Politische Berichte Nr. 4/2020 (PDF)07
Aktuell aus Politik und Wirtschaft

Spanien: „Niemanden zurücklassen“ – „Sozialer Schutzschild“ gegen die Folgen der Covid-19-Krise

Claus Seitz, San Sebastián

Am 3. Juli hat Spanien als erstes der EU-Mitgliedsländer den Antrag auf 20 Milliarden Euro aus dem Programm SURE (Instrument zur vorübergehenden Unterstützung bei der Minderung von Arbeitslosigkeitsrisiken in Ausnahmesituationen) gestellt.

Zwischen April und Juni ist das spanische Bruttoinlandsprodukt im Vergleich zum Vorjahr um 22,1 % eingestürzt, was einem Wert von 300 Milliarden Euro entspricht. Dass Spanien im Vergleich mit den anderen großen europäischen Ländern wirtschaftlich deutlich stärker von der Pandemie getroffen wurde, hängt zusammen mit den drastischeren Maßnahmen, die zur Eindämmung des Virus ergriffen werden mussten und der starken Abhängigkeit vom Tourismus, der 12,3 % des spanischen BIP ausmacht. Man rechnet damit, dass 2020 weit über die Hälfte der Einnahmen aus dem Tourismus (2018 – 153 Milliarden Euro) wegfallen werden. 750 000 Arbeitsplätze seien dadurch gefährdet.

Während die Antworten auf die Finanzkrise 2008 die Rettung großer Firmen und kräftige Sozialkürzungen waren, breitete die linke Regierungskoalition dieses Jahr unter dem Motto „Niemanden zurücklassen“ einen „sozialen Schutzschild“ aus, bestehend aus Kurzarbeitergeld, einer Serie weiterer sozialer Schutzmaßnahmen und der Einführung eines existenzsicherndem Mindesteinkommens.

Im Gegensatz zur Krise 2008, mit lediglich einigen hundert Fällen Kurzarbeit wurden dieses Mal Kurzarbeit und Kurzarbeitergeld (in Höhe von 70 % des normalen Entgelts) flächendeckend angewandt. Ende April 2020 befanden sich mehr als 3,4 Millionen Arbeiter in Kurzarbeit. Mittlerweile sind 2,2 Millionen davon wieder in Beschäftigung zurückgekehrt. Ca. 180 000 davon haben ihren Job verloren. Noch läuft Kurzarbeit bis Ende September, eine Verlängerung ist wahrscheinlich.

Über eine Million Selbständige haben Unterstützungsanträge (z.B. Stundung von Steuern und Sozialabgaben) gestellt, 97 % davon seien bewilligt worden.

Dafür, für Kurzarbeit, für die Befreiung von Firmen von der Zahlung von Sozialabgaben während der Kurzarbeit und für Arbeitslosenunterstützung werden Ausgaben von ca. 25 Milliarden Euro erwartet.

Weitere soziale Schutzmaßnahmen, die von der Regierung ergriffen wurden: Stundungen bei der Zahlung von Immobilien- und sonstigen Krediten, Mieten und Energierechnungen. Mieten dürfen für insgesamt sechs Monate nicht erhöht werden. Bis Ende Oktober dürfen keine Zwangsräumungen von Wohnungen durchgeführt werden, wenn keine Alternativunterkunft vorhanden ist.

364 000 Anträge auf Stundung von Konsumentenkrediten sind bei der Regierung eingegangen.

Zum 1. Juni wurde ein existenzsicherndes Mindesteinkommen (vergleichbar Hartz IV) eingeführt, das Ingreso Minimo Vital (IMV). Eine alleinlebende, erwachsene Person soll danach 462 Euro erhalten, für jede weitere im Haushalt lebende Person soll sich das Mindesteinkommen um 139 Euro bis auf maximal 1050 Euro erhöhen. Alleinerziehende Familien sollen 100 Euro zusätzlich erhalten. Das IMV kann ab 23 Jahre (in Ausnahmefällen ab 18 Jahren) bis 65 Jahre beantragt werden. Man geht von 850 000 Haushalten aus (davon 16 % Alleinerziehende, zu 90 % Frauen) und 2,3 Millionen begünstigten Personen, davon 30 % Minderjährige. Bis zum 10. Juli sind 510 000 Anträge anerkannt worden.

Bis dato gab es nur auf Ebene der autonomen Regionen vergleichbare Zahlungen in sehr unterschiedlicher Höhe für insgesamt nur 300 000 Personen. Im Baskenland und Navarra wurden damit 71,2 % bzw. 66,7 % der von Armut gefährdeten Personen erreicht, im Madrid z.B. 10,5 %, in Kastilien-La Mancha nur 1,6 %, im spanischen Durchschnitt 7,6 %.

Mit 3 Milliarden Euro jährlichen Kosten für das existenzsichernde Mindesteinkommen wird gerechnet. In der ersten Phase sollen das Baskenland und Navarra das IMV selbst verwalten, danach weitere Regionen, die dies wünschen. Die autonomen Regionen werden aufgefordert, das IMV durch Zusatzzahlungen, entsprechend den jeweiligen regionalen Besonderheiten zu ergänzen.

Ein-Personen-Haushalte dürfen über ein Vermögen von 16.600 Euro verfügen, größere Haushalte über bis zu max. 40 000 Euro. Selbstbewohntes Wohneigentum wird nicht angerechnet.

Von vielen Seiten wird kritisiert, dass Immigranten ohne Residenzerlaubnis keinen Anspruch auf das IMV haben, solange sie nicht mindestens drei Jahre kontinuierlich in Spanien leben und einen Vollzeit-Arbeitsvertrag nachweisen können.

Der Uno-Berichterstatter für extreme Armut, Olivier De Schutter, wertet die Einführung des IMV als „Beispiel, wie Staaten die durch die Covid-19-Pandemie hervorgerufene Wirtschaftskrise für den Kampf gegen Armut und für die Verminderung der Ungleichheit nutzen können. Besonders verletzliche Personen, wie z.B. Migranten ohne Papiere, Wohnsitzlose, Personen mit nicht anerkannter Behinderung sollten aber nicht ausgeschlossen werden.“

Armut in Spanien

Die viertgrößte Wirtschaft der Eurozone sticht unter den EU-Mitgliedsländern durch seine erhöhte Armutsquoten hervor. 21,5 % der Bevölkerung sind armutsgefährdet, leben in relativer Armut, unterhalb der Armutsgrenze (60 % des Durchschnittseinkommens = 739 Euro bei einem Ein-Personen-Haushalt). 80,5 % davon haben die spanische Staatsangehörigkeit, 32,6 % davon haben Abitur oder höhere Studien.

9,2 % gelten als arm (weniger als 40 % des Durchschnittseinkommens = 493 Euro), das ist die sechsthöchste Quote in Europa.

Besonders alarmierend ist die hohe Quote von Armut unter Kindern, Alleinerziehenden und Arbeitern: 26,8 % der unter 18-jährigen Personen sind armutsgefährdet, was nur in Rumänien (32 %) übertroffen wird. 43 % der Alleinerziehenden leben in relativer Armut (nur höher in Malta mit 48,6 %) und 13 % der beschäftigten Arbeiter sind armutsgefährdet (dritthöchste Quote in Europa).

Abb. (PDF): Mit der Einführung des existenzsichernden Mindesteinkommens werden die spanischen Sozialausgaben (Gasto) auf fast 0,4 % des BIP erhöht und liegen damit nur noch knapp unter dem europäischen Durchschnitt (Promedio).