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Nr.2/2020, S.32

Neu erschienen:

Verbrecher Verlag Berlin 2020, Broschur, 140 Seiten, Preis: 16,00 €

Auch als E-Book in allen einschlägigen Stores erhältlich (Epub / Mobipocket für 9,99 €).

Jan Korte: Die Verantwortung der Linken

Von Harald Pätzolt, Berlin

Korte leitet mit bekannten Diagnosen zum Zustand der Gesellschaft in seinen Essay ein: Auf der einen Seite Verrohung der Gesellschaft, Hass, Diskriminierung, steigende Mieten und Preise, schlechtes Internet und fehlende Busverbindungen, verlorene Resonanz zwischen Volk und Parteien usw., auf der anderen Seite viele identitätspolitische Fortschritte, Ausbau von Minderheitenrechten. Das habe Methode, hänge irgendwie zusammen. Die These, beides seien die zwei Seiten der einen Medaille Neoliberalismus ist bekannt. Gegen die eine Seite, die progressive, mag Korte nichts einwenden, gegen die der „regressiven Verteilungspolitik“ sehr wohl.

Worauf Korte hinaus will sind die unterschiedlichen Reaktions- und speziell Reflexionsweisen der Menschen in den beschriebenen Lebenslagen und dabei ganz speziell die der Linken. Wahr ist, was für wahr gehalten wird, so lautet eine Regel der Psychologie. Und wenn also, so Korte, Menschen der Meinung sind, ihre Probleme kämen in den Medien nicht vor, interessierten die da oben nicht usw., dann ist dies deren Wahrheit. Korte nennt diese Wahrheit sogleich auch ein „Gefühl“, weil damit Ängste, Ohnmacht und Wut, ja, auch Hass, unmittelbar verbunden sind. Er sieht sich damit bei seinen Begegnungen im Wahlkreis nicht nur konfrontiert, nein, er setzt sich diesen ganz bewusst aus. Seine Reaktion dabei ist empathisch, aber nicht allein empathisch. Er besteht auf einen respektvollen Umgang mit diesen Menschen, die sich zurückgelassen sehen. Respekt ohne Empathie ist politisch instrumentell. Das ist wohl der Vorwurf, den Korte bestimmten Linken macht.

Eigentlich ist nach dieser Fixierung der eigenen Haltung der Verweis auf jene anderen unter den „Blasen-Linken“ zu findenden Reaktions- und Verhaltensmuster gegenüber denen da unten, da hinten, da irgendwo, kaum mehr interessant und eher denunziatorisch. Es sind ja nur Spielarten elitären Verhaltens, ob nun Proletkult oder Ökokult. Man könnte nun fragen, ob nicht auch eine gewisse Empathie und ein Respekt gegenüber den Menschen in jenen gehobenen Milieus angebracht wäre, wie denn ein linker Umgang mit deren Wahrheiten aussehen sollte. Korte ist in seiner Schrift parteiisch.

Im ersten Teil seines Textes skizziert Korte die „Rechtsverschiebung in der etablierten Politik“. Seine Pointe in dieser exzellenten Darstellung ist der historisch-systematische Bezug der deutsch-deutschen Nachkriegs- und Nachwende-Politik auf Faschismus einerseits und Kommunismus andererseits. Die Rechtsverschiebung in der Gesellschaft, so Kortes These, mit all diesen rechtsradikalen bis faschistoiden Gruppierungen und Parteien, wäre nicht möglich gewesen ohne diesen Antikommunismus als westdeutsche Staatsdoktrin; die Auseinandersetzung mit deutschem Faschismus wie heutigem Rechtspopulismus und Rechtsterrorismus bleibe daher in der deutschen Politik weiter defizitär. Das generiere Verantwortung der Eliten für die Opfer und Verantwortung der Linken, diesen Mangel etablierter Politik zu skandalisieren.

Der zweite Teil widmet sich dem Leben der sogenannte „Kleinen Leute“, Korte schreibt darin über deren „kleine Träume“. Er greift zurück auf die Generationenerfahrungen seiner Eltern und die der Großeltern. Das ist die Zeit einer westdeutschen Gesellschaft, in der Aufstieg durch Anstrengung und Bildung möglich war. Wo massenhafte Teilhabe am wachsenden Wohlstand durch Konsum wie durch Ausbau des Sozialstaates Standard war. Nichts davon beschwört Korte verklärend, aber er besteht darauf, diese „moralische Ökonomie“ einer ganzen Klasse von Arbeiter*innen und Angestellten nicht einfach zu verwerfen, weil man damit halt auch deren Trägerschaft denunzieren und verwerfen würde – im Wortsinne. Was ja auch vielfach geschieht und den Linken gar nicht fremd ist, zu Kortes Leidwesen. Empathie also auch für Generationen und darauf aufbauend den gehörigen Respekt, dann können Linke den kleinen Träumen der kleinen Leute etwas für ihre Politik abgewinnen.

Im dritten Teil reflektiert Korte, wie sich die beschriebenen Entwicklungen der letzten drei, vier Jahrzehnte innerhalb der organisierten Linken, in der Sozialdemokratie und nach dem Schisma in den 2000er Jahren, ausgewirkt haben. Er wird in diesem Abschnitt fast lautlos strategisch, weil er im entstandenen Koordinatensystem von neuen Klassen, Schichten und Milieus den Ort der Linken für sich deutlich fixiert: Aus seiner Sicht sollte die Linke nicht diskriminierend, also ohne kulturelle Selbstüberhebung und Abwertung/Geringschätzung der Lebens- und Daseinsweise der Anderen sich sowohl für jede/n Einzelne/n wie die „Drangsalierten dieser Gesellschaft“ einsetzen. Solidarität allein ist nicht hinreichend, es geht auch um die Integration dieser Gesellschaft als einer von Menschen, so, wie sie sind und nicht, wie sich manche Linke sie wünschen. Korte ist hier radikal libertär und konservativ zu gleich.

Der abschließende Teil dient Korte dazu, seine Schlussfolgerungen noch einmal geordnet vorzustellen. Erstens Arbeit, Auseinandersetzung mit der Geschichte, ganz praktisch, also auch Umgang mit Traditionen, Ritualen usw. der Linken zu pflegen sei die Aufgabe. Zweitens sollten die Linken die Anstrengung auf sich nehmen, die Grenzen des eigenen Lebenswelten gelegentlich und in politischer Absicht zu überschreiten, Korte fordert profan: raus aus der eigenen Blase! Drittens sollte das Agenda-Setting der Linken den realen Interessen und Bedürfnissen der Menschen entsprechen. Das nicht trivial, zeigt doch die Praxis, wie verlustreich der Weg durch die Gremien der Partei hin zu Beschlüssen und Kampagnen sein kann. Das hängt, so Korte, sehr mit dem Thema Sprache zusammen. In der Bevölkerung und in der sogenannten Parteibasis wird in der Diaspora bereits nicht zwingend eine Sprache gesprochen. Wo das Verhältnis von Bevölkerungszahl und Mitgliedschaft besser war und eventuell noch ist, in Teilen Ostdeutschlands etwa, findet die Verwandlung von Sprache in Vokabular auf dem Weg durch die Gremien spätestens auf der Ebene der Amts- und Mandatsträger statt. Fünftens ist Korte der Überzeugung, dass aus den „kleinen Träumen“ nichts werden kann, wenn die Linken nicht den Mut zum „großen Träumen“, also zur Utopie, zu kühnen Erzählungen zurückgewinnt. Es gehört, siebtens, ein gehöriger Schuss Pragmatismus, Wille und Fähigkeit zum Kompromiss dazu, ebenso Charakterstärke, um den Versuchungen der Macht, den Eitelkeiten der Berliner Republik zu widerstehen. Nur so können die Linken souverän damit umgehen, dass es bestimmter Personen mit charismatischen Fähigkeiten bedarf, um kollektive politische Ziele zu erreichen. Und auch Kortes letzter Punkt, der neunte, fordert menschliche Qualität: der solidarische, respektvolle Umgang der Linken untereinander.

Der Text ist der eines Politikers, der gänzlich unprätentiös ist und beim Schreiben weder auf geschliffenen Stil noch auf Zurückhalten der eigenen Leidenschaften, Zu- und Abneigungen Wert gelegt hat. Es holpert und ist hier und da im Bild schief, in der Sache freilich jederzeit präzise und sicher. Es ist ein weltanschauliches Bekenntnis und ein politisches Manifest zugleich. Lesenswert.