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ARCHIV

Nr.2/2020, S.30

kalenderblätter:

24. Oktober 1956 – Schleswig-Holstein

Streik für Lohnfortzahlung im Krankheitsfall

01 Regelungen in anderen europäischen Ländern

02 Hilfe auf Gegenseitigkeit – Vorläufer

Von Matthias Paykowski, Karlsruhe

1954 hatte der DGB in seinem beschlossenen Grundsatzprogramm kritisiert: „Es ist unbillig und ungerecht zugleich, dass Arbeitern bei Arbeitsunfähigkeit infolge Krankheit in den ersten sechs Wochen kein Lohn gezahlt wird. Um dieses seit Jahren und Jahrzehnten bestehende Unrecht zu beseitigen, ist die Lohnweiterzahlung durch Tarifvertrag oder Gesetz einzuführen.“

Ende des 19. Jahrhunderts hatte der Reichstag ein Gesetz verabschiedet, das Angestellten im Krankheitsfall ab dem ersten Tag der Arbeitsunfähigkeit die Fortzahlung des Gehalts sicherte. 1861 erstmals im Handelsgesetzbuch für Angestellte geregelt, galt es ab 1897 auch für Angestellte in der gewerblichen Wirtschaft. Bis 1930 war es möglich, per Vertrag von der Verpflichtung zurückzutreten. Das Gesetz überstand Kaiserreich, Weimarer Republik und auch die Nazi-Herrschaft. In der Bundesrepublik galt es unverändert fort. 1955 legte der DGB den im Bundestag vertretenen Parteien einen Vorschlag zur Änderung von § 616 BGB vor. Dieser Paragraf regelt „vorübergehende Verhinderungen“ in einem Arbeits- bzw. Dienstverhältnis. Die SPD übernahm das Anliegen und brachte dazu einen Gesetzentwurf in den Bundestag ein, der aber keine Mehrheit erhielt. Zu hohe finanzielle Belastungen der Wirtschaft – befand die Adenauer-Regierung.

Gesetzesinitiativen gescheitert – Die IG Metall kündigt Tarifvertrag …

Nachdem damit absehbar eine gesetzliche Regelung und Verbesserung nicht in Sicht war, kündigte die IG Metall Ende 1955 den Rahmentarifvertrag für die schleswig-holsteinische Metallindustrie und übergab im April 1956 den Metallarbeitgebern ihre Forderungen, u.a.:

― Lohnfortzahlung im Krankheitsfall für gewerbliche Arbeiter für die Dauer von sechs Wochen;

― Zahlung eines zusätzlichen Urlaubsgeldes von 7,50 DM täglich;

― Verlängerung des Urlaubs auf 18 Tage, für Jugendliche bis zum 18. Lebensjahr 24 Tage.

In den 1950er-Jahren war in der Bundesrepublik der Arbeiter meist Alleinverdiener, d.h. die ganze Familie musste mit einem Lohn ihr Auskommen finden. Die IG Metall rechnete an einem Beispiel vor, welche finanziellen Auswirkungen Krankheit in den Arbeiterhaushalten hatte:

„Ein Arbeiter mit Frau und zwei Kindern verdiente für 28 Tage Brutto 406,80 DM. Nach Abzug von Steuern und Sozialversicherungsbeiträgen verblieben 350,30 DM. Wenn er krank wurde, bekam er an den ersten 3 Tagen (Karenzzeit) gar kein Geld, dann für 9 Tage Hausgeld von insgesamt 58,86 DM und 16 Tage Krankengeld in Höhe von 116,32 DM. In den vier Wochen seiner Krankheit erhielt er daher nur 175,18 DM.“

… und ruft zum Streik ab 24. Oktober 1956

Nach zehn erfolglosen Verhandlungsrunden mit den Metallarbeitgebern erklärten die Gewerkschaften im September 1956 das Angebot der Arbeitgeber für unzureichend und organisierten für den 11. und 12. Oktober 1956 die Urabstimmung. 88 Prozent der teilnehmenden Gewerkschaftsmitglieder stimmten für Streik. Dieser begann am 24. Oktober.

Ein Beitrag im Stadtarchiv der Stadt Kiel weist auf die hohe Mobilisierung – von 45000 Mitgliedern der IG Metall im Geltungsbereich des Tarifgebiets beteiligten sich bis zu 34000:

„Der Streik begann als Schwerpunktstreik in den gewerkschaftlich gut organisierten Werftbetrieben und Maschinenfabriken, weil man hier mit wenig Streikbrechern rechnen konnte. Er verursachte auch weniger Kosten und dadurch eine bessere Unterstützung für die Streikenden.

Mitte November ging die zentrale Streikleitung, die ihren Sitz in Kiel im Gewerkschaftshaus hatte, dazu über, kleinere Betriebe in den Streik einzubeziehen. Insgesamt wurde der Arbeitskampf in zehn Schritten bis zum 11. Januar 1957 auf 38 Betriebe mit 34 068 Beschäftigten ausgedehnt. Bei den Howaldtswerken z.B. traten von 11 503 Lohnempfängern 9648 in den Ausstand. Den Umsatzverlust schätzte die Geschäftsleitung auf ca. 100 Millionen DM.

Insgesamt streikten Beschäftigte in folgenden Kieler Betrieben: ab 24. Oktober 1956 auf den Howaldtswerken, bei der Maschinenbau Kiel MaK, in der Firma Bohn & Kähler, ab 5. November die Beschäftigten von Bernhard Kröger, der Elektro-Acustic, von Hagenuk, Vollert & Merkel, ab 14. November in den Firmen Rudolf Prey, Poppe GmbH, Eisen- und Stahlbau, ab 11. Januar 1957 bei Anschütz & Co., Zeiss-Ikon und in dem Betrieb von Fritz Howaldt.“

Januar 1957: Mitglieder weisen unzureichende Angebote zurück

Der Streik wurde auch über die Weihnachtsfeiertage und den Jahreswechsel, ohne an Schwung zu verlieren, fortgesetzt. Einen ersten Vorschlag zur Schlichtung wiesen die Gewerkschaftsmitglieder mit einem Nein-Votum von 97 Prozent Anfang Januar 1957 zurück. Auch die zweite und dritte Schlichtung fanden keine Mehrheit. Die vierte Urabstimmung am 14. Februar 1957 führte zum Ende des Streiks – nach 16 Wochen, 114 Tagen: 39,66% der Streikenden sprachen sich für und 57,66 % gegen eine Annahme aus. Damit war das nach der Satzung der IG Metall erforderliche Quorum von 75 % nicht erreicht und das Schlichtungsergebnis angenommen.

Das Ergebnis nach 114 Tagen:

„– Bei einer Krankheitsdauer von mehr als einer Woche werden eineinhalb Karenztage voll bezahlt. Nach einer Krankheitsdauer von mehr als zwei Wochen werden drei Karenztage mit dem Nettoverdienst bezahlt.

– Die Höhe des Lohnausgleichs im Krankheitsfall beträgt 90% des Nettolohns. Die Wartezeit wird von sieben auf vier Tage verkürzt.

– Lohnfortzahlung wird bei jedem Arbeitsunfall unabhängig von der Dauer der Betriebszugehörigkeit gewährt.

– Urlaubstage werden vermehrt und eine bessere Urlaubsvergütung gewährt.“

Diskriminierende Sozialgesetze

Im Bundestag gab es daraufhin im Sommer 1957 eine parlamentarische Mehrheit für eine Änderung der Rechtslage mit dem „Gesetz zur Verbesserung der wirtschaftlichen Situation der Arbeiter im Krankheitsfalle“. Es sah aber nicht Lohnfortzahlung durch den Arbeitgeber, sondern einen Zuschuss zum Krankengeld vor, das damit auf 90 Prozent des Nettoarbeitsentgelts aufgestockt wurde. Der Anspruch bestand – wie der Anspruch auf Krankengeld – vom dritten Tage der Krankheit an, für die Dauer von bis zu sechs Wochen. Diese Regelung wurde vier Jahre später erweitert. Der Krankengeldzuschuss des Arbeitgebers wurde angehoben, so dass im Krankheitsfall für die Dauer von sechs Wochen der Nettolohn gezahlt wurde. Und der Anspruch auf diesen Betrag galt bereits ab dem zweiten Tag der Erkrankung.

Die rechtliche und tatsächliche Ungleichbehandlung der Arbeiter und der Angestellten bestand aber fort und wurde erst 1969 durch das „Gesetz über die Fortzahlung des Arbeitsentgelts im Krankheitsfalle und über Änderungen des Rechts der gesetzlichen Krankenversicherung“ erreicht. Dieses trat am 1. Januar 1970 in Kraft.

Tarifliche Initiativen dauern an

Im gewerkschaftlichen Aktionsprogramm von 1959 konnte der DGB von weiteren tariflichen Anstrengungen zur „Überbrückung der Karenztage“ berichten: „Die Gewerkschaft der Eisenbahner Deutschlands konnte beispielweise die 90prozentige Lohnfortzahlung vom ersten Krankheitstage an erzielen, die Gewerkschaft Leder erreichte teilweise Zuschusszahlungen bis zu 8 (statt 6) Wochen, ebenso die Gewerkschaft Nahrung, Genuss, Gaststätten. Die Gewerkschaft ÖTV setzte für die Arbeiter der Gemeinden eine Lohnfortzahlung von 99 Prozent über 26 Wochen durch. Auch die Deutsche Postgewerkschaft erzielte Lohn- und Gehaltsfortzahlungen bis zu 13 oder sogar 26 Wochen. Die IG Druck und Papier konnte die Lohnfortzahlung sowohl im graphischen Gewerbe als auch in der Papier und Pappe verarbeitenden Industrie auf Kur- und Heilverfahren ausdehnen. Im Bereich der IG Chemie wurde stellenweise 100prozentige Lohnfortzahlung vereinbart. Der Gewerkschaft Textil–Bekleidung gelang es, die Lohnfortzahlung bei Betriebsunfällen zu verbessern.“

01

Regelungen in anderen europäischen Ländern

Rolf Gehring, Brüssel

Die Zeitspanne, in der Arbeitgeber das Entgelt im Krankheitsfalle weiterzahlen, ist in den einzelnen EU-Ländern unterschiedlich. In Rumänien werden nur bis zu fünf Tage, in Deutschland sechs Wochen, in den Niederlanden ganze zwei Jahre von den Arbeitgebern übernommen.

Weiterhin sind Karenztage (unbezahlt) Realität für Beschäftigte in einer Reihe europäischer Länder. In Lettland und Schweden beispielsweise je ein Tag, in Estland, Frankreich, Griechenland, Italien, Malta, Österreich, Portugal, Spanien, Tschechien und Zypern in der Regel je drei Tage, bevor die entsprechenden Leistungen beginnen. In Irland dauert es sechs Tage, bis die Leistungen gewährt werden; in den Niederlanden zwei Tage.

Große Unterschiede bestehen bei der Höhe der Ausgleichszahlungen. Sie reicht von 100 Prozent in Deutschland, Luxemburg oder Malta über 80 Prozent in Polen oder Schweden bis zu 25 Prozent während der ersten drei Krankheitstage in der Slowakei. Belgien diskriminiert weiter gewerbliche Beschäftigte, bei denen nach den ersten sieben bzw. nach 14 Tagen Absenkungen vorgenommen werden, wohingegen Angestellte über den gesamten Zeitraum der Lohnfortzahlung 100 Prozent erhalten. In Frankreich hängt die Höhe der Zahlung auch von der Betriebszugehörigkeit ab. In Polen erhalten Beschäftigte bis zum 50. Lebensjahr bis zu 33 Tage im Jahr Lohnfortzahlung, danach nur noch 14 Tage pro Jahr. Die Höhe beträgt 80 Prozent bei nicht berufsbedingten und 100 Prozent bei berufsbedingten Erkrankungen und Unfällen. Auch in Slowenien variiert die Höhe abhängig von der Art der Erkrankung.

Durch tarifvertragliche Zuschläge kann der Betrag zum Teil erhöht werden. Beispielsweise wird in den Niederlanden die gesetzlich auf 70 Prozent begrenzte Entgeltfortzahlung tarifvertraglich bis zur Höhe des täglichen Entgelts aufgestockt. Auch in Frankreich ist vieles tarifvertraglich ausgestaltet.

Quelle: MISSOC – Gegenseitiges Informationssystem für soziale Sicherheit; https://www.missoc.org/missoc-information/missoc-vergleichende-tabellen-datenbank/?lang=de

02

Hilfe auf Gegenseitigkeit – Vorläufer

Rolf Gehring, Brüssel

Die Einrichtung von Bruderschaften und sogenannten Bruderläden reicht weit ins Mittelalter zurück und hat noch frühere Vorläufer in den Maurerbrüderschaften, den späteren Logen, in denen es immer um die Unterstützung in einer Gemeinschaft ging, und zwar eine Unterstützung der Gemeinschaftsmitglieder und ihrer Angehörigen. Die Enge der Gemeinschaft wirkte exklusiv nach außen, demokratisch nach innen und war geographisch sehr weit ausgebildet, teils über Kontinentgrenzen hinweg.

Die Zünfte sind im Mittelalter die prägenden Strukturen zur Absicherung von Krankheit im Wirtschaftsleben. Auch hier paaren sich eine exklusive Gemeinschaft und räumlich entgrenzte Zugehörigkeit (Wanderschaft). Aber bereits Anfang des 19. Jahrhunderts bilden sich erste Unterstützungskassen in Anlehnung an die Struktur der Zünfte für Berufsgruppen von Lohnabhängigen. 1803 gründet sich in Linz die erste Unterstützungskasse für Buchdrucker. Weiteres Beispiel: 1842 errichten Buchdrucker- und Schriftsetzergehilfen in Wien eine Unterstützungskasse, die nicht auf den Betrieb fixiert war, sondern die gesamte Wiener Arbeiterschaft erfasste.

Auch in der wachsenden großen Industrie, die sich ja außerhalb der zunftstrukturierten Wirtschaft herausbildet, gründen Arbeiter selbstorganisierte Hilfskassen, aus denen sich nach der Liberalisierung des Vereinsrechtes 1867 die gewerkschaftlichen Fachverbände entwickeln. Staatlich organisierte Krankenversicherung knüpft an diese Entwicklungen an, ersetzt die exklusiven Zugänge, aber (tendenziell) auch die Selbstverwaltung und die „grenzüberschreitende Solidarität“.

Quelle: Monika Senghaas, Die Territorialisierung sozialer Sicherung; Leipzig, 2013

Quellen: Friedrich-Ebert-Stiftung – library.fes.de; Beirat für Geschichte in Schleswig-Holstein – www.beirat-fuer-geschichte.de; Archiv der Stadt Kiel – www.kiel.de; IG Metall; DGB.

Abb. (PDF): Abbildungen: 1 Stimmzettel zur ersten Urabstimmung im Oktober 1956. http://www.vimu.info/image.jsp?id=for_28_9_113_fo_stimmzettel_de_jpg&lang=de&u=teacher&flash=true&size=xxl

2 Karikatur der IG Metall zum Streik. https://www.beirat-fuer-geschichte.de/fileadmin/pdf/band_19/Demokratische_Geschichte_Band_19_Essay_9.pdf

3 Plakat des DGB – aus dem Aktionsprogramm: „Krankheit kennt keinen Unterschied. https://www.dgb.de/themen/++co++d3afa698-d3ba-11e4-b7f0-52540023ef1a#lohnfortzahlung