirischen Sumpf der Geschichte, ein Skywalk über der Historie. Dabei ist zu bedenken, dass Reißig diese Begrifflichkeiten als Wissenschaftler in zweifacher Hinsicht auf ihre Belastbarkeit hin erprobt und entwickelt hat: seit einem Vierteljahrhundert beobachtet, beschreibt und analysiert er reale Umbrüche nach der sogenannten Wende in Deutschland und in Osteuropa und zugleich, just in time, arbeitete er sich durch wissenschaftlich beschriebenen geschichtlichen Wandel, setzte er sich, interdisziplinär offen und soziologisch gebunden zugleich, mit Paradigmen, Theorien, Konzepten und Begrifflichkeiten der Transformationsforschung auseinander.

Systematiker mögen monieren, dass Reißig die begrifflichen Marken, die er auf seinen „Bestimmungsachsen“ setzt, nicht näher festlegt, definiert. „Ein Zeichen für gute Wissenschaft ist nicht das Schließen, sondern das Öffnen von Begriffen.“ (Jörg Strübing: Vom Einander-Verstehen und der Besetzung von Begriffen)

Er verlässt sich gewissermaßen auf ein nicht diskursiv beschlossenes Verständnis der Begriffe. Das ist ein großer Vorteil für eine breite Leserschaft. Sie kann Reißig leichtfüßig und sicher auf seinen Wegen folgen.

Abb. (PDF): Publikationen unter Beteiligung von Rolf Reißig (geb. 1940) im Diskussionszusammenhang der Rosa-Luxemburg-Stiftung. Biografisches siehe ausführlichen Wikipediaeintrag

1 Köhler, Horst: Der Weg zur Nachhaltigkeit ist unser aller Weg. Future Sustainibility Congress 2019, Hamburg, 19. November 2019 2 Siehe: Kollmorgen, Raj: Transformation für alle(s)? In: Berliner Debatte Initial 21 (2010), S. 147–155. Reißig hatte den Grund für beide Arbeiten mit einem Aufsatz allerdings schon im Jahr 1994 (Reißig, Rolf: Transformation – Theoretisch-konzeptionelle Ansätze und Erklärungsversuche. In: Berliner Journal für Soziologie, Heft 3, 1994, S. 323–343) gelegt.