Politische Berichte Nr. 4/2020 (PDF)17
Gewerkschaften/Soziale Bewegungen

Arbeitszeiterfassung: Schon jetzt Pflicht der Arbeitgeber

Wolfgang Gehring, Gehrden

Mit seinem viel diskutierten Urteil vom 14. Mai 2019 (in der Rechtssache C 55/18) hat der Europäische Gerichtshof (EuGH) entschieden, dass die Mitgliedstaaten Arbeitgeber dazu verpflichten müssen, ein „objektives, verlässliches und zugängliches System zur Arbeitszeiterfassung“ einzurichten. Er urteilte, dass zukünftig die komplette Arbeitszeit vollständig erfasst und dokumentiert werden muss, also Beginn, Ende und Dauer. Bisher galt das nur für bestimmte, u.a. im Mindestlohngesetz genannte Branchen und die Arbeitszeit oberhalb von acht Stunden (§ 16 Arbeitszeitgesetz).

Viele meinten jedoch, das Urteil verpflichte zunächst den Gesetzgeber. Bevor dieser das deutsche Arbeitszeitgesetz nicht anpasst, existiere auch kein unmittelbarer Handlungsbedarf für die Arbeitgeber. Das Arbeitsgerichte Emden lieferte nun mit der erstinstanzlichen Entscheidung vom 20. Februar 2020 (Az: 2 CA 94/19) eine gegensätzliche Rechtsauffassung.

In dem zugrunde liegenden Fall ging es um eine Vergütungsklage eines Arbeitnehmers. Ein Bauhelfer klagte, er habe weniger Stunden vergütet bekommen als die tatsächlich gearbeiteten Stunden. Dazu verwies er auf seine privat geführten Stundenaufzeichnungen. Der Arbeitgeber hingegen legte ein Bautagebuch vor, aus dem sich ergeben sollte, dass der Kläger weniger als die behaupteten Stunden gearbeitet hätte.

Das Gericht gab der Klage des Arbeitnehmers statt. Während der Kläger der ihm obliegenden Darlegungslast nachgekommen sei, erweise sich der Vortrag der Beklagten nach Ansicht des Gerichts als unzureichend. Das Gericht sah in dem Bautagebuch kein „objektives, verlässliches und zugängliches System zur Erfassung der täglichen Arbeitszeit“ im Sinne der europäischen Arbeitszeitrichtlinie 2003/88/EG und damit auch im Sinne der Rechtsprechung des EuGH. Da diese Anforderungen nicht erfüllt waren, sei das Bautagebuch auch nicht als Erwiderung auf den Vortrag des Arbeitnehmers heranzuziehen.

Das Arbeitsgericht Emden befand, dass die Arbeitszeitrichtlinie nach der Rechtsprechung des EuGH im Lichte der Grundrechtscharta (insbesondere Art. 31 II GRCh) dahingehend auszulegen seien, als dass sich aus dieser die Pflicht des Arbeitgebers zur Einrichtung eines Systems zur Arbeitszeiterfassung entnehmen lasse. Hierzu sei eine Erfassung der täglichen Arbeitsstunden essenziell, sodass diese Pflicht den Arbeitgeber auch ohne gesetzliche Umsetzung der Richtlinie durch den Mitgliedsstaat treffe.

Die Arbeitgeberlobby macht seit Jahren Druck, um das Arbeitszeitgesetz zu einem Flexibilisierungsinstrument umzubauen. Die Arbeitgeber halten dessen Regelungen für zu starr und unflexibel. Sie trommeln für eine Flexibilisierung von Arbeitszeiten, die Aufhebung der täglichen Höchstarbeits- sowie Ruhezeitregelungen und ein „grundlegendes Update des Arbeitszeitgesetzes“ (BDA-Präsident Ingo Kramer).

Ihre Bemühungen blieben nicht ohne Erfolg. Im Koalitionsvertrag vereinbarten SPD und CDU/CSU, „über eine Tariföffnungsklausel im Arbeitszeitgesetz Experimentierräume für tarifgebundene Unternehmen“ zu schaffen, mit denen die Tarifpartner neue Formen der Flexibilisierung erproben können. Eine parlamentarische Umsetzung erfolgte bislang nicht. Im Schatten der Corona-Pandemie wurden bereits bestehende Schutzrechte eingeschränkt. Eine der ersten Maßnahmen der Regierung war der Erlass einer befristeten Covid-19-Arbeitszeitverordnung, die es erlaubte, für Beschäftigte in der kritischen Infrastruktur den Arbeitstag auf bis zu zwölf Stunden zu verlängern.

Das EuGH-Urteil bremste die maßgeblich von arbeitgeberseitigen Flexibilisierungswünschen vorangetriebene Debatte im Parlament vorerst aus. Arbeitsministerium und Wirtschaftsministerium gaben jeweils eigene Rechtsgutachten in Auftrag. Beide Gutachten kamen zu dem Schluss, dass das Arbeitszeitgesetz ergänzt werden muss. Allerdings geriet das durch die Corona-Krise ins Wanken. Die Arbeitgeber drohen mit Stellenabbau und fordern ein „Belastungsmoratorium“ für die Unternehmen. Südwestmetall-Hauptgeschäftsführer P.-M. Dick warnte Anfang Mai vor „weiteren gesetzlichen Regeln, die die Unternehmen einengen und belasten“ denn es sei absehbar, „dass es für lange Zeit keinen Spielraum mehr gibt für kostspielige soziale Wohltaten.“

Eine verbindliche Pflicht zur Arbeitszeiterfassung wäre ein großer Gewinn für den Arbeits- und Gesundheitsschutz von Beschäftigten und würde auch die Umgehung von Lohnuntergrenzen erschweren.