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ARCHIV

Nr.3/2020, S.07

Aktuell aus Politik und Wirtschaft

Das Virus und das Chaos – Brasilien unter Präsident Bolsonaro

Achim Wahl, Berlin, Mai 2020

Die Wirtschaft Brasiliens befindet sich im Abschwung. Covid19 erfasst das ganze Land. Die Zahl der Infizierten (803 000) und die der Todesfälle (40.900) nimmt zu (Stand 12.6.2020, J.-Hopkins-Universität)). Besonders betroffen sind die Peripherien der großen Städte und das Landesinnere, da dort die medizinischen Möglichkeiten sehr begrenzt sind. Präsident Bolsonaro lehnt Maßnahmen gegen die Pandemie ab und fordert auf, alles wie üblich zu machen.

Die Kritik an der Haltung Bolsonaros und an dem ostentativen Verleugnen der Folgen der Krise nimmt zu. Eine Reihe weiterer Maßnahmen zeigt die Gefährlichkeit seiner Politik. Mit einem Erlass zur Befreiung von Steuerzahlungen für private Munitionskäufe zur „Selbstverteidigung“ sind pro Person Käufe bis zu 600 Schuss Munition/Jahr erlaubt. Freie Fahrt für Goldgräber zur Goldsuche in indigenen Gebieten.

Bolsonaro verstrickte sich im Streit mit dem O Globo-Imperium, verlor an Zustimmung in der Bevölkerung. Unerwartet kam der Rücktritt des Justizministers Moro und dessen Aussagen bei der Bundespolizei gegen Bolsonaro. Die Staatsanwaltschaft leitete Untersuchungen gegen Bolsonaro ein. Bevor Moro Justizminister in der Regierung Bolsonaros wurde, lagen in seinen Händen die Untersuchungen von Korruptionsfällen. Dadurch wurde Bolsonaro der Weg zur Präsidentschaft geebnet, ein Wahlsieg der PT verhindert und Ex-Präsidenten Lula durch Moro zu zwölf Jahren Haft verurteilt.

Es erhebt sich die Frage, wer diesen unberechenbaren und autoritären Präsidenten stützt.

Einen Hinweis liefert die Entwicklung der brasilianischen Börse, die im April-Mai ein Hoch von plus zehn Prozent verzeichnete. Die vom Finanzminister Guedes eingeleiteten Maßnahmen zur vertieften Privatisierung lassen das internationale Kapital und das mit ihm assoziierte brasilianische jubeln. Es ist die Finanzoligarchie, die Bolsonaro stützt.

Aber das Finanzkapital ist durch die schwierige Lage auf den Kredit- und Finanzmärkten verunsichert. Ihre Hoffnungen konzentrieren sich auf den „starken Staat“, von dem sie „Hilfe“ erwarten. Aber die Währungsreserven sind in den vergangenen Monaten um 50 Milliarden Reais (Stand Mai = 8,74 Mrd.US-Dollar) zusammengeschmolzen.

Bolsonaro und sein Wirtschaftsminister Guedes realisieren das geplante neoliberale Programm: Internationalisierung des brasilianischen Finanzsystems, Abschaffung der öffentlichen Banken und Dollarisierung des Landes. Das bedeutet Reduzierung öffentlicher Finanzierungen für den produktiven Sektor, Einschränkung der Ausgaben für soziale Mittel. Befördert werden die Kapitalflucht, die starke Abwertung des Real (Stand 19.5.20 1 US-$ = 5,7 Reais) und das Streben in den US-Dollar. Den Unternehmern wird es erlaubt, Tarifverträge zu kündigen, um Löhne bis zu 70% zu kürzen.

Durch Bolsonaro initiiert, wird von seinen Anhängern die Schließung des Kongresses, des Obersten Gerichts und die Wiederbelebung des „Institutionellen Aktes Nr.5“ (AI-5) aus dem Jahre 1968 gefordert. Mit dem AI-5, von der Diktatur erlassen, regierten die Militärs 17 Jahre. Der AI-5 verbot alle Parteien, kassierte verfassungsmäßige individuelle Rechte, um politischen Widerstand zu unterbinden. General Augusto Heleno (Chef des Sicherheitskabinetts des Präsidenten) erklärte im Oktober 2019, dass bei ähnlichen Protesten wie in Chile, es logisch wäre, dagegen etwas zu unternehmen.

Mit zunehmend chaotischerer Politik Bolsonaros reagierte das Militär und ernannte General Braga Netto als Chef des Präsidentenamtskabinetts. Netto, ehemals Chef des Generalstabes, agiert faktisch als Militär im Hintergrund, um Bolsonaro auf diesem Wege „einzuhegen“. Offensichtlich ist das Militär angesichts der Corona-Krise bestrebt, öffentliche Konflikte und weitere unsinnige Schritte Bolsonaros zu vermeiden. Nach militärischen „Ordnungsgesetz“ trachten sie danach, sich in der Corona-Krise als moderierende Kraft zu geben und wissen, dass sie in der Hinterhand den Vizepräsidenten, General Mourao, haben.

Regierungsposten werden mit Militärs besetzt. In Ministerien, Agenturen, auf Landes- und Bundesebene sind 2000 Militärs tätig. Von 22 Ministern sind acht ehemalige Militärs.

Die evangelikale Kirche weitet ihren Einfluss in Brasilien aus. Noch 1980 waren 83% der Bevölkerung katholischen Glaubens. Gegenwärtig werden 35% der Bevölkerung den Evangelikalen zugerechnet. Damit wuchs ihr politischer Einfluss. Sie haben eine Fraktion im Abgeordnetenhaus und trugen 2018 zur Wahl Bolsonaros bei. Gemeinsam mit den Evangelikalen verfügen rechte Kräfte über eine komfortable Mehrheit im Abgeordnetenhaus. Bolsonaro selbst ist Katholik, unterhält aber enge Beziehungen zu Vertretern dieser Glaubensrichtung. Mit wachsendem Einfluss der Evangelikalen wurde politisch und kulturell das Leben in Brasilien verändert: Die Menschen hören das evangelikale Radio, sehen diese Sender und sind in Facebook- und WhatsApp-Gruppen zusammengeschlossen. Sie leben in einer in sich abgeschlossenen Welt. Die zweitgrößte Fernsehstation des Landes gehört Edir Macedo, Bischof der „Universalkirche des Gottesreiches“. Macedo unterstützte die Kandidatur Bolsonaros. Linke Parteien sind für ihn Ausgeburten des Teufels. Der fundamentalistisch-religiöse Flügel der Bolsonaro-Unterstützer wird von einem Guru Olafo de Carvalhos, der in den USA lebt, angeführt. De Carvalho hat direkte Verbindungen zum Präsidenten Bolsonaro und unterhält enge Kontakte zu ultrarechten Kreisen in den USA (Bannon).

Die Militärs sind die hauptsächlichste Stütze Bolsonaros. Durch den Charakter ihres Berufes bringen sie autoritäre, hierarchisierte Formen der Machtausübung ein. Die „Kräfte des Marktes“, d.h. die Finanzoligarchie, und die Extremisten der Straße befinden sich in einer sonderbaren „Koalition“, die angetrieben wird durch den autoritären Populismus Bolsonaros. Die Zielstellung der Militärs, Bolsonaros und seines Vize Mourao ist die Festigung der Exekutive und die populistische Mobilisierung ihrer Wählerbasis gegen die Legislative und Judikative – eine gefährliche Allianz zwischen neoliberalen und faschistoiden Kräften.

Linke Kräfte haben es in dieser Situation sehr schwer, vor allem, weil es unter Corona-Bedingungen schwierig ist, Menschen zu mobilisieren. Aber die gehen auf die Straße, sie protestieren nicht nur gegen die für die Mehrheit immer unerträglicher werdende soziale Lage, sondern auch gegen Rassismus, besonders nach dem Tod des US-Amerikaners George Floyd. Mehr als 80 Organisationen und Parteien, unter ihnen die PT, haben beim Obersten Gericht eine Anklage gegen Bolsonaro zur Einleitung eines Amtsenthebungsverfahrens eingebracht. Begründet wird der Antrag mit den Verstößen Bolsonaros gegen Menschenrechte und Verstößen gegen die Verfassung. Unter der Losung „Weg mit Bolsonaro und Mourao“ („Fora Bolsonaro e Mourao“) wurde eine landesweite Kampagne gestartet, die von linken Parteien, den Bewegungen „Frente povo sem medo“ (Front Volk ohne Angst), der Frente Brasil Popular, der Gewerkschaftszentrale (CUT), der Landlosenbewegung (MST) und der Nationalen Union der Studenten (UNE) getragen wird. Im Zustandekommen einer übergreifenden Bewegung des Volkes wird die Möglichkeit gesehen, eine Katastrophe zu verhindern.