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ARCHIV

Nr.3/2020, S.30

Kalenderblätter

20. November – 1989 – Vereinte Nationen

01 Kinderrechte sind Menschenrechte

02 UN-Kinderrechtskonvention von 1989

03 Genfer Erklärung von 1922

04 BRD 1951: Züchtigung von Lehrlingen verboten!

01

„Das Kind vor jeder Form körperlicher und geistiger Gewaltanwendung (…) schützen“

Kinderrechte sind Menschenrechte

Die 1989 verabschiedete UNO Kinderrechtskonvention verpflichtet in Artikel 19 die Vertragsstaaten, „alle geeigneten Gesetzgebungs-, Verwaltungs-, Sozial- und Bildungsmaßnahmen (zu treffen), um das Kind vor jeder Form körperlicher und geistiger Gewaltanwendung (…) zu schützen, solange es sich in der Obhut der Eltern oder eines Elternteils, eines Vormunds oder anderen gesetzlichen Vertreters oder einer anderen Person befindet, die das Kind betreut.“

Christiane Schneider, Hamburg.

Zwar haben bis heute von den über 190 Staaten, die die Konvention ratifizierten, erst 59 die Prügelstrafe in der Kindererziehung tatsächlich verboten. Doch bis 1989 war die Prügelstrafe in gerade einmal vier Staaten verboten. Deshalb kann man bei aller gebotenen Vorsicht sagen, dass die UN-Kinderrechtskonvention das Ende einer Jahrtausende alten Ära einleitete, in der Züchtigung von Kindern und Jugendlichen als selbstverständliches Mittel der Erziehung galt.

Vom „Leben unter der Rute“ …

Aus der Antike sind zahlreiche Zeugnisse der unbeschränkten Gewalt des Vaters über seine Kinder und, eingeschränkt, des Lehrers über seine Schüler überliefert. Neben der großen Zahl von Befürwortern des Züchtigungsrechts gab es immer auch Kritiker, etwa Quintilian, ein römischer Lehrer der Rhetorik im 1. Jahrhundert. Er warb für ein „Klima gegenseitiger Achtung und Zuneigung“ zwischen Lehrer und Schüler, in dem „die Schüler gern und voller Elan zum Unterricht kommen“, und sprach sich nachdrücklich gegen die Züchtigung aus1. 1000 Jahre später mahnte Walther von der Vogelweide: „Niemand zwingt zum Guten, Kinder mit der Ruten“. Doch die Kritik blieb vereinzelt, auch weil die Kirchen Gewalt in der Erziehung legitimierten (und praktizierten). So blieb im Mittelalter in den – einer kleinen privilegierten Minderheit vorbehaltenen – Schulen die Prügelstrafe an der Tagesordnung. Damals wurde „unter der Rute leben“ zum Synonym für „in die Schule gehen“.

Das änderte sich mit der schrittweisen Einführung der Schulpflicht und der Entwicklung des mehrgliedrigen Schulwesens nicht grundlegend. Insbesondere die Volksschulen, deren Lehrpläne auf kulturtechnische Minimalstandards beschränkt waren, sollten den Kindern und zukünftigen Untertanen vor allem eines beibringen: Gehorsam und Gottesfurcht. Dieses Lernziel wurde ihnen buchstäblich eingebläut. Doch nahmen auch Bestrebungen zu, die Gewalt einzuhegen. So schreibt das 1794 erlassene Preußische Landrecht den Lehrern vor, dass „die Schulzucht“ niemals zur Gesundheitsschädigung der Kinder führen dürfe; wenn der Schullehrer mit geringeren Züchtigungen dem Kind nicht beikomme, müsse die Obrigkeit und der geistliche Schulvorsteher sowie die Eltern hinzugezogen werden, um „zweckmäßige Besserungsmittel (zu) verfügen“. Später wurden sog. Strafbücher eingeführt, in das die Lehrer die Sanktionen detailliert mit Name des Opfers, Zeit, Art und Begründung der Züchtigung eintragen und der Schulaufsicht vorlegen mussten, wohl um die „maßvolle“ und „zweckgerichtete“ Handhabung des Züchtigungsrechts zu kontrollieren und den (weit verbreiteten) sadistischen „Missbrauch“ einzuschränken. Im bekannten Hinkelhofer Schul-Strafbuch von 1912-1919 z.B. wurde für gut die Hälfte der Einträge „Unfleiß“ notiert, oft auch „Trotz“ – „Vergehen“, für die jeweils die Anzahl der Schläge mit dem Rohrstock festgelegt war.

Im Zuge der Hochindustrialisierung nach dem deutsch-französischen Krieg 1871 änderten sich die Anforderungen an die Industriearbeiter, an ihre Kenntnisse und an ihre Fähigkeit zu Kooperation und selbstständigem Handeln. In der Folge gerieten zunehmend auch die tradierten Erziehungsziele und -methoden unter Veränderungsdruck. Gleichzeitig etablierten sich neue Fachwissenschaften wie die moderne Medizin, Erziehungswissenschaft, Psychologie, Soziologie, die ein neues Verständnis des Kindes und des Kind-Seins vermittelten. Vor dem Hintergrund nahm die Kritik an der Züchtigung als maßgebliches Erziehungsmittel Aufschwung. International begann sich, angestoßen durch Reformbewegungen in England und Schweden, mit der allerdings unverbindlichen „Genfer Erklärung“ des Völkerbundes von 1924 die Auffassung durchzusetzen, dass Kinder eigene Rechte haben. Der Faschismus und der Zweite Weltkrieg jedoch warfen diese Bewegung erst einmal zurück.

Als Konsequenz aus dem Faschismus verbot die DDR 1949 die Züchtigung in Schulen. In der BRD nahm in den 1950er Jahren die Kritik auf Seiten der Eltern und aus der Wissenschaft stark zu. Mit Ausnahme von Bayern wurde die Prügelstrafe an Schulen in allen Bundesländern bis 1973 verboten, Bayern folgte erst 1983. Den Durchbruch an den Schulen hatte die 1968er-Bewegung gebracht. So verbot der Hamburger Senat aufgrund erregter öffentlicher Debatten die Prügelstrafe per Dienstanweisung zum 1.4.69. Die „Welt“ erinnert 40 Jahre später: „Er trug … dem Zeitgeist Rechnung, denn die 68er-Bewegung hatte sich der ,Demokratisierung‘ der Schulen verschrieben, und natürlich war die Prügelstrafe damit gänzlich unvereinbar.“ (2) Das galt aber eben nur für die Schulen.

… zum Recht auf gewaltfreie Erziehung

Bis zur vollständigen Abschaffung des Züchtigungsrechts in der Erziehung sollten noch fast drei Jahrzehnte vergehen. Es scheint, dass sich die Kritik der Prügelstrafe in der Kindererziehung zunächst vor allem auf die Einschränkung staatlicher Gewalt konzentriert hatte und das Recht der Kinder auf gewaltfreie Erziehung, also auch in der Familie, erst später stärker in den Fokus rückte.

Einen wichtigen Schritt voran brachte die von einer CDU/CSU/FDP-Koalition nach den tödlichen Schüssen an der Startbahn West 1987 eingesetzte „Gewaltkommission“. Sie sollte umfassend die Ursachen von Gewalt untersuchen und Vorschläge zu ihrer Eindämmung machen. Unter den 1990 vorgelegten, sehr unterschiedlichen Vorschlägen findet sich auch die Abschaffung des elterlichen Züchtigungsrechts. Der konkrete Vorschlag der Kommission für die Änderung des einschlägigen §1631 BGB lautete: „Kinder sind gewaltfrei zu erziehen. Die Anwendung physischer Gewalt und andere entwürdigende Erziehungsmaßahmen sind unzulässig.“ Im Deutschen Ärzteblatt Heft 44/1990 begründete ein Kommissionsmitglied den Vorschlag unter anderem auch mit repräsentativen Erhebungen in Schweden über die Auswirkung des Züchtigungsverbotes, die ergeben hätten, dass körperliche Züchtigungen nach dem Verbot um mehr als die Hälfte zurückgegangen seien.

Fast zehn Jahre sollte die erbitterte Auseinandersetzung von Befürwortern und Gegnern in der Öffentlichkeit und im juristischen Schrifttum toben. Erst im Jahr 2000 wird mit der Änderung des § 1631 (2) im Bürgerlichen Gesetzbuch das Recht auf gewaltfreie Erziehung eindeutig und definitiv rechtlich geregelt. Damit werden Kinder nicht mehr als Objekte von Erziehungsmaßnahmen betrachtet, sondern als Träger eigener Grundrechte anerkannt. Dieser Paradigmenwechsel wurde durch die UN-Kinderrechtskonvention maßgeblich beeinflusst.

02

UN-Kinderrechtskonvention von 1989

Kinderrechte sind Menschenrechte. Dieser Grundsatz sollte für alle Kinder auf der Welt gelten. Die Vereinten Nationen haben sich das zum Ziel gesetzt und die Rechte der Kinder in der Kinderrechtskonvention festgelegt. Dieses Übereinkommen über die Rechte des Kindes besteht aus 54 Artikeln, die Rechte von Kindern und Jugendlichen beinhalten. In der Kinderrechtskonvention sind u.a. folgende Kinderrechte festgelegt worden:

Keine Benachteiligung von Kindern Achtung des Privatlebens und der Würde der Kinder Mitbestimmungsrecht und freie Meinungsäußerung das Recht auf Informationen das Recht auf Bildung und Ausbildung das Recht auf Spiel, Erholung und Freizeit das Recht auf besonderen Schutz im Krieg und auf der Flucht das Recht auf Schutz vor Gewalt, Missbrauch und Ausbeutung das Recht auf Gesundheit das Recht auf Geborgenheit, Familie, elterliche Fürsorge und ein sicheres Zuhause das Recht auf besondere Fürsorge und Förderung bei einer Behinderung.3

Abb. (PDF): UN-Logo

03

Genfer Erklärung von 1922

Das Kind soll in der Lage sein, sich sowohl in materieller wie in geistiger Hinsicht in natürlicher Weise zu entwickeln Das hungernde Kind soll genährt werden; das kranke Kind soll gepflegt werden; das zurückgebliebene Kind soll ermuntert werden; das verirrte Kind soll auf den guten Weg geführt werden; das verwaiste und verlassene Kind soll aufgenommen und unterstützt werden Dem Kind soll in Zeiten der Not zuerst Hilfe zuteil werden Das Kind soll in die Lage versetzt werden, seinen Lebensunterhalt zu verdienen und soll gegen jede Ausbeutung geschützt werden Das Kind soll in dem Gedanken erzogen werden, seine besten Kräfte in den Dienst seiner

1 de.wikipedia.org/wiki/Quintilian 2 www.welt.de/wams_print/article3378885/Als-der-Rohrstock-aus-den-Schulen-verschwand.html. 3 www.kinderrechtskonvention.info/un-kinderrechtskonvention-365/ Zeichnung: de.wikipedia.org/wiki/K%C3%B6rperstrafe

04

BRD 1951: Züchtigung von Lehrlingen verboten!

Martin Fochler, München. Im Dezember 1951 beschloss der Bundestag, aus der Gewerbeordnung,1 § 127a, Satz 2, die Worte „Übermäßige und unanständige“ zu entfernen. So wurde aus einer bedingten Erlaubnis der Züchtigung ein unbedingtes Verbot. In der ersten Lesung am 18. September,2 die Debatte war auf 40 Minuten beschränkt worden, hatten vier Abgeordnete das Wort ergriffen:

Liesel Kipp-Kaule, (1906–1992), SPD, gelernte Näherin und im Geschäftsführenden Hauptvorstand der Gewerkschaft Textil-Bekleidung für Jugendfragen zuständig, sprach zur Begründung des Antrags: Es habe Gerichte gegeben, die „sehr erhebliche Ausschreitungen noch als zulässige Züchtigungen anerkannt“ hätten und führte dann, viel weiterreichender aus:

„… wir wünschen nicht, daß unser Nachwuchs an Facharbeitern heute mit erhobenem Zeigefinger und mit Züchtigungen herangebildet wird (…) wir sollten uns dem Fortschritt zuwenden und sollten auch den jungen Menschen, den wir für die Industrie, für das Handwerk, für die Wirtschaft schlechthin als Nachwuchs dringend benötigen, nach dem Grundsatz ausbilden: So frei wie möglich und so gebunden wie nötig! (Beifall bei der SPD.) Das letztere wird der Schaffung eines Gesetzes über das Jugendarbeitsschutzrecht vorbehalten bleiben.“

Dr. Etzel, Bamberg, BP, (scheiterte mehrfach mit Initiativen zur Wiedereinführung des Todesstrafe) öffnete der Prügel eine Hintertüre; er verband seine Zustimmung zu Änderung mit :

„… der Annahme …., daß auch dann, wenn dem Meister einmal die Hand ausrutscht, (…) der Staatsanwalt die Strafverfolgung wegen Geringfügigkeit ablehnt nach dem alten bewährten Grundsatz: Minima non curat praetor.“

(Um Kleinigkeiten kümmert der Richter sich nicht).

Josef Becker (1905-1996), Pirmasens, CDU, christlicher Gewerkschafter, gelernter Schuhmacher. Selbst Lehrling und Ausbilder gewesen, er halte Prügel in der Erziehung „nicht einmal in der Familie“ für angebracht, aber:

„Eine Ohrfeige zur rechten Zeit hat schon manchen wieder auf den richtigen Weg zurückgeführt.“

v. Thadden, DRP, (1921-1996), (er wird später die NPD gründen und repräsentieren), vom Nutzen der Prügel überzeugt:

„Als ich in der Sexta in die Oberschule kam, brachte uns unser Deutschlehrer die Rechtschreibung bei. Das ging folgendermaßen vor sich: Wir mussten aus einem Wörterbuch mit jedem dort im Alphabet stehenden Wort einen Satz bilden. Für jeden Fehler, den wir schrieben — gleichgültig, ob Junge oder Mädchen —, gab es sofort in der nächsten Stunde mit einem kurzen Stock einen hinten drauf, und für jeden fünften Fehler einen mit dem langen Stock. (Heiterkeit.) Ich kann wohl sagen, die Klasse, in der ich damals war, beherrschte die deutsche Rechtschreibung in der Quarta so, daß kaum noch Fehler vorkamen. (…) Ein Handwerksmeister, der nicht in der Lage ist, einem Lehrling gelegentlich eine runterzuhauen, wird bald resignieren. “

Obwohl das Recht auf Züchtigung aus dem Satz 2 des § 127a entfernt worden war, galt in den folgenden Jahrzehnten weiter: Kleinigkeiten! Ausnahmesituation! Das wirst Du Dir merken!

Der Satz 1 des 127a lautet ja weiterhin unverändert: Folgsamkeit und Treue, Fleiß und anständiges Betragen sind hier die Erziehungsziele, väterliche Zucht das Mittel. Die autoritär-patriarchale Organisation des Generationswechsels blieb also Norm.

Nun wuchs aber im Lauf des 20sten Jahrhunderts in Wirtschaft und Verwaltungen der Bedarf an, wie man damals sagte, „mitdenkenden“ Arbeitskräften. Züchtigung bewirkt vieles, schärft Regeln ein, gewöhnt Gehorsamsreflexe an, kann auch Tempo machen. Aber Urteilsvermögen entsteht auf diesem Wege definitiv nicht. Das Recht auf Züchtigung ist Herrenrecht. Widerworte sind verdächtig, Zurückschlagen ist Aufruhr. „Mitdenken“ bezeichnet einen Kommunikationstyp, der ein Minimum wechselseitiger Anerkennung voraussetzt und mit dem einseitigen Recht zu prügeln unvereinbar ist, Kollegialität wird zur Produktivkraft.

In der Elterngeneration stritt der Wunsch der Jugend, eine freiere Lebensbahn zu öffnen, mit autoritären Traditionen. Und bei der Jugend? Das formelle Verbot der Züchtigung von 1951 bot der Jugendrevolte der sechziger Jahre den Ansatzpunkt, um das System der Übergriffe auszuhebeln. Als am 27. Februar 1970 anlässlich der Freisprechungsfeier bei Siemens die Lehrlinge gegen entwürdigende, übergriffige Behandlung in Lehrlingsheimen und Lehrwerkstätten protestierten, reagierte die Öffentlichkeit, so Der Spiegel4, und Konkret5. Der Wind hatte sich gedreht.

dok: Gewerbeordnung, § 127 a (Satz 2) Uebermäßige und unanständige Züchtigungen sowie jede die Gesundheit des Lehrlinges gefährdende Behandlung sind verboten.

dok: Gewerbeordnung, § 127 a. (Satz 1) Der Lehrling ist der väterlichen Zucht des Lehrherrn unterworfen und dem Lehrherrn sowie demjenigen, welcher an Stelle des Lehrherrn die Ausbildung zu leiten hat, zur Folgsamkeit und Treue, zu Fleiß und anständigem Betragen verpflichtet.

Abb. (PDF): Abb.: Liesel Kipp-Kaule, Archiv der sozialen Demokratie (AdsD)

Anm. zu BRD 1951 usw.: 1 Reichs-Gesetzblatt Nr 47. S. 821, Gewerbeordnung für das Deutsche Reich. 26.7.1900, www.zaar.uni-muenchen.de/download/doku/historische_gesetze/mo-nr_18_gewerbeord.pdf 2 Bundestagsprotokoll v. 18.9.1951, S.6623-6665, dipbt.bundestag.de/doc/btp/01/01163.pdf 3 Knud Andresen, Gebremste Radikalisierung, Die IG Metall und ihre Jugend 1968 bis in die 1980er Jahre, S.180 (google Books) 4 Spiegel, Nr. 18, 22,5,1970, „Lehrzeit=Leerzeit“, https://interactive-data.spiegel.de/spiegel/print/index-1970-18.html 5 konkret, 18.10.1970, 12 f. nach: protest-muenchen.sub-bavaria.de/artikel/1869