PB
PDF

PB
ARCHIV

Nr.3/2020, S.05

Aktuell aus Politik und Wirtschaft

Urteil zur Geldpolitik der EU: Das Ei des Voßkuhle – im Spiegel der europäischen Medien „Ultra vires“ – Kompetenzüberschreitung durch Kompetenzüberschreitungskritik

„Ultra vires“ – Kompetenzüberschreitung durch Kompetenzüberschreitungskritik

Johannes Kakoures, München

Sah es zunächst so aus, als würde die Corona-Krise das Urteil des Bundesverfassungsgerichts zum Anleihenkaufprogramm der Europäischen Zentralbank weitgehend überlagern, hat sich mittlerweile die Brisanz in einer unüberschaubaren Vielzahl an Stellungnahmen niedergeschlagen. Sollte es das Ziel des verkündenden Richters und ehemaligen Präsidenten des Bundesverfassungsgerichts Voßkuhle gewesen sein, auch über seinen Ruhestand hinaus im Gespräch zu bleiben, dürfte er dieses erreicht haben.

Worum geht es inhaltlich?

Gegenstand des Verfahrens war das Anleihenkaufprogramm der Europäischen Zentralbank, das im Jahr 2015 beschlossen wurde. Mit dem sogenannten PSPP (Public Sector Purchase Programme PSPP) versetzte sich die EZB in die Lage, Staatsanleihen und andere marktfähigen Schuldverschreibungstitel der Mitgliedsstaaten des Eurosystems anzukaufen. Ausdrückliches Ziel war es, die Geldmenge zu erhöhen und die Inflation auf einen Wert um die 2 % zu steigern.

Rechtsschutzbedürfnis?

Bereits die Tatsache, dass das deutsche BVerfG hier in die Lage kam, die Maßnahmen der EZB zu überprüfen, ist ohne ein gewisses Wohlwollen für das Anliegen der Kläger, kaum verständlich, hatten hier doch nicht Staatsorgane, sondern – einschlägig bekannte – Bürger, unter anderem AfD-Gründer Bernd Lucke und der CSU-Rechtsaußen Peter Gauweiler, geklagt. Gerichte sehen es nicht gerne, wenn sie ohne konkretes Anliegen zur Klärung abstrakter Rechtsfragen angerufen werden. Deswegen setzen alle Klagen ein Rechtsschutzbedürfnis voraus, welches im „normalen“ Zivilprozess meist unproblematisch gegeben ist: hier will zumeist irgendwer irgendwas von irgendwem. Schwierig wird es dagegen im öffentlichen Recht, bei dem – oft bereits erledigte – Maßnahmen staatlicher Organe überprüft werden. Jeder, der schon einmal versucht hat, die Rechtmäßigkeit eines polizeilichen Eingreifens überprüfen zu lassen, kann ein Lied davon singen, wie kompliziert es werden kann, das zwingend erforderliche „Rechtsschutzbedürfnis“ zu begründen. Gerade das BVerfG versteht sich nicht als allgemeine Prüfungsinstanz. Eine Verfassungsbeschwerde setzt daher immer voraus, dass der Betroffene (möglicherweise) selbst, direkt und unmittelbar in seinen durch die Verfassung verliehenen Rechten verletzt wird. Zudem kann die EZB vor dem BVerfG nicht verklagt werden: EZB-Handeln unterliegt lediglich der Kontrolle durch den Europäischen Gerichtshof EuGH. „In der Rechtsprechung des Senats ist geklärt, dass Maßnahmen von Organen (…) der Europäischen Union keine Akte öffentlicher Gewalt im Sinne von Art. 93 Abs. 1 Nr. 4a GG (…) sind und können daher (…) kein unmittelbarer Beschwerdegegenstand sein“ stellt das BVerfG im Urteil selber fest. Da Maßnahmen der Zentralbank sich selten direkt gegen einzelne Bürger richten und kein deutsches Verfassungsorgan an den angegriffenen Beschlüssen beteiligt war, mussten die Kläger hier einen gehörigen Umweg gehen, um eine Gefährdung eigener Rechte darzulegen. Und so ist die Behauptung, dass sowohl die Bundesregierung wie auch der Bundestag dadurch, dass sie nichts gegen die Beschlüsse der EZB unternommen haben, die Kläger in ihrem Wahlrecht aus Art 38. Grundgesetz („Die Abgeordneten des Deutschen Bundestages werden in allgemeiner, unmittelbarer, freier, gleicher und geheimer Wahl gewählt“) verletzt hätten. Dies bedeutet nicht weniger, als dass das BVerfG die Demokratie als solche in Gefahr sieht, ist das Wahlrecht doch die zentrale Säule der Demokratie. Eine Gefährdung der Demokratie durch ein Unterlassen nicht an der Maßnahme beteiligter Organe – das ist ein gewagter und bislang von keinem nationalen Gericht innerhalb der EU beschrittener Weg, dem das BVerfG aber folgt.

Wie kommt das Bundesverfassungsgericht zu seinem Urteil?

Der etwas verworrene Weg, auf dem das Gericht zu diesem Ergebnis kommt ist, möglichst kurz zusammengefasst, der folgende: Die EZB ist nach EU-Recht für die Währungsstabilität zuständig (Art 127 AEUV: „Das vorrangige Ziel des Europäischen Systems der Zentralbanken ist es, die Preisstabilität zu gewährleisten“). Die gesamte EU wird beherrscht vom Prinzip der „begrenzten Einzelermächtigung“. EU-Institutionen dürfen nur handeln, wenn sie von den Mitgliedsstaaten ausdrücklich dazu berechtigt wurden. Die allgemeine Wirtschaftspolitik ist mangels ausdrücklicher Zuweisung in der Kompetenz der Mitgliedsstaaten. Die EZB nimmt hier lediglich eine nicht näher bestimmte unterstützende Aufgabe wahr. Wesentlich aus der Erfahrung der deutschen Geschichte mit dem Trauma der Inflation und der sehr frühen Einspannung der Reichsbank in das nationalsozialistische Regime, insbesondere die Kriegsfinanzierung, und nicht zuletzt auf Betreiben der deutschen Verhandlungsführer bei Schaffung des EU-Primärrechts ist die Unabhängigkeit der EZB ähnlich der Bundesbank und der US-amerikanischen FED deutlich und ausdrücklich geregelt: „Bei der Wahrnehmung der (…) Aufgaben und Pflichten darf weder die Europäische Zentralbank noch eine nationale Zentralbank noch ein Mitglied ihrer Beschlussorgane Weisungen von Organen, Einrichtungen oder sonstigen Stellen der Union, Regierungen der Mitgliedstaaten oder anderen Stellen einholen oder entgegennehmen.“ (Art. 130 AEUV). Nach Auffassung des BVerfG hat die EZB mit dem PSPP die ihr zustehende Kompetenz der Währungspolitik überschritten und in die in der Kompetenz der Mitgliedsstaaten liegende Wirtschaftspolitik eingegriffen. Diese Kompetenzüberschreitung wird durch das Schlagwort „ultra vires“, also über die eigene Kraft hinaus, bezeichnet. Eine Rechtsverletzung deutscher Kläger wird nun dadurch begründet, dass durch die Vermengung von Währungs-, und Wirtschaftspolitik den eigentlich zuständigen Institutionen Bundesregierung und Bundestag ein wesentlicher und originärer Zuständigkeitsbereich entzogen wurde. Hierdurch sei ein maßgebliche Politikfelder, insbesondere auch aufgrund der Auswirkungen auf das Budgetrecht des Bundestages, nicht mehr hinreichend demokratisch legitimiert. Das Wahlrecht der Kläger sei also durch einen Kompetenzverlust entwertet.

Feststellungsurteile und Handlungspflichten

Durch die nach anfänglichem Zögern nun breit geführten Debatte – insbesondere auch nach der scharfen Replik aus Brüssel durch die EU-Kommissionspräsidentin – wird eines der zentralen Probleme des Urteils deutlich: Es bleibt unklar, was daraus praktisch folgt. Die vorne erläuterte Voraussetzung eines „Rechtsschutzbedürfnisses“ soll nicht nur Richter vor überflüssiger Arbeit schützen. Es muss aus dem Tenor einer Entscheidung vielmehr klar hervorgehen, welche Pflichten sie dem Verurteilten auferlegt. Für den Anwalt bedeutet dies, dass er das Rechtschutzbedürfnis bereits durch eine möglichst klare Fassung seiner Anträge, die den Tenor des Urteils bilden, deutlich machen muss. Klagen können daher schon einzig an einer falschen Antragsformulierung scheitern. Im Zivilrecht gilt der Grundsatz, dass ein Gerichtsvollzieher aus dem Tenor erkennen muss, was er zu tun hat, ohne ein Wort der Begründung zu lesen. Die Notwendigkeit eines Rechtsschutzbedürfnisses schützt somit auch den Rechtsunterworfenen vor ungewissen Vollstreckungsmaßnahmen. Das in der Eindeutigkeit des Tenors verkörperte Rechtsschutzbedürfnis ist somit elementarer Baustein von Rechtssicherheit und Ausdruck des Willkürverbotes. Dies schließt Feststellungsurteile nicht aus. Hier müssen aber besondere Umstände, etwa Wiederholungsgefahr oder Schadensersatzansprüche, die nachträgliche Feststellung rechtfertigen.

Aufgrund der fehlenden Befugnis, Maßnahmen der EZB direkt zu überprüfen, musste das BVerfG den Umweg mitgehen, ein „fehlendes Tun“ von Bundesregierung und Bundestag zum Gegenstand zu machen. Es konnte mithin auch nur feststellen, dass dieses Unterlassen rechtswidrig war. Da aber eben ein Nichttun zu Grunde lag, bleiben die Folgen im Dunkeln. Das Urteil mündet u.a. in dem Leitsatz, dass „Bundesregierung und Bundestag aufgrund ihrer Integrationsverantwortung verpflichtet sind, auf eine Verhältnismäßigkeitsprüfung durch die Europäische Zentralbank hinzuwirken. Sie müssen ihre Rechtsauffassung gegenüber der Europäischen Zentralbank deutlich machen oder auf sonstige Weise für die Wiederherstellung vertragskonformer Zustände sorgen.“ Nicht nur ein Gerichtsvollzieher wäre überfordert, aus der Verpflichtung „der Wiederherstellung vertragskonformer Zustände auf sonstiger Weise“ dem Schuldner eine klare Verhaltensweise vorzugeben. Am konkretesten ist noch der Schlusssatz der Begründung: „Der Bundesbank ist es daher untersagt, (…) an Umsetzung und Vollzug des Beschlusses (…) mitzuwirken, indem sie bestandserweiternde Ankäufe von Anleihen tätigt oder sich an einer abermaligen Ausweitung des monatlichen Ankaufvolumens beteiligt, wenn nicht der EZB-Rat in einem neuen Beschluss nachvollziehbar darlegt, dass die mit dem PSPP angestrebten währungspolitischen Ziele nicht außer Verhältnis zu den damit verbundenen wirtschafts- und fiskalpolitischen Auswirkungen stehen.“ Nun war aber die Bundesbank weder Verfahrensbeteiligte noch ergeben sich aus Urteilsbegründungen unmittelbar Rechtsfolgen. Wirkung entfaltet lediglich der Tenor und der lautet: „Bundesregierung und (…) Bundestag haben die Beschwerdeführer in ihrem Recht (…) verletzt, da sie es unterlassen haben, geeignete Maßnahmen dagegen zu ergreifen, dass der Rat der EZB (…) weder geprüft noch dargelegt hat, dass die beschlossenen Maßnahmen dem Grundsatz der Verhältnismäßigkeit entsprechen.“

Eingriffsmöglichkeiten für die Zukunft?

Was bleibt ist die Verpflichtung der Bundesregierung und des Bundestages zu „geeigneten Maßnahmen“ und einem Handeln in „sonstiger Weise“ und zwar mit dem Ziel, dass der Rat der EZB prüft und darlegt, dass der Grundsatz der Verhältnismäßigkeit durch die Beschlüsse der EZB gewahrt wird. Aus diesen Formulierungen, die in ihrer Unklarheit weit über übliche, interpretationsbedürftige „unbestimmte Rechtsbegriffe“ hinausgehen, kann keine unmittelbare Handlungspflicht entstehen. Dies gilt umso mehr als nicht der Anleihekauf an sich, sondern die als unzureichend empfundene Begründung als rechtswidrig verurteilt wird. Die Beurteilung einer Begründung als ausreichend ist aber ebenso schwammig wie die Beurteilung einer Maßnahme als geeignet. Dies nährt den Verdacht, dass das BVerfG entgegen dem Grundsatz der richterlichen Zurückhaltung nicht eine konkrete rechtswidrige Maßnahme abgeurteilt, sondern für die Zukunft Eingriffsgrundlagen geschaffen hat.

Brüskierung nicht nur des EuGH

Die praktische Bedeutung des Urteils in Deutschland wird also primär darin bestehen, dass sich das Gericht künftig schwertun wird, Klagen gegen vermeintliche Kompetenzüberschreitungen von EU-Behörden abzuweisen. Die praktische Bedeutung in der EU wird darin bestehen, dass das BVerfG eine dogmatisch durchaus nicht schlechte Begründung für sämtliche nationale Regierungen und Gerichte der Mitgliedsstaaten geliefert hat, gegen EU-Maßnahmen vorzugehen oder diese nicht umzusetzen. Die Voraussetzungen für eine „ultra-vires“-Kontrolle durch die Nationalstaaten wurden schlichtweg gesenkt und aus der politischen in die juristische Ebene verlagert. Hierfür war ein weiterer Umweg nötig: Auch wenn das BVerfG nicht für EU-Organe zuständig ist, sind diese nicht von gerichtlicher Kontrolle frei. Zuständig für die Auslegung von EU-Recht, wozu auch die Kompetenzordnung zwischen EU und Mitgliedsstaaten gehört, ist der EuGH. Nun sieht sich der EuGH tatsächlich eher als „Integrationsmotor“, dem es vor allem um das Primat des EU-Rechts zu tun ist. Das BVerfG hat auf mögliche Schwierigkeiten, die aus der Interessenkollision zwischen dem EuGH als Kontrolleur und Institution der EU reagiert, indem es immer wieder betont, dass der EuGH für die Auslegung des EU-Rechts notwendig zuständig ist. Die nationalen Gerichte seien solange aus der Überprüfung ausgeschlossen, als die Rechtsprechung des EuGH eine hinreichende Kontrolldichte und insbesondere einen den deutschen Standards vergleichbaren Grundrechtsschutz gewährleiste.

Nur für extreme Ausnahmefälle, …

… die demokratische Grundsätze elementar gefährden, so konnte man dieser Rechtsprechung entnehmen, behalte sich das BVerfG eine finale Prüfungskompetenz vor. Dass das BVerfG nun ausgerechnet in einer währungspolitischen Maßnahme einen solchen Extremfall bejaht, überrascht und beunruhigt. Es kann zu diesem Ergebnis nur kommen, indem es die Arbeit des EuGH sehr weitgehend diskreditiert. Zur Erinnerung: das BVerfG hatte zunächst den üblichen Weg beschritten und seine Zweifel an der Anleihenpolitik der EZB durch den EuGH im Wege der Vorlage überprüfen lassen. Der EuGH hat daraufhin die Maßnahmen in einem ausführlichen Urteil als verhältnismäßig festgestellt. Um sich hierüber hinwegzusetzen, muss das BVerfG zu drastischen Worten greifen: „In der vorliegend vom Gerichtshof praktizierten Art und Weise ist der Grundsatz der Verhältnismäßigkeit (…) ungeeignet beziehungsweise funktionslos“, „Der Ansatz des Gerichtshofs (…) verfehlt die Anforderungen an eine nachvollziehbare Überprüfung (…)“. Dem EuGH wird hier nicht weniger als offensichtliche Willkür unterstellt. Nun unterliegt die „Begründungstiefe“ des EuGH seit langem einer Kritik, die auch von EU-freundlichen Stimmen kommt. Beim EuGH prallen Juristen aus 28, demnächst 27 verschiedenen Rechtsordnungen mit sehr unterschiedlichen Traditionen und auch Ausbildungen und nicht zuletzt unterschiedlichen Sprachen aufeinander. Das zugebenermaßen sonst sehr hohe Niveau des Bundesverfassungsgerichts wird nicht immer erreicht. Ob dies nun ausgerechnet in diesem Fall die demokratische Legitimität der Kompetenzverteilung so in Frage stellt, dass man die gesamte europäische Öffentlichkeit und ausgerechnet in der Corona-Krise wichtige EU- und Bundesbehörde vor ein riesiges Fragezeichen zu stellen und Nationalisten in der Öffentlichkeit und in Amt und Würden scharfe Munition zu liefern, ist mehr als fraglich.

Abb. (PDF): 5.5.2020, 20 h, Fernsehauftritt Voßkuhle, BVerfG, (Originalton): „Erstmals in seiner Geschichte stellt das Bundesverfassungsgericht fest, dass Handlungen und Entscheidungen europäischer Organe offensichtlich nicht von der europäischen Kompetenzordnung gedeckt sind und daher in Deutschland keine Wirksamkeit entfalten können.“