PB
PDF

PB
ARCHIV

Nr.3/2020, S.26

Ankündigungen, Diskussion, Dokumentation

Brauchen wir eine Reservegesellschaft ?

Christoph Cornides, Rolf Gehring. In den Projektierungsgesprächen zu den olitischen Berichten deutete Harald Pätzold die Fragestellung „Brauchen wir eine Reservegesellschaft“ an. Dies führte die Redaktion zu der Überlegung ein Werkstattgespräch nachzubilden. Dem Einleitungsbeitrag von Harald Pätzold, der die Frage aufwirft und Aspekte dazu aufblättert, folgen hier sieben Wortmeldungen, die sich auf diese Aspekte beziehen und weitere in die Diskussion einführen. Die Wortmeldungen sind nacheinander abgefasst worden, die Teilnehmer waren so über die vorherigen Beiträge informiert, eine Bezugnahme wurde möglich. Es ging also nicht um die abschließende Klärung einer komplexen Frage, sondern eher um das Zusammenstellen eines Meinungsbildes.

Abb. (PDF): Das Interrobang, auch Fragerufzeichen, ist ein seltenes, im Deutschen nicht benutztes Nichtstandardsatzzeichen. Es vereinigt die Funktionen eines Fragezeichens und eines Ausrufezeichens. Typografisch werden die beiden Zeichen übereinandergelegt. (Wikipedia)

01 Corona-Krise: Eine nicht so neue Fragestellung wird akut.

28.4.2020. Dr. Harald Pätzolt, Berlin harald.paetzolt@linksfraktion.de

02 Mehr Reserven für arbeitende Menschen!

12.5.2020, – Rüdiger Lötzer, Berlin, ruediger@loetzer.com

03 Die Kommunen brauchen Reserven – drückende Altschulden abbauen.

16.5.2020, Gabi Giesecke, Essen, g.giesecke@web.de

04 Personal und Naturreserven auf dem flachen Land ?

22.5.2020. Johannes Müllerschön, Offenau johmuellerschoen@nexgo.de

05 Reserve hat Ruh‘?

27.5.2020, Martin Fochler, München, fochlermuenchen@gmail.com

06 Recht auf Energie und Mobilität für Alle.

29.5.202, Manuela Kropp, manuela.kropp@rosalux.org

07 Wie können Zeit und Arbeit gerecht verteilt werden?

7.6.2020, Sabine Skubsch, Karlsruhe sabine.skubsch@viacanale.de

08 Arbeitszeitsouveränität zählt.

8.6.2020, Bruno Rocker . Berlin info@b-rocker.de

01

Corona-Krise: Eine nicht so neue Fragestellung wird akut

28.4.2020. Dr. Harald Pätzolt, Berlin harald.paetzolt@linksfraktion.de

Die Corona-Krise hat weltweit eine nicht so neue Frage akut ins Bewusstsein von Milliarden Menschen gerückt: Die Frage nach der Produktion, dem Angebot, der Verfügbarkeit von lebenswichtigen Dienstleistungen und Gütern in Krisenzeiten. Zuallererst natürlich betrifft das den Gesundheitssektor selbst. Die Zahl der kurzfristig verfügbaren Krankenhausbetten, der notwendigen Medizintechnik, hier der Beatmungsgeräte. Das einsetzbare medizinische Personal. Medikamente und Schutzausrüstungen für dieses und für die breite Bevölkerung. Es zeigte sich, von Land zu Land und von Region zu Region unterschiedlich, ein genereller Mangel. Ein gewissermaßen sekundärer Effekt zeigte sich in den sogenannten Hamsterkäufen von Toilettenpapier in Deutschland, von diversen Waren in anderen Ländern. Auch lassen sich unübliche Formen der Bevorratung mit Grundnahrungsmitteln beobachten, wie man sie aus Zeiten krisenhafter politischer Zuspitzungen während des Kalten Krieges bereits kennt.

Man muss weder volks- noch betriebswirtschaftlich besonders qualifiziert sein, um naheliegende Ursachen des allgemeinen Mangels dieser Art zu sehen. Die globale Organisation der Produktion und Distribution, globale Produktions- und Lieferketten. Damit verbundene Monopole. Just-In-Time-Produktion ohne Lagerung. Hinzu kommt die profitorientierte Reduktion jeglicher Überkapazitäten, soweit sie nicht technisch zwingend geboten ist. Ein immer wiederkehrender Argumentationszusammenhang gerade im Kontext der Gesundheitswirtschaft: Überkapazitäten, Unwirtschaftlichkeit und Fehlplanung. Auf diese Weise stehen weder nötige Produkte und Dienstleistungen noch entsprechende Erzeugungsmöglichkeiten, Knowhow, Material, Personal und Technik, zur temporären Eigenversorgung in der Krise zur Verfügung.

Dabei kennen unsere europäischen Gesellschaften durchaus effektive Antworten auf die Möglichkeit vorhersehbarer, aber weder zeitlich noch konditional klar bestimmbarer Lagen. Es gibt gigantische Reservelager für allerlei, staatlich für erforderlich gehaltene Dinge, Lebensmittel, Öl und Gas usw. Der militärische Sektor kennt die Bevorratung von Gerät und Munition und hat eine Personalreserve (Reservisten), ein jahrhundertealtes Verfahren der Mobilisierung im Kriegsfall. Lokal, doch flächendeckend, sind die Freiwilligen Feuerwehren zu nennen. Das Blutspendewesen ist ein solcher gesellschaftlicher Mechanismus dynamischen Reagierens auf Lagen unterschiedlicher Bedarfe.

Man könnte die mit dieser episodischen Aufzählung verbundenen Fragen systemtheoretisch, mathematisch, technisch oder soziologisch, ja, auch psychologisch diskutieren. Ein Gespräch mit der Evolutionsbiologie wäre sicher nützlich, haben wir doch die Tatsache der funktionellen Überkapazitäten bei vielen biologischen Objekten zu verstehen gelernt. Die Natur regelt das über die Verteilung von Samen, über den Erhalt der notwendigen Größe von Populationen, die Überkapazität des menschlichen Gehirns lernt jedes Kind im Schulunterricht kennen (wenn auch nicht nutzen).

Marxistisch Geschulte erinnern sich an den Marxschen Begriff der industriellen Reservearmee, mit dem das Kapital einerseits Lohndrückerei ermöglicht, andererseits die Reserve für eine sprunghafte Ausdehnung der Akkumulation schafft.

Bemerkenswert scheinen mir die vielfältigen Reaktionsweisen von Institutionen und Personen heute auf die Corona-Krise und den erlebten oder auch nur antizipierten Mangel. Es wird genäht und es werden Lebensmittel gebracht. Es wird eine systematische Bevorratung massenhaft praktiziert, Lagern wird eine ernst genommene Herausforderung für Familien. Nicht nur wird hier erinnert, dass es in den Altbauwohnungen vielfach sogen. Vorratskammern hatte, im heutigen Baugeschehen höchstens im gehobenen Segment für Schuhe und Kleidung realisiert. Machten bis vor Corona höchsten die Ökofuzzis Lebensmittel haltbar, so ist das aktuell ein Thema auch jenseits dieser Milieus, genau wie ein Aufwuchs des Trends hin zur kleinen Eigenproduktion von Obst und Gemüse.

Politisch wie administrativ beobachtet man das Sondieren der jeweilig optimalen Ebene des Agierens und Reagierens, der Normen- und Regelsetzungen. Die nationale und regionale Ebene scheint neue Relevanz zu bekommen – Politik gewinnt hier längst auf Dauer verlorene Legitimität zurück.

Abschließend will ich den unmittelbaren Anlass für diese Notiz kurz nennen. Mir kam der Gedanke, dass die alte gewerkschaftliche Forderung nach Arbeitszeitverkürzung (mit vollem Lohnausgleich, wie auch Linke es fordern), eine breite Akzeptanz finden könnte nach der Erfahrung der Corona-Krise. Wenigstens für bestimmte Sektoren, die heute als „systemrelevant“ attribuiert werden, könnten damit personelle Reserven für den Krisenfall geschaffen werden. Wer sechs Stunden regulär in der Pflege oder im Krankenhaus arbeitet, könnte temporär dann länger arbeiten.

Mir fiel auf, dass dies nie ein Argument war. Familie und Beruf, Gesundheit, Pflege Angehöriger, Ehrenamt wurden als in frei werdender Zeit sinnvolle Beschäftigungen genannt, von der Linken auch, in guter Marxscher Tradition, dass „die Gesellschaft die allgemeine Produktion regelt und mir eben dadurch möglich macht, heute dies, morgen jenes zu tun, morgens zu jagen, nachmittags zu fischen, abends Viehzucht zu treiben, nach dem Essen zu kritisieren, wie ich gerade Lust habe, ohne je Jäger, Fischer, Hirt oder Kritiker zu werden“ (Marx, Engels 1846, S. 33). Auch dachte ich, dass die Schulen allgemeine Kompetenzen zum Verhalten in Krisen unterrichten sollten, dazu die LehrerInnenausbildung heute bereits ausgerichtet werden müsste. Es scheint mir, dass die wirtschaftspolitischen Forderungen der Linken diesen Fragen, die den unmittelbaren Prozess der Organisation der Produktion und Distribution berühren, wenig Interesse entgegenbringen.

Das soll erst einmal genügen, mich würde interessieren, ob sich darüber auch aus anderer Sicht ein Gespräch zu beginnen lohnen könnte.

Abb. (PDF): Fette Jahre, magere Jahre, das Sprachbild ist Jahrtausende alt und mahnt (Josepherzählung, AT, Genesis) seither zur Vorsoge. Abb.: Joseph und die Abfüllung des Getreides. Bischofsitz von Maximian aus Ravenna, ca. 550 n. Chr. , https://books.openedition.org/ksp/5386

02

Mehr Reserven für arbeitende Menschen!

12.5.2020, – Rüdiger Lötzer, Berlin, ruediger@loetzer.com

Ich fürchte ein wirtschaftliches und soziales Trümmerfeld nach Corona, d.h. stark steigende Arbeitslosigkeit und soziale Not, einen massiven Rückgang dualer Ausbildung, viele Insolvenzen etc. Die Nachrichten dazu sind alarmierend.

Was hat Corona offengelegt? Das bei Linken beliebte Gegensatzpaar Markt contra Staat hilft vermutlich nicht weiter, siehe das Versagen von Politik in den USA, Großbritannien, Brasilien. Näher am Thema aber zeigen sich Handlungsbedarfe. Hier meine Wünsche.

1. Ein Ausbau des öffentlichen Gesundheitssystems, inkl. Reserven für Pandemiezeiten und bessere Bezahlung der Beschäftigten, ist unabweisbar.

2. Millionen Solo-Selbständige, Kleinstbetriebe, Leih- und Werkvertragsbeschäftigte, Minijobber, Alleinerziehende, die durch Corona in Not gerieten, verweisen auf Lücken in der sozialen Sicherheit. Eine gesetzliche Sozialversicherungspflicht für alle, genannt Bürgerversicherung, wäre eine Antwort. Sie schützt arbeitende Menschen gegen Krankheit, Arbeitslosigkeit, gegen Armut im Alter. Leider sind die politischen Mehrheiten davon weit entfernt. CDU/CSU, FDP und AfD liegen in Umfragen weit über 50%. Aber ein Projekt von SPD, Grünen und Linken mit der Zivilgesellschaft (Kirchen, Wohlfahrtsverbände, Gewerkschaften) könnte das sein. Bitte ohne Beitragsbemessungsgrenze, die nur Personen mit Einkommen von 5 000 Euro und mehr im Monat schützt. Starke Schultern sollten einen fairen Anteil tragen. Und bei Arbeitslosigkeit bitte mit höherer Zahlung – 80 oder 90 Prozent vom Netto, das sollte reichen.

3. Der Schutz von Beschäftigten, nicht nur in Schlachthäusern, ist ungenügend. Gewerkschaften, Tarifverträge, Arbeitsschutz müssen stärker werden, Mindestlöhne schneller steigen.

4. Hinzutreten sollte ein Lastenausgleich, wie von dem Historiker Heinrich August Winkler empfohlen. Innerdeutsch hieße das: Wiedereinführung der Vermögenssteuer, eine Erbschaftssteuer, die ihren Namen verdient, und eine Steuerprogression wie zu Zeiten Helmut Kohls. Das sollte reichen, um die Schulden, die durch Corona entstanden, abzubauen.

5. Winkler hatte auch einen Lastenausgleich in der EU angemahnt. Auch der scheint dringend. Corona hat Länder am Mittelmeer stark getroffen. Die Risse in der EU sind durch die Politik der Bundesregierung tiefer geworden – erst der irre Stopp medizinischer Hilfsgüter, dann das Veto gegen Corona-Bonds. Und dann stützt Karlsruhe auch noch die EU-Hasser Gauweiler und Lucke!

Also: Reserven gegen soziale Not, und Reserven gegen ein Auseinanderbrechen der EU. Das wäre hilfreich.

03

Die Kommunen brauchen Reserven – drückende Altschulden abbauen

16.5.2020, Gabi Giesecke, Essen, g.giesecke@web.de

Spätestens mit dem Lockdown Mitte März wurde sehr deutlich, welch zentrale Aufgaben die Stadtverwaltungen einschließlich der städtischen Gesellschaften für das Leben der Menschen in der Kommune aufrechterhalten müssen: Gesundheitsschutz, Müllentsorgung, Rettungsdienst, Feuerwehr, (Not-)Kinderbetreuung, Zahlung von Sozialleistungen, Nahverkehr, um nur einige zu nennen. Im Großen und Ganzen gelang dies unter Anspannung aller Kräfte.

Als linke Ratsfraktion haben wir vor allem nachgehakt, wie für besonders schutzbedürftige Gruppen mit geringen Ressourcen (Obdachlose, Geflüchtete etc.) gesorgt wird. Einer der größten Mängel ist aktuell, dass die Versorgung mit kostenlosen Mittagessen für Kinder und Jugendliche aus Sozialleistung beziehenden Haushalten nicht sichergestellt ist. Obwohl eine Refinanzierung aus den Bildungs- und Teilhabemitteln auch dann erfolgen kann, wenn sie nicht die Kitas und Schulen besuchen, geht die Verwaltung in Essen nicht daran, die Versorgung zu organisieren. Und erhält leider auch noch Rückdeckung von der Essener Groko aus SPD und CDU, die einen entsprechenden Antrag der Linken ablehnten.

Aktueller denn je ist gerade für die völlig überschuldeten Kommunen des Ruhrgebiets ein Altschuldenfonds. Der Einbruch der städtischen Finanzen ist drastischer als erwartet. Wir brauchen einen Rettungsschirm für die Kommunen, nicht nur für die Wirtschaft. Bund und Länder müssen ihr Ping-Pong-Spiel darum endlich beenden. Deshalb ist es gut, dass der Essener Stadtrat jetzt nach langem Hin und Her gemeinsam Druck mit einer Resolution macht, die die Linke schon lange fordert. Dass eine Lösung möglich ist, hat Hessen gezeigt.

Insgesamt gibt es ein spürbar gestiegenes Selbstbewusstsein der handelnden kommunalen Akteure gegenüber Bundes- und Landesebene. Deren Handeln wurde oft als „nicht hilfreich“ für die Bewältigung der Anforderungen vor Ort kritisiert – unabhängig vom Parteibuch. So war nicht nur Essens Oberbürgermeister Kufen, Mitglied im CDU-Bundesvorstand, empört über die Kritik des CDU-Ministerpräsidenten und Kanzlerkandidaten in spe an einem angeblich zögerlichen Handeln der Kommunen.

04

Personal und Naturreserven auf dem flachen Land ? –

22.5.2020. Johannes Müllerschön, Offenau johmuellerschoen@nexgo.de

Plötzlich haben Landeier (Bewohner und Bewohnerinnen im ländlichen Raum) Vorteile gegenüber den „urbanen Räumen“. In Corona-Zeiten zahlt es sich aus, mehr Raum, mehr Fläche, mehr Natur um sich rum zu haben und nicht so dicht aufeinander zu leben. Die Landbevölkerung ist auch heute noch näher dran an frischen Nahrungsmitteln, sei es aus dem eigenen (Schreber-) Garten, oder aus der freien Natur.

Ernährung. Aber natürlich, Corona deckt auch im Nahrungsmittelbereich Defizite auf. So weist ausgerechnet die BVE (Bundesvereinigung der Deutschen Ernährungsindustrie) darauf hin, dass „die Kochkompetenz der Deutschen drastisch sinkt“. Aber immerhin, selbst unter Hamsterkäufern ist die Priorisierung laut BVE in der zweiten Märzwoche vor Schließung der Schulen deutlich geworden. Im selben Zeitraum seinen 170% mehr Teigwaren, 200% mehr Mehl und 330% mehr Brotbackmischungen als vor einem Jahr verkauft worden. Der Verkauf von Klopapier stieg dagegen „nur“ um 118%. Hofläden, Direktvermarkter, (Bio-) Gemüselieferkisten, Mittagstische (zum Teil als Abholservice) und kommunal und/oder ehrenamtlich organisierte Corona-Bringdienste, Dorfläden und Nachbarschaftshilfen haben während der Corona Krise die Nahversorgung im ländlichen Raum aufrechterhalten. Eine Nahversorgung, die aufgrund der kapitalgetriebenen Zentralisierung des Einzelhandels in vielen (Teil-) Orten ohne Auto, schon vor Corona nicht mehr existierte. Spannend bleibt die Frage, was da nach Corona bleibt. So berichtet die „Heilbronner Stimme“ über die Gründung eines Gemeinschaftsgartens auf dem Hof der Biobäuerin und Kreisrätin (Die Linke) Lydia Riedel in Möckmühl-Hagenbach.

Landwirtschaft. Über eine Million Menschen arbeiten in der deutschen Landwirtschaft. Knapp 300 000 Saisonarbeiter*innen aus Osteuropa werden üblicherweise pro Jahr eingesetzt. Mehr als 200 000 Menschen sind zudem festangestellte Beschäftigte in der Agrarwirtschaft. Die Hälfte der „Bauern“ in Deutschland sind also Arbeitnehmer*innen. Die IG BAU ist die zuständige DGB Gewerkschaft. Ihr Positionspapier zu Corona macht Mut. Sie versucht in Baden-Württemberg den Schulterschluss zwischen den (in Ba-Wü überwiegend) selbstarbeitenden Bauern, den Beschäftigten und der Bevölkerung. „Jetzt geht es darum, ein neues Wort zu entdecken: ‚Ernte-Solidarität‘. Wer aus dem Landkreis Heilbronn zupacken kann, sollte das jetzt tun“. Warum sollte es so nicht möglich sein, statt der individuellen Ausbeutung osteuropäischer Wanderarbeiterinnen im Verborgenen während der Spargel- und Gemüsesaison, europäische Entwicklungs- und Patenschaftsprojekte zu kreieren, die transparent und öffentlich zum Nutzen aller beitragen können?

Abb. (PDF): Agrarsektor wertschätzen. https://igbau.de/Binaries/Binary13828/Positionspapier.pdf

05

Reserve hat Ruh‘?

27.5.2020, Martin Fochler, München, fochlermuenchen@gmail.com

Die Belastung durch die Pandemie verändert bei allen Leuten die Perspektiven. Eine Diskussion über die sonst wenig aufregende Frage der Reserven hat eine Chance. Das war schon bei der Finanzmarktkrise so. Gewerkschaften, Wirtschaft und Politik sahen damals, dass effiziente Produktion eben nicht bloß aus der Organisationmacht des Unternehmers quillt, sondern von dem geübten und verständigen Zusammenspiel der einzelnen Kolleginnen und Kollegen getragen wird. Durchaus eine Neubewertung des Faktors Arbeit, die Finanzierung der Kurzarbeit legitimierte. Es hat sich ausgezahlt.

Die heutige Krise ist, anders als damals, höchstwahrscheinlich mit einer Veränderung im Branchenmix verbunden. Die Gefahr der Verschiebung von Menschen in eine atomisierte Masse ist damit – trotz Kurzarbeit – sehr groß. Hochgradige (und hochproduktive) Spezialisierung kann berufliche Neuorientierung erheblich erschweren. Rein sachlich, (ein Tennisprofi wird es an der Violine schwer haben), aber auch durch lähmende Gefühle der Herabstufung. Die Figur des modernen Berufsmenschen, auf Spezialisierung hin angelegt, führte zu dem festen Vorurteil, dass der Beruf den ganzen Menschen fordert. So sahen es die Unternehmen und Institutionen, und dem folgten auch die Einzelnen, die nach interessanten Beschäftigungen strebten. Die Leitbilder des Wissenschaftlers, des Arztes, der Kunst- und Kulturschaffenden kultivierten das Muster, zu dem wie selbstverständlich „jemand“ gehört, der dem Heros „den Rücken frei hält“. Die frühbürgerliche Arbeitsteilung zwischen den Geschlechtern – Haushalt und Welt – war dazu tauglich.

Inzwischen hat sich hier etwas geändert. Die Mobilisierung der Frauen für das Berufsleben hatte den Nebeneffekt, die Konzentration auf den einen Beruf aufzulockern. Das Streben nach „Teilzeit“ wurde auch in sog. anspruchsvollen Berufen unübersehbar.

Das hängt damit zusammen, dass das soziale Leben selbst kompetent, quasi mit Berufsgeschick, bewältigt werden muss und das braucht Zeit und spezifische Fertigkeiten. Die Arbeit im Sozialverband stellt außerordentlich vielseitige Anforderungen. Das Leitbild „Ein Mensch, zwei Berufe“ sollte die Umorientierung des beruflichen Lebens erleichtern, wenn – ja wenn die öffentlichen Einrichtungen da sind, die den Leuten die Chance bieten, solche Arbeiten gut zu machen.

Linke Politik könnte gerade jetzt sehr darauf achten, dass die Einrichtungen des Ehrenamtes und die Welt der Initiativen und Vereine durch die öffentliche Hand gestärkt werden. Das reicht vom Sport über die Bildung bis zur Kultur und den Einrichtungen des Non-profit-Sektors. Hier kann mit verhältnismäßig geringem Mitteleinsatz a) aktuell gesellschaftlich hilfreiche Beschäftigung mobilisiert werden, und es könnten auch b) im derben Sinne für die Einzelnen verwertbare neue Kenntnisse und Fertigkeiten erworben werden.

Abb. (PDF): Dritter Sektor, https://wirtschaftslexikon.gabler.de/definition/nonprofit-sektor-39467 „1. Begriff: a) deutscher Sprachgebrauch: Der Nonprofit-Sektor wird im deutschen Sprachgebrauch mit Drittem Sektor (neben den beiden idealtypischen Polen Markt und Staat) gleichgesetzt und als Begriff weitgehend einheitlich verwendet.“

06

Recht auf Energie und Mobilität für Alle

29.5.202, Manuela Kropp, manuela.kropp@rosalux.org

Die aktuelle Wirtschaftskrise bedroht Arbeitsplätze und Einkommen. Umso dringender stellt sich die Frage, wie essenzielle Güter der öffentliche Daseinsvorsorge bereitgestellt werden können – man könnte diese Güter „Freiheitsgüter“ nennen (siehe Diskussion PDS in den 90ern und Dieter Klein). Zugang zu Energie und Zugang zu Mobilität sind Freiheitsgüter, also soziale Grundrechte, die niemanden verwehrt werden sollten. Aber Millionen Menschen in der EU wird sowohl der Zugang zu Energie als auch der Zugang zu Mobilität verwehrt. In Deutschland wird bei vielen Energieversorgern der Strom bereits dann abgestellt, wenn jemand mit nur 100 Euro im Rückstand ist. Das Anstellen des Stroms kostet zusätzliche Gebühren, abgesehen von dem psychischen Stress, der durch solch eine schambesetzte Sanktion ausgelöst wird. 2018 wurde in Deutschland 344 000 Menschen der Strom abgedreht. In vielen europäischen Ländern ist die Situation sogar noch schlimmer. In der EU insgesamt sind seit 2008, also seit Beginn der Liberalisierung der Energiemärkte, die Strompreise im Schnitt um 3% pro Jahr gestiegen, die Gaspreise um 2% pro Jahr (Quelle: EPSU, Going Public, July 2016). Im Bereich Mobilität sieht es nicht viel besser aus: ein Einzelticket für eine einfache Fahrt kostet in städtischen Räumen gerne drei Euro (so viel, wie für die Ernährung eines Kindes pro Tag im Hartz-IV-Satz vorgesehen ist). In den ländlichen Räumen ist die Situation noch schlechter: das Angebot ist so ausgedünnt, dass die Menschen nicht aufs Auto verzichten können.

Die Covid19-Schutzmaßnahmen haben nun den Energiebedarf von Privathaushalten ansteigen lassen – und erfreulicherweise haben Spanien und Italien das Abdrehen des Stroms untersagt. Diese Maßnahmen müssen auch nach Abklingen der Corona-Krise in Kraft bleiben und auf andere Mitgliedstaaten ausgeweitet werden, denn der Zugang zu Energie ist ein Grundrecht! Eine bestimmte Menge an Strom und Wärme müssen kostenfrei für alle Menschen zur Verfügung gestellt werden.

Die Nahverkehrsunternehmen haben unterschiedlich auf die einbrechenden Fahrgastzahlen und damit einbrechenden Einnahmen reagiert – einige haben die Taktung der Fahrzeuge aufrechterhalten, um für die Fahrgäste möglichst den Sicherheitsabstand von 1,5 Meter garantieren zu können. Umso wichtiger ist es nun, dass Bund und Länder für die Kommunen einen Schutzschirm aufspannen, um das Angebot an Mobilitätsdienstleistungen auszubauen und für alle kostenfrei gestalten zu können. Denn auch der Zugang zu Mobilität ist ein Grundrecht!

Wir brauchen eine Garantie für die Versorgung mit Energie und Mobilität!

07

Wie können Zeit und Arbeit gerecht verteilt werden?

7.6.2020, Sabine Skubsch, Karlsruhe sabine.skubsch@viacanale.de

Die vielfältigen Belastungen von Frauen durch die Krise wurden bisher noch nicht angesprochen. Die meist unbezahlt und immer noch überwiegend von Frauen geleistete Sorgearbeit rückte durch die Krise in die öffentliche Wahrnehmung. Allerdings bleiben politische Konsequenzen aus, obwohl zahlreiche Medienbeiträge zeigen, wie Familien – und dort meist die Frauen – zwischen Homeoffice und der Betreuung von Kindern aufgerieben werden. Im Gegenteil drohen Frauen Jobverlust und Retraditionalisierung der Rollen. Es sieht so aus, als ob vor Allem die Frauen am unteren Ende der Reichtumsskala die großen Verliererinnen der Krise sein werden.

Für den Erhalt unseres Lebens ist die Sorgearbeit, die Versorgung von Kindern, Mitmenschen, Alten und Kranken, genauso wichtig wie die Produktion von Lebensmitteln und Konsumgütern. Die Krise zeigt, dass in einem eng um die Erwerbsarbeit getakteten Familienleben die zeitliche Reserve fehlt, wenn plötzlich Kitas und Schulen schließen. Offensichtlich wird, dass es ein Fehler ist, die Sorgearbeit geringer zu schätzen als die gewerbliche Produktion, weil allein dort Kapital und Reichtum akkumuliert wird.

Vor Kurzen wies eine Oxfamstudie darauf hin, dass die überwiegende gesellschaftlich anfallende Arbeit unbezahlt und mehrheitlich von Frauen verrichtet wird. Frauen verdienen deshalb wesentlich weniger in ihren bezahlten Jobs. In der Corona-Krise sind es vor allem Mütter, die sich um die Kinder kümmern. Für diejenigen, die ungesichert beschäftigt sind, wird es schwer sein in Arbeit zurückzufinden. Der Rückfall in alte Rollenverteilungen droht sich damit für viele zu verstetigen.

Die Verfügung über Zeit ist nicht nur in diesen Tagen ungleich verteilt. Wie können Zeit und Arbeit gerecht verteilt werden? Die überlebenswichtige Sorgearbeit darf nicht weiter einem Geschlecht zugeordnet werden, alle Menschen müssen sich an dieser Arbeit beteiligen. Ein Hebel dazu ist die Verkürzung der Erwerbsarbeitszeit. Die Diskussion in Gewerkschaften und in der Linken um eine neues „Normalarbeitsverhältnis“ von 20 bis 30 Stunden weist in die richtige Richtung. Auch der Ausbau der öffentlichen Pflege- und Erziehungsinfrastruktur trägt zu einer gerechteren Verteilung unbezahlter Sorgearbeit bei. Die Elternmonate für Väter müssen erhöht werden. In den „Frauenbranchen“ muss deutlich besser bezahlt werden. Außerdem müssen konjunkturelle Hilfsprogramme daraufhin überprüft werden, ob sie Frauen wie Männern gleichermaßen zugute kommen.

Abb. (PDF): Zeitsouveränität, https://2019.igbce.de/vanity/renderDownloadLink/106354/105296

08

Arbeitszeitsouveränität zählt

8.6.2020, bruno Rocker . Berlin info@b-rocker.de

Die seit Jahren betriebene renditebedingte Verschlankung des Gesundheitssystems sowie die Beschaffungsstrategien der Pharmaindustrie haben gefährliche Lücken entstehen lassen. Es bedarf nunmehr und zukünftig wieder des Aufbaus strategischer Reserven für die Notfallversorgung der Bevölkerung. Auch die Bundesregierung bestreitet dies nicht. Im jüngst verabschiedeten Konjunkturpaket finden sich die folgenden Punkte:

• Verstärkte Eigenproduktion für wichtige Medizinartikel, Aufbau einer nationalen Notfallreserve für künftige Pandemien.

• Milliardeninvestitionen in Krankenhäuser.

Die Beschäftigten im Dienstleistungssektor, die sogenannte einfachen Dienstleistungen u.a. in Transport/Logistik, Lebensmittelversorgung, Gebäudereinigung, Sicherheit und eben auch im Gesundheitssektor und in der Pflege verrichten, sind während der Pandemie in den Fokus der Öffentlichkeit geraten. Unübersehbar ist geworden, dass die Gesellschaft auf die störungsfreie Ausübung dieser Tätigkeiten angewiesen ist. Dieser Umstand sollte künftig für die betroffenen Beschäftigtengruppen und ihre Gewerkschaften bei der Aushandlung von Löhnen und Arbeitsbedingungen von Nutzen sein. Die Stellen müssen deutlich attraktiver ausgestaltet werden. Nur so ist denkbar, dass z. B. die dringend benötigten Pflegekräfte in Krankenhäusern sowie in Pflege- und Alterseinrichtungen auch gewonnen werden. Gehört zur Attraktivität dieser Stellen auch die allgemeine Verkürzung der Arbeitszeit mit vollem Lohnausgleich, gewissermaßen auch als Vorsorge und Schaffung von Arbeitszeitreserven für zukünftige Pandemien?

Da habe ich meine Zweifel. IG Metall Mitglieder zeigten in Umfragen vielmehr Interesse an mehr individueller Arbeitszeitsouveränität in unterschiedlichen Lebensphasen. Ein Kind ist geboren, ein Angehöriger braucht Pflege: Im Leben gibt es viele Dinge, die mehr Zeit in Anspruch nehmen, als Vollzeitbeschäftigte haben.

Inzwischen haben die Beschäftigten das Recht auf eine verkürzte Arbeitszeit für einen festgelegten Zeitraum, die sogenannte Brückenteilzeit. In einem tarifgebundenen Betrieb der Metallindustrie können sie zudem auf Wunsch temporär auch in die sogenannte „verkürzte Vollzeit“ (Reduzierung auf bis zu 28 Std.pro Woche) wechseln, auch mehrfach hintereinander und das auch in kleinen und mittleren Betrieben. Nach dem Tarifabschluss 2018 erhalten sie zudem ein „tarifliches Zusatzgeld“ was sich wahlweise auch in zusätzliche freie Tage umwandeln lässt. Nach den Erhebungen der IG Metall machen davon hauptsächlich Beschäftigte in Schichtarbeit Gebrauch. Zeitsouveränität bedeutet auch Emanzipation.