Politische Berichte Nr. 4/2020 (PDF)03c
Aktuell aus Politik und Wirtschaft

Demokratie im Risiko

01 Pandemie bekämpfen – national oder international?

Martin Fochler, München, Alfred Küstler, Stuttgart

Covid-19 Ausfälle 2021: Unversicherbar

Die Wirtsfamilie des Bräurosl, in vierter Generation Betreiber dieses traditionsreichen Festzelts, hat die Bewerbung für das Oktoberfest 2021 zurückgezogen. Für das Ausfallrisiko finde man keine Versicherung und selbst könne man es wegen der hohen Vorleistungen nicht tragen. Versicherungen leben von der Fähigkeit, die Eintrittswahrscheinlichkeit eines Vorfalls (Risiko) zu berechnen und den Ersatz des Schadens durch Umlage auf die Versichertengemeinschaft zu gewährleisten. Das funktioniert nur, wenn einige Versicherte betroffen sind, andere aber nicht. „Oktoberfest 2021 nicht versicherbar“ ist mithin eine harsche Auskunft über die nahe Zukunft.

Eine andere Art der Risikoabschätzung war am ersten Augustwochenende in Berlin zu beobachten. Zweifel und leidenschaftliche Ablehnung der Hygienevorschriften werden nachweislich von Millionen Bundesbürgern geteilt. Die Entscheidung, die eigene Person einzusetzen in Sachen Covid-19, deutet an, dass zwischen der mit politischem Anspruch vertretenen Meinung und der individuell handlungsleitenden Risikoabschätzung Abgründe klaffen. Die Diskrepanz war so krass, dass Repräsentanten der Bewegung unbeirrt vom Augenschein mehrere Hunderttausend, ja mehr als eine Million Teilnehmer imaginierten.

Covid-19 hat sich festgesetzt

Die Infektionszahlen, die im weltweiten Informationsnetzwerk der Wissenschaften notiert werden, sagen überdeutlich, dass Covid-19 sich in der Reproduktion der Gesellschaft festgesetzt hat. Medizingeschichtlich nicht gänzlich haltlose Vermutungen, die Wärme, die frische Luft und das Licht des Sommers würden die Epidemie erlöschen oder wenigstens abflauen lassen, sind im Infektionsgeschehen des US-Sommers 2020 untergegangen, und dahin ist auch die Hoffnung, dass sich in der großen Zahl der vorhandenen Medikamente etwas zur möglichst umstandslosen Heilung der Infektion finden ließe.

Die Entwicklung eines neuen Medikamentes dauert, und die Entwicklung eines Impfstoffs dauert auch. Für das Jahr 2021 werden Hygienemaßnahmen das entscheidende Mittel zur Eindämmung bleiben.

Leider ist inzwischen sicher, dass die Infektion zwar überwiegend aber eben nicht nur durch Tröpfchen (relativ geringe Reichweite) übertragen wird, sondern auch über die viel kleineren Teile der Aura, die sich in gemeinsam über längere Zeit genutzten Räumen in der Atemluft bildet und neben der gegen Tröpfchen hilfreichen Maske extensive Belüftung nötig macht. So wird die kalte Jahreszeit zur Herausforderung.

Von Regeln und Entscheidungsgrundlagen

In unserer hoch arbeitsteiligen Gesellschaft sind die Sozialräume vernetzt. Schon eine kleine Familie hat Kontakte zu x-erlei Einrichtungen der Versorgung und teilt Verkehrsmittel und -wege mit Vielen. Das Netzwerk der Begegnungen überbrückt Wohnorte, Länder, Kontinente, von China in die Lombardei über Ischgl nach Island – kein Problem.

Die Sozialräume und ihre Verbindungswege sind geteilte Räume. Wo etwas geteilt werden muss, braucht es Regeln, auf die sich alle Betroffenen verlassen können. Als Beispiel mag die Ampelschaltung an der Straßenkreuzung herhalten. Solche Regeln müssen demokratisch ausgehandelt werden, sie müssen legitim entstehen und praktisch einleuchten, andernfalls wird der Durchsetzungsaufwand zu groß.

Nun greifen die Anti-Covid-Regeln tief in gesetzlich garantierte Handlungsräume ein, sie entstehen aber nicht im Gesetzgebungsverfahren, sondern werden in – gesetzlichen definierten, aber weiten – Entscheidungsspielräumen der Exekutive ausgetüftelt.

Außerdem ist das Infektionsgeschehen doppelt unanschaulich. Erstens löst die Infektion selbst (anders als etwa ein Autounfall) noch keine sinnliche Erfahrung aus. Zudem sorgt der Zeitabstand zwischen Infektion und Symptom dafür, dass Ursache und Wirkung kompliziert ermittelt werden müssen.

Für uns Einzelne hängen „die Regeln“ also in der Luft, sie sind von wissenschaftlichen Autoritäten und Verwaltungsfachleuten gestiftet und entziehen sich zunächst der individuellen Nachprüfung. Ob dafür oder dagegen, wir entscheiden uns unter Berufung auf und in gutem Glauben an wissenschaftliche, politische und technische Autoritäten.

Im Meinungskampf um Mehrheit und Geltung rückt dann die Sache in den Hintergrund, wichtig wird, die Glaubwürdigkeit der jeweiligen Quellen und Autoritäten zu erschüttern. Die Empfehlung der Aufklärung: Wage zu denken! fällt zurück auf die Frage: Und wem glaubst Du?

Zur Zivilisierung der Meinungs- und Willensbildung kann es nur kommen, wenn unbestreitbare Wirkungszusammenhänge vorliegen. So kann man heute wohl festhalten, dass es politisch falsch und moralisch verwerflich gewesen wäre, wenn die öffentliche Hand einfach der Pandemie ihren Lauf gelassen und abwartend gezählt hätte, wie viele umkommen.

Die Gefahren der Ermächtigung und der Kult des Befürchtens

Die politischen Gewalten waren gefordert, und wenn auch nicht klar war, ob und welche Quarantäne-Regeln gegen die Ausbreitung der Seuche wirken, war doch geschichtlich sichere Erfahrung, dass Quarantäneregeln gegen Seuchen helfen können. Die Wirksamkeit der einzelnen Vorschriften aber stellt sich nach Versuch und Irrtum heraus, der Einsatz wissenschaftlicher Methoden verkürzt das Verfahren, es bleibt aber ein Experimentieren der Verwaltung mit den Einzelnen, die dabei nur als statistische Menge in Betracht kommen. Gegenstand eines Experiments zu sein steht im extremen Gegensatz zum Wert der Selbstbestimmung. Würde das Verfahren zur allgemeinen Norm des Umgangs der politischen Gewalten mit den Individuen, stünde Allmacht gegen Ohnmacht. Das ist der reale Ausgangspunkt der umhergeisternden Befürchtungen.

Stichwort „Verhältnismäßigkeit“

Nach fünf, sechs Monaten Hygiene-Verordnungen lässt sich festhalten, dass im Rechtsraum der BRD rührige Verwaltungen sich bemühen, die Eingriffe minimal zu halten, hilfreich ist dabei die Kontrolle der Verhältnismäßigkeit durch die Verwaltungsgerichte. Die wütenden Verdächtigungen, die im Meinungskampf umlaufen, werden nicht durch konkretes Verwaltungshandeln ausgelöst, sondern durch eine Gefahrenlage. Sie kann in zivile Bahnen kommen, wenn und soweit die Beurteilung der einzelnen Maßnahmen vorankommen.

Durchgreifende Verwaltung zwecks Eindämmung der Pandemie konkurriert mit Rechten auf persönliche Entfaltung. Eine öffentliche Debatte, was zumutbar ist und was nicht, wird nur zum Ergebnis führen, wenn unbestreitbare Befunde auf dem Tisch liegen. Zum einen geht es dabei um die Kontrolle der Zweckdienlichkeit der Verwaltungsmaßnahmen. Zum anderen geht es aber auch darum, die Rechte der Einzelpersonen bzw. von Menschen in spezifischen Lebenslagen zu beachten. Die Medien, die Parteien, Gewerkschaften, Verbände können auf diesem Feld viel bewirken. Nützen könnte auch die Einrichtung von Ombudsstellen. Bisher ist im Umgang mit der Pandemie im Rechtsraum der BRD die Priorität der Menschenwürde gegeben. Es kann aber zu einer Verschiebung kommen.

Öffentliche Dienste in Quarantäne-Zeiten

Abstand, Masken und Händewaschen hört sich einfach genug an. Im Ablauf von Leistungsverwaltung – beispielsweise im öffentlichen Verkehr, aber noch mehr im Schul- und wahrscheinlich auch im Arbeitsalltag, führen solche Anordnungen zu Veränderungen. Im öffentlichen Dienst wurde das aus dem Kaiserreich stammende Berufsbild des mit Autorität ein- und durchgreifenden Beamten in den letzten Jahrzehnten aufgelockert, die Dienstleistung am Publikum schob sich in den Vordergrund. Was wird geschehen, wenn sachlich umstrittene, situativ nicht augenscheinlich notwendige Regeln z.B. gegenüber Kita-Kindern, von Lehrkräften gegenüber Schülern, vom Zugpersonal gegenüber Reisenden durchgesetzt werden müssen? Das bringt die Dienstleister in die Rolle von Vollzugsbeamten.

Was kann die kritische Öffentlichkeit tun?

Bis hierher diskutieren wir unter der Annahme, dass die in der BRD eingeführten Verfahren den Grundlevel der Covid-19-Erkrankungen so niedrig halten, dass die sozialen, wirtschaftlichen und kulturellen Prozesse in ihrer ganzen Breite zwar belastet und behindert, aber nicht stillgelegt werden. Aber die Ausbrüche in der Lebensmittelindustrie zeigen andere Möglichkeiten auf. Erst in den kommenden Wochen und Monaten wird sich herausstellen, wie und ob die Urlaubsmobilität das Infektionsrisiko beeinflusst. Vor den Problemen der Organisation des Bildungs- und Erziehungssektors sind alle bange.

Klar ist schon jetzt, dass es nicht die Hygieneregeln sind, die das gesellschaftliche Leben belasten. In Meinung und Verhalten der Leute sehen wir, dass das Infektionsrisiko gefürchtet wird. Es braucht keine Ausreisesperren, um etwa die Fluggesellschaften hart zu treffen. Tatsächlich ist es eher so, dass Maske & Abstand die Bewegung im öffentlichen Raum unter den gegebenen Umständen eher erleichtern als erschweren. Hier braucht sich bloß jeder selbst zu beobachten, wenn er öffentliche Verkehrsmittel nutzen und in Supermärkten einkaufen muss.

Zur kritischen Beurteilung der Hygieneverordnungen, die den Umgang mit der Pandemie 2020 und 2021 prägen werden, sollte eine Diskussion über die Zielvorgaben geführt werden. Was soll denn erreicht werden?

– Alle Erkrankten sollten nach dem Stand der Wissenschaft optimal behandelt werden (können).

– Punktuelle Infektionsherde sollten schnell erkannt und eingedämmt werden können. Das wird auch zu Veränderungen bei Arbeits- und Wohnverhältnissen führen müssen.

– Die Belastung der vielgestaltigen Arbeits- und Reproduktionsprozesse sollte nicht zu deren Untergang führen.

– Obwohl die Auseinandersetzung mit Erkrankungen lokal geführt werden muss, ist Abstimmung im Rahmen des Bundes, Europas und der Vereinten Nationen unerlässlich.

Solche Zielvorgaben sind kaum strittig. Das Problem der Ermächtigung der Verwaltung zum Ein- und Durchgreifen ist damit nicht aus der Welt. Die ungeheure Datenmasse, die durch die Beobachtung und Nachverfolgung entsteht, muss geschützt werden, eigentlich handelt es sich ja eher um etwas wie Patientendaten: die Sache ist anlässlich der Corona-App diskutiert wurden, für den sonstigen Datenwust aber eher nicht. Übergriffe sind vorgekommen.

Im Schulalltag darf das Bundesseuchengesetz nicht der Maßstab der Pädagogik werden. Vielleicht gibt es eine Chance, die Pandemie als Unterrichtsgegenstand zu behandeln.

Die Gefahren für die Achtung der Menschenwürde, für Freiheiten der Lebensgestaltung und für die politische Demokratie, die mit der Covid-19-Pandemie eingetreten sind, fordern die Öffentlichkeit. Eine Debatte der einzelnen Sachentscheidungen wird helfen: Im Kampf gegen die Ausbreitung der Pandemie Zeit gewinnen, bis Medikamente und Impfstoffe helfen. Im Kampf um Demokratie und gegen Übergriffe, weil die Verhältnismäßigkeit von Eingriffen diskutiert und nachdrücklich eingefordert werden kann.

Abb. (PDF): Coronavirus Neuinfektionen, ein beunruhigendes Bild

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Pandemie bekämpfen – national oder international?

Es gibt zahlreiche Beispiele, in denen nicht nur die üblichen Verdächtigen versuchten nach dem Motto „mein Land zuerst“ zu handeln: von der Blockade von Schutzmasken, die die Schweiz in China gekauft hatte, durch den deutschen Zoll bis hin zum Aufkauf von Impfstoffen, die noch gar nicht entwickelt sind. Auch bei den Grenzabschottungen kam es zu unschönen nationalistisch gefärbten Maßnahmen. Und dass die Trump-Regierung mitten in der Pandemie die Weltgesundheitsorganisation (WHO) mit Vorwürfen in Richtung China verlässt, gehört ebenfalls dahin.

Aber das ist nicht die Haupttendenz. Das liegt in der Sache selbst. Eine Pandemie ist im Gegensatz zu einer Epidemie eine viele Länder umfassende Verbreitung einer Infektionskrankheit. Eine nationale Abschottung dagegen hilft nicht. Selbst Nordkorea, das die Grenzen rigoros dicht gemacht hat, ist inzwischen von Fällen der Covid-19-Infektion betroffen. Es müssen also sehr viele Länder umfassende Maßnahmen getroffen werden, damit eine solche Pandemie zum Erlöschen kommt.

Zwar mag es auf den ersten Blick verlockend erscheinen, einen Impfstoff zunächst für die eigene Bevölkerung (oder sogar nur für den reicheren Teil) zu monopolisieren, aber die Erfahrungen aus der Vergangenheit zeigen, dass eine begrenzte Immunisierung nicht hilft, es muss ein hoher Prozentsatz der Bevölkerung sein. Und es ist bei der weltweiten Mobilität auch nötig, dass eine große Zahl von Ländern eine hohe Immunisierung erreicht.

Die internationale Organisation zur Koordinierung eines weltweiten Kampfes gegen Infektionskrankheiten ist die WHO, die auf diesem Gebiet durchaus Erfolge erzielt hat: Seit 1980 gelten die Pocken als ausgerottet. Die Kinderlähmung (Polio) soll in den nächsten Jahren folgen.

Die WHO steht aber immer in der Kritik: sie sei zu sehr mit den großen Pharmaunternehmen verbunden, und es lassen sich ja dafür stets Anzeichen finden, weil die Produktion einer großen Menge von Medikamenten oder Impfstoffen immer bei einer oder mehreren großen Firmen landet. So wurden bei der Vogelgrippe 2005 in vielen Ländern auf Empfehlung der WHO große Vorräte von Grippemitteln beschafft, die allerdings nicht benötigt wurden. Ein Geschäft vor allem für Novartis. Jetzt kam allerdings der umgekehrte Vorwurf: die WHO habe viel zu spät vor dem Covid-19 gewarnt, aus Rücksicht auf die chinesische Regierung. Die konkreten Entscheidungen sind also schwierig und mit Fehlern behaftet.

Was macht nun die WHO, damit die Covid-19-Pandemie zum Verschwinden kommt?

Die WHO hat eine Gruppe von Wissenschaftlern, Ärzten, Instituten und Firmen zusammengebracht, die sich an die Entwicklung von Impfstoffen machen. Derzeit sind rund 60 verschiedene Impfstoffe in der Entwicklung, die auf verschiedenen Verfahren beruhen. Die Beteiligten wollen ihre Ergebnisse austauschen und öffentlich zugänglich machen. Die von WHO koordinierten Impfstoffentwickler schätzen, dass frühestens im August 2021 ein Impfstoff zur Verfügung steht. Bis dahin, so die Gruppe in einem offenen Brief, sollen sich alle an die Maßnahmen zur Begrenzung der Übertragung des Virus halten, damit Zeit für die Impfstoffentwicklung gewonnen wird.

Die WHO hat im April eine internationale Kampagne gestartet mit dem Titel Access to Covid-19 Tools Accelerator. Sie soll dazu beitragen, dass Instrumente gegen Covid-19 schneller entwickelt und allen Ländern gerecht zur Verfügung gestellt werden. Die Finanzierung erfolgte auf einer Konferenz am 4. Mai mit insgesamt 40 Ländern, allerdings ohne die USA, Indien und Russland. Es ist wie immer bei den Vereinbarungen unter dem Dach der UN ein Kompromiss zwischen widerstrebenden Interessen: die Pharmaindustrie behält die Patentrechte, die Impfstoffe sollen aber wie globale öffentliche Güter zugänglich sein, und es gibt trotzdem die Tendenz zum Impfstoffnationalismus. Daher kann sich Kritik immer etwas aussuchen.

Quelle: Wikipedia, verschiedene Artikel zu covid-19