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ARCHIV

Nr.3/2020, S.18

EU-Politik

Von der Leyen will jetzt auch den „Wumms“ – mit der EU

01 Wertpapiersammelstellen in der EU

02 Gemeinsame Erklärung der deutschen und französischen Gewerkschaften

03 Deutsch-Französisches Parlament

04 info Strukturpolitik (Regionen)

Rüdiger Lötzer, Berlin – Rolf Gehring, Brüssel, Eva Detscher, Karlsruhe

Vertreter der EU-Kommission dürften in der Corona-Krise mehrfach in den Abgrund geschaut haben. Erstens, als zum Beispiel die deutsche Regierung die Lieferung von medizinischen Gütern nach Italien stoppte mit dem „Argument“, diese würden in Deutschland benötigt – ein Verstoß gegen alle Regeln der Fairness. Dann durch die Erkenntnis, dass die EU nach geltenden Verträgen rein gar nichts bei der Bekämpfung von Corona zu entscheiden hat. Drittens durch die Aussetzung von Schengen, die Abriegelung aller Grenzen für Touristen, Pendler, sogar Familien. Und schließlich, als die Bundesregierung die von Italien, Spanien, Frankreich vehement geforderten „Eurobonds“ zur Nothilfe gegen Corona in bewährt-schnoddriger Manier der größten Gläubigermacht der EU brüsk ablehnte. Nicht wenige Menschen, zumal in von Corona besonders gebeutelten Staaten, dürften sich da gefragt haben, wozu leisten wir uns diesen Laden eigentlich, wenn er in einer solchen Situation nicht zu einfachsten Hilfsmaßnahmen fähig ist, von der jahrelangen Inhumanität aller EU-Staaten gegenüber Flüchtlingen in Griechenland ganz zu schweigen?

Aber das ist nun zum Glück Geschichte. Am 18. Mai machten Merkel und Frankreichs Staatspräsident Macron unter großer Anteilnahme der Öffentlichkeit den Weg frei für einen Kurswechsel der europäischen Politik – hin zu einer deutlich staatsinterventionistischen Wirtschaftspolitik, mit allen damit verbundenen Risiken und Chancen, aber auch zu einer massiven Ausweitung des EU-Haushalts. Und, erstmals in der Geschichte, zu Schulden der EU.

Nach der Freigabe aus Paris und Berlin verkündete EU-Kommissionspräsidentin von der Leyen am 27.5. ein ambitioniertes Programm. Zusätzlich zu dem EU-Finanzrahmen für die Jahre 2021 bis 2027, der sich auf 1,1 Billionen (1.100 Milliarden) Euro belaufen soll (das entspricht 1,074 Prozent der Wirtschaftsleistung, prozentual etwas mehr als die bis zum Austritt Großbritanniens üblichen 1,0 Prozent der Wirtschaftsleistung) will die Kommission erstmals 750 Milliarden Euro Anleihen auf den Finanzmärkten aufnehmen, die – sicher gut verzinst – zu einem Drittel als rückzahlbare Kredite an EU-Mitgliedsländer weiter gereicht werden sollen, zu zwei Dritteln, 500 Milliarden Euro, als Zuschüsse. Rückzahlbar durch die gesamte EU.

Wie genau letzteres stattfinden soll, wird Gegenstand von Auseinandersetzungen der 27 Mitgliedsstaaten sein. In der Diskussion ist eine EU-weite Mindeststeuer für Unternehmen, was Gewerkschaften schon lange fordern, um Steuerdumping und Steueroasen in und um die EU herum Grenzen zu setzen. Weiter sind eine Digitalsteuer für Internet-Konzerne wie Facebook, Twitter, Google, vielleicht auch Amazon, Uber & Co., ein Abschöpfen beim Emissionshandel und/oder eine Steuer auf Kapitalanlagen in der Diskussion.

Allerdings, und hier wird es spannend, würde diese Steuer von den vermögenden Kreisen in den EU-Staaten gezahlt. Ob eine solche Steuer also je Realität wird, bleibt abzuwarten. Vorläufig hat die EU-Kommission nur Pläne verkündet, und die Proteste, angeführt von den „vier geizigen“ Gläubigerländern Niederlande, Österreich, Dänemark und Schweden, von denen sich die deutsche Politik erstmals etwas abgewendet hat, haben schon begonnen. Auch der Steuerzahlerbund, Gauweiler, die AfD und andere toben. Wenn die Rückzahlung dieser Schulden am Ende nicht gelingt, muss umgeschuldet werden. Dann scheint eine Änderung der EU-Verträge unvermeidbar.

EU-Schulden wofür?

Bevor aber das Thema „wer zahlt die Zinsen für diese Anleihen wirklich und wer zahlt sie am Ende zurück?“ aufkommt, kommt die Verwendung. Wofür sollen die vielen zusätzlichen Mittel verwendet werden?

Die EU sagt: Erstens zur Bekämpfung der Konjunkturkrise. 7,4 Prozent Einbruch beim EU-Bruttoinlandprodukt fürchten Ökonomen in 2020, heftiger als in der Finanzkrise 2008/2009. Wachsende Arbeitslosigkeit, vor allem in den von Corona besonders getroffenen Regionen, ist eine Folge. Wachsende Armut ebenso. Regionale Disparitäten zwischen Ballungsräumen und ländlichen Regionen, zwischen starken und schwachen Industrieregionen dürften zunehmen. Hinzu kommt der industrielle Wandel, neue Technologien – mit welchen Folgen, ist offen. On top womöglich die Folgen eines „harten Brexits“. Der irre Boris ist ebenso wie der irre Donald in Washington zu allem fähig.

„Reparieren und vorbereiten für die nächste Generation“ will von der Leyen die EU mit ihrem Programm, schreibt das „Handelsblatt“ (26.5.20). Wenn das so kommt – und das ist, siehe die „geizigen Vier“ und andere Akteure, noch nicht ausgemacht – dann sollen alle EU-Staaten nationale Wiederaufbau- und Reformpläne einreichen. Die EU-Kommission prüft dann, ob diese Pläne mit den politischen Prioritäten der EU kompatibel sind. Diese lauten: 1. Klimaschutz stärken, 2. Digitalisierung vorantreiben und 3. die Widerstandsfähigkeit der europäischen Wirtschaft erhöhen. Ein weites Feld. Fällt darunter auch die Verbesserung der öffentlichen Gesundheitsversorgung? Programme gegen das Stadt-Land-Gefälle, gegen Altersarmut, zur Verbesserung der schulischen und beruflichen Bildung?

Die EU-Kommission hat eine Liste veröffentlich, welche Staaten welche Zuschüsse aus dem 500 Milliarden-Paket bekommen sollen.

Es verwundert bei so hohen Zuschüssen – verglichen mit der Wirtschaftskraft osteuropäischer Länder – wenig, dass die Opposition in Osteuropa gegen dieses Programm gering ist. Es zeigt aber auch: Hier soll Wiedergutmachung geleistet werden, vor allem für Schurkereien der „Troika“.

Merkel hat angekündigt, in der am 1. Juli beginnenden deutschen EU-Ratspräsidentschaft eine rasche Entscheidung anzustreben, über den EU-Haushalt bis 2027 und über die 750 Milliarden. Ähnlich wie Helmut Kohl, der kurz vor seinem Abtritt mit der Zustimmung zum Euro noch eine große „europäische Tat“ hinlegte und seinen Nachfolgern das „Klein-Klein“ der Umsetzung überließ, will offenbar auch Angela Merkel zum Ende ihrer Amtszeit nicht mehr als Vertreterin einer hässlichen Gläubigermacht dastehen, die Griechenland, Portugal, Zypern und andere in tiefe Not stürzte, sondern als „große Europäerin“. Europapolitik wird wieder spannend!

Hier die 13 größten Empfängerländer (in Mrd. Euro):

Italien 81,8

Spanien 77,3

Frankreich 38,8

Polen 37,7

Deutschland 28,8

Griechenland 22,6

Rumänien 19.6

Portugal 15,5

Bulgarien 9,2

Tschechien 8,6

Ungarn 8,1

Slowakei 7,9

Kroatien 7,3

(nach FAZ, 27.5.20)

Abb. (PDF): Unabhängig von der gewählten Dramaturgie und dem Timing, die Initiative ist ein Türöffner für Debatten, die vor kurzem so nur schwer vorstellbar waren, zeigen aber auch die Ambiguität einer Staatengemeinschaft mit „Führungsländern“. (Abb. nach ARD, 18.5., 20 Uhr)

01

Wertpapiersammelstellen in der EU

Eine EU-Steuer auf Wertpapiere könnte die Finanzvermögen treffen, die von Wertpapiersammelstellen wie der „Clearstream International S.A.“ in Luxemburg und der „Euroclear Bank SA“ in Brüssel verwaltet werden, auf die Bundesfinanzminister Scholz schon lange ein Auge geworfen hat, bisher freilich ohne Erfolg. Zu den Aufgaben dieser „Wertpapiersammelstellen“, die es in ähnlicher Form schon seit 150 Jahren gibt, gehört die Erfassung von Wertpapieren jeder Art, ihre Sicherung gegen Betrug und die Überwachung des Handels mit ihnen. Die „Euroclear Bank SA“ in Brüssel verwaltet aktuell für 2000 Finanzinstitute in 90 Ländern Papiere im Gesamtwert von 27.500 Milliarden Euro. „Clearstream“ gehört zu 100 Prozent der Deutschen Börse AG und verwaltete 2018 Vermögen von 11.303 Milliarden Euro (Angaben lt. Wikipedia). Würde also die EU ähnlich der deutschen Regelung für Kapitalerträge die europäischen Besitzer solcher Papiere bei diesen Sammelstellen erfassen und ihnen z.B. eine jährliche Vermögenssteuer von 1 Promille auferlegen, kämen erkleckliche Einkünfte zusammen.

02

Gemeinsame Erklärung der deutschen und französischen Gewerkschaften

20.5.2020: … Die ersten Reaktionen nach Ausbruch des Virus in Europa waren vor allem nationalstaatlich geprägt. Die Gewerkschaftsbünde DGB, CFDT, CGT, FO, CFTC und UNSA bedauern … die anfänglich fehlende Abstimmung unter den Mitgliedstaaten …. Die deutschen und französischen Gewerkschaften verurteilen besonders die vereinzelten fremdenfeindlichen Vorkommnisse an der deutsch-französischen Grenze … Von der französischen Region Grand Est pendeln täglich normalerweise ca. 40 000 Grenzgänger*innen nach Deutschland … Nur eine ambitionierte europäische Antwort kann lange Jahre schwachen Wachstums oder gar der Rezession verhindern, die die Arbeitslosigkeit und Armut in Europa in die Höhe treiben würden …

In diesem Zusammenhang begrüßen wir ausdrücklich die deutsch-französische Initiative zur wirtschaftlichen Erholung Europas nach der Corona-Krise … den Richtungswechsel zu mehr Solidarität zwischen den Mitgliedsstaaten der Europäischen Union durch gemeinsame europäische Anleihen …. Der „Recovery plan“ muss einhergehen mit einem erheblich größeren Mehrjährigen Finanzrahmen in Höhe von 2% des europäischen BIP. DGB, CGT, CFDT und auch der Europäische Gewerkschaftsbund fordern eine von der EU garantierte Gemeinschaftsanleihe, die die Eigenmittel der EU in beträchtlichem Maße erhöht …

Quelle: www.cftc.fr/wp-content/uploads/2020/05/2020-05-20-deutsch-franzsische-gewerkschaftsinitiative.pdf

03

Deutsch-Französisches Parlament

Am 28.5.20 haben Richard Ferrand (Präsident der französischen Nationalversammlung Assemblée nationale) und Wolfgang Schäuble (Bundestagspräsident) auf der Sondersitzung der Deutsch-Französischen Parlamentarischen Versammlung die Pläne und das Vorgehen von Merkel und Macron zur Bewältigung der COVID-19-Pandemie und ihrer Folgen auf europäischer Ebene begrüßt und eigene Schwerpunkte für die parlamentarische Kontrolle benannt. U.a.:

• Schengen-Raum wiederherstellen;

• Die Unterschiede in Europa nicht größer, sondern kleiner werden lassen

• Offene Debatte über notwendige Vertragsänderungen

• Öffentliche Investitionen beim Wiederhochfahren unserer Volkswirtschaften

• Öffentliches Gesundheitswesen, Nachhaltigkeit und Klima sowie umfassende Sicherheit des Kontinents

Quelle: www.bundestag.de/dokumente/textarchiv/2020/kw22-schaeuble-ferrand-erklaerung-697864

Abb. (PDF): Logo

04

info Strukturpolitik (Regionen):

Mit dem Vertrag von Lissabon wird die Regionalentwicklung ausdrücklich in das Primärrecht der EU aufgenommen: Die „Union fördert den wirtschaftlichen, sozialen und territorialen Zusammenhalt und die Solidarität zwischen den Mitgliedsstaaten“ [Artikel 3 (3)].

Die europäischen Regionen werden 1980 in drei statistischen Kategorien als sogenannte NUTS (Nomenclature des unités territoriales statistiques) erfasst, die NUTS-Ebene wird anhand der Bevölkerungsgrenzen bestimmt.

Ebene

Untergrenze

Obergrenze

NUTS 1

3 000 000

7 000 000

NUTS 2

800 000

3 000 000

NUTS 3

150 000

800 000

Fördermittel werden im Rahmen der Regionalpolitik den jeweiligen NUTS-Regionen zugeordnet. Heute haben mehr und mehr Haushaltsposten eine Transferfunktion zu besonders benachteiligten Regionen/Akteuren. Eine langfristige Haushaltsplanung der Europäischen Union ist seit 1988 üblich, die Zeiträume betragen bisher fünf bis sieben Jahre.

Der Bereich Intelligentes und integrative Wachstum (aktueller Titel), in dem sich auch die Kohäsionsfonds finden, machte im EU Haushalt 2014 bis 2020 insgesamt 516 Mrd. € aus (2007 bis 2013 waren es 438 Mrd. €). War Regionalpolitik bis in die 70er Jahre alleinige Aufgabe der Mitgliedsstaaten, wurde 1975 mit den Europäischen Fonds für die Regionale Entwicklung (EFRE) ein europäisches Instrument geschaffen. Wesentliche Zielstellung ist die Konvergenz der Lebensverhältnisse.

Lag der Budgetanteil für den Agrarhaushalt 1977 noch bei 76 %, betrug er für die Budgetphase 2007 bis 2013 nur noch 42,3 % (= 413 Mrd. €). Eine weitere Senkung auf 373 Mrd. € folgte für die Budgetphase 2014 bis 2020. Im Jahr 2000 wurde als zweiter Pfeiler neben der direkten Unterstützung der Landwirtschaft der Unterposten Entwicklung des ländlichen Raums eingeführt – Schwerpunkt Agrarumweltmaßnahmen.

Der Europäische Globalisierungsfonds ist für den Zeitraum 2014 bis 2020 mit 150 Mio. € ausgestattet, die wesentlich bei Massentlassungen zum Einsatz kommen.

Der Fonds für einen gerechten Übergang umfasst 40 Mrd. € und soll den Übergang zu einer kohlenstoffarmen Wirtschaft mittels Förderung von Programmen zu Umschulung, Schaffung von Arbeitsplätzen und die Erstellung regionaler Strategiepläne begleiten.

Der Europäische Sozialfonds (ESF) besteht seit 1958. Förderung wesentlich von Regionen mit einem BIP von weniger als 75% des Durchschnitts. Thematische Ziele für den mehrjährigen Haushaltsplan 2014 bis 2020 sind u.a.

– Nachhaltige und hochwertige Beschäftigung

– Soziale Inklusion, Bekämpfung von Armut und Diskriminierung

– Investitionen in Bildung und Ausbildung

– Institutionellen Kapazitäten öffentlicher Behörden.