Politische Berichte Nr. 4/2020 (PDF)21
Rechte Provokationen – Demokratische Antworten

Angekommen in Europa

Vor fast einem Jahr haben die neunten Direktwahlen zum Europäischen Parlament (EP) stattgefunden. Mit viel Panik wurde im Vorfeld vor einem Durchmarsch der extremen Rechten gewarnt. Das bedrohlichste, wenn auch mehr herbei fantasierte Szenario war die Abschaffung der Europäischen Union durch eine sogenannte euroskeptische Mehrheit im EP. Weder gibt es diese Mehrheit, noch wurde die EU abgeschafft. Trotzdem kein Anlass zur Beruhigung.

von Jan Rettig

Zur Erinnerung der Situation: Die schwindelerregenden Ergebnisse waren für die meisten rechten Parteien erwartet worden. Für die italienische Lega allemal: Sie erhielt 29 Mandate, 2014 waren es noch 5. Sie wäre aktuell bei nationalen Wahlen mit Abstand die stärkste Kraft, Indiz genug, dass das Scheitern der Lega als Regierungspartei im Sommer 2019 ein Trug ist. Es wäre eine zynische, jedoch nicht völlig unrealistische Wiederholung der Geschichte, wenn es im Ursprungsland des Faschismus erneut die Drohung gäbe, von außen auf Rom zu marschieren. Etwas anders bei der Alternative für Deutschland (AfD): Sie blieb hinter ihren besten Prognosen zurück, lieferte mit 11 Prozent aber das beste EP-Wahlergebnis, das je eine deutsche extrem rechte Partei erzielte. Sie unterstreicht damit ihren Status als erfolgreichstes extrem rechtes Parteiprojekt in Deutschland seit der NSDAP. Und wieder anders bei der Freiheitlichen Partei Österreichs (FPÖ): Sie wurde nur geringfügig wegen der Ibiza-Affäre abgestraft, ihr korrumpierter Protagonist Heinz-Christian Strache sogar mit den meisten Direktstimmen für einen FPÖ-Kandidaten belohnt. Und so erschreckend wie unbemerkt in der Slowakei: Dort stach die neofaschistische Kotlebovci – Ľudová strana Naše Slovensko („Anhänger des Kotleba – Volkspartei Unsere Slowakei“) alle anderen nationalistischen Kräfte aus und verfügt nun über zwei fraktionslose Europaparlamentarier.

Alle(s) gegen die EU

Die Wahlkämpfe der extremen Rechten Europas waren EU-feindlich. Die ungarische Fidesz betrieb eine Verleumdungskampagne gegen den damaligen Präsidenten der Europäischen Kommission Jean-Claude Juncker. Die AfD wollte das Europäische Parlament abschaffen. Die Lega befand sich auf Konfrontationskurs mit der Kommission in Sachen Haushaltssouveränität. Die Prawo i Sprawiedliwość (PiS) polterte gegen die Einführung des Euros in Polen. Alle wollten und wollen ihre vermeintlich zu eingeschränkte nationale Souveränität zurück. Dabei galt weiten Teilen der extremen Rechten die Europäische Kommission geradezu als Inbegriff einer von den Nationen entkoppelten Bürokratie. Wie eng die Grenzen dieser Autonomie aber sind, zeigten zuletzt die Diskussionen um den mehrjährigen Finanzrahmen der EU. Der Konsens jedenfalls bestand im Rückbau der suprastaatlichen Institutionen und der Stärkung zwischenstaatlicher Organe, sprachlich mal als „Europa der Völker“, mal als ein quasi naturrechtmäßiges Subsidiaritätsprinzip verkleidet. Bei anderen Themen glichen sich die Positionen diverser rechtsextremer Parteien oft bis auf Wortebene. So etwa bei der Ablehnung von Immigration, der Leugnung oder mindestens Relativierung des Klimawandels bis hin zur Diffamierung familien- und geschlechterpolitischer Liberalisierungen als dekadente Abwege.

Als sich vor dem Hintergrund dieser Gemeinsamkeiten die rechtsextreme Identity and Democracy (ID) mit 73 Abgeordneten aus neun Parteien und Mitgliedsstaaten als fünftgrößte Fraktion des EP 9 konstituieren konnte, atmete das politische und mediale Europa auf. Ob diese Erleichterung berechtigt ist, wird sich noch zeigen müssen. Von der letzten Legislaturperiode musste immerhin ein Jahr verstreichen, bevor sich genügend Willige zur Gründung der Europe of Nations and Freedom (ENF) fanden und das Fraktionsquorum erfüllten. Nach dem Vollzug des Brexit wurden überdies die Karten im EP neu gemischt. Am 31. Januar 2020 verließen insgesamt 73 britische MdEP das Parlament, hauptsächlich die Ränge der Fraktionslosen, der Grünen, der Konservativen und Reformisten (EKR). Die ID hingegen verlor niemanden, gewann durch eine Neuverteilung der Sitze sogar drei Mandate hinzu und ist damit zur viertgrößten Fraktion avanciert.

Einigsein und Mitmachen

Auch vorher haben sie sich schon gut ins EP eingefunden. Vertreterinnen und Vertreter der ID sind in allen Ausschüssen und Delegationen vertreten, beteiligen sich rege bis hetzerisch an Plenumsdebatten, betreiben Lobbying und geben Pressekonferenzen, Business as usual, wie alle anderen auch. Nicht ganz, immerhin hielt der Cordon sanitaire der anderen Parlamentsfraktionen ihren Ambitionen auf parlamentsrelevante Posten stand. Das gilt nicht für die Fratelli d‘Italia, den spanischen Vox und das niederländische Forum voor Democratie, allesamt ebenfalls extrem rechte Parteien, die allerdings Teil der als gemäßigter geltenden Fraktion EKR sind.

Trotz dessen zeigt die ID einigen Eifer im parlamentarischen Alltagsgeschäft. So steckt sie einiges an Arbeit in Anfragen, ein für Parlamentsfraktionen zentrales demokratisches Informationsinstrument. Die Abgeordneten arbeiten sich in Themen ein und beteiligen sich in den Ausschüssen und Delegationen an Debatten und Abstimmungen. Sie sind Teil des parlamentarischen Modus operandi. Das heißt noch lange nicht, dass sie ihren politischen Auftrag vergäßen oder sich einfach unbewusst in Detailfragen verlören und auf diese Weise ihre menschenfeindlichen Anliegen quasi gleichsam durch das System und hinter ihrem Rücken domestiziert würden. Denn gerade durch ihre Teilhabe erhalten fast alle Themen, die prominenteren allemal, neben liberalen, konservativen, manchmal auch emanzipatorischen Deutungen nun durchweg auch eine rechtsextreme Interpretation. Exemplarisch kann man das an den choreographiert anmutenden Beiträgen in der Plenumsaussprache zum Mehrjährigen Finanzrahmen von Februar 2020 zeigen: Einführend argumentierte der ID-Vorsitzende Marco Zanni (Lega) gegen die Erhöhung der EU-Mittel noch diplomatisch und allgemein mit mehr Realismus und Pragmatismus einer soeben geschrumpften EU. Sein Stellvertreter Nicolas Bay (Rassemblement National, RN) hantierte daraufhin mit konkreteren Zahlen und rechnete vor, wie wenig in den letzten Jahren in die Grenzsicherung und wie viel in überflüssige Klimaschutzprojekte investiert worden sei. Harald Vilimsky (FPÖ) und Paolo Borchia (Lega) durften dann zur Auflockerung etwas polemisieren, der eine sein nettozahlendes Österreich beschützen, der andere die EU als Geldautomaten der Türkei darstellen und beide geißeln. Und während Ivan David (Svoboda a přímá demokracie, SPD) seinen Beitrag noch rhetorisch beendete und zurückhaltend fragte: „Wie lange dauert es, bis eine solche Politik den gerechten Zorn ihrer Bürger hervorruft?“, entschied sich Mara Bizzotto (Lega) gleich für die offensive Drohung, alles zu „(…) unternehmen, um die Dummheiten dieses Europas aufzuhalten“1.

Pack schlägt sich, Pack verträgt sich

Natürlich sind sich auch die ID-Mitglieder nicht in allem so einig wie in ihrer EU-Feindschaft. Allein diese ist schon brüchig. Während ihrer zugegebenermaßen kurzen Regierungsverantwortungen haben bei aller Konfrontation weder die FPÖ noch die Lega einen EU-Austritt vorangetrieben. Die Eesti Konservatiivne Rahvaerakond (EKRE) praktiziert dies in Estland ebenso wenig. Die meisten Partei- und Wahlprogramme der extremen Rechten formulieren einen Austritt, wenn überhaupt, sehr vorsichtig. Die ungarische Jobbik hat ihren vormaligen EU-Hass gar in Europhilie umgewandelt und betont nun die Möglichkeiten gemeinsamen Handelns in diversen Politikfeldern.

Auch bei den ID-Parteien lassen sich vereinzelte, scheinbar nicht abgesprochene, aber ebenso wenig kontroverse Positivbezüge auf die EU finden. Mehr Sprengpotenzial hat da die außenpolitische Orientierung. So anachronistisch es scheinen mag, aber wenn Jaak Madison (EKRE) begeistert von der Conservative Political Action Conference 2020 aus den USA berichtet und seine Sympathien für Donald Trump bekundet, freut das seine Fraktionspartnerinnen und -partner von AfD, FPÖ, Lega und RN sicher nicht. Die sind nämlich ideologisch, zum Teil auch praktisch-finanziell eher mit Russland bzw. der Regierungspartei Edinaya Rossiya verbunden. Eine weitere Differenz gibt es bei ökonomischen Vorstellungen. Deren Spektrum reicht allein innerhalb der ID vom strikten Neoliberalismus (FPÖ) bis zu einem staatsinterventionistischen Sozialprotektionismus (RN). Praktisch relevant zeigte sich das etwa in der Debatte um die Neuverschuldung des italienischen Haushaltes Anfang 2019. Die AfD bzw. ihre neokonservativen Volkswirtschaftler verteidigten selbstredend die europäisch vereinbarte Haushaltsdisziplin, ansonsten hielt man sich eher zurück, um die neue Fraktionspartnerin nicht zu verprellen. Diese, ebenso wie die außenpolitische Differenzlinie, wird umso mehr zum Tragen kommen, je mehr dieser Fraktionspartnerinnen und -partner sich in nationaler Regierungsverantwortung befinden und Realpolitik machen müssen.

An anderer Stelle zeigte sich auch schon Bereitschaft, über den eigenen Tellerrand zu denken. Als Maximilian Krah (AfD) in einer Plenumsaussprache Mitte Februar die entdemokratisierende Reform des polnischen Justizwesens verteidigte, leistete er einen unschätzbaren, wenngleich nur symbolischen Beitrag in der kollektiven Selbstbestätigung der extremen Rechten Europas. Der Beistand eines deutschen Rechten, selbst fundamentalistischer Katholik und also Bruder im Geiste der polnischen Regierungspartei PiS, wurde postwendend von polnischen Medien aufgegriffen und weiterverbreitet und damit auch innerpolnisch zur Legitimation der eigenen Politik dienstbar gemacht. Gleichzeitig schlug Krah damit auch eine Brücke, leistet überfraktionelle Schützenhilfe, denn die PiS ist im EP nicht Teil der ID-, sondern der EKR-Fraktion. Ideologisch steht der ID natürlich auch die ungarische Fidesz nahe. Der Wahlflirt von letztem Jahr ist zwar vorerst wieder kaltgestellt, aber der nach wie vor unentschiedene Mitgliedsstatus des Fidesz in der Europäischen Volkspartei hält gleichwohl noch Entwicklungspotential für die ID vor.

Es bleibt festzustellen: Die extreme Rechte ist im Europarlament angekommen. Dabei nutzt sie diese Arenen als Bühne, zeigt aber auch einen zunehmenden Gestaltungswillen und bringt sich in den parlamentarischen Alltag ein. Darin liegt eine gehörige Ambivalenz, denn ihre Fundamentalkritik am europäischen Prozedere steht ihrer Einbindung in demokratische Abläufe prinzipiell unversöhnlich gegenüber. Aber für die extreme Rechte ist diese schon immer nur eine taktische Frage gewesen. Die strategische Losung hatte Matteo Salvini kurz vor der EP-Wahl 2019 ausgegeben: „Wir wollen regieren“. Dafür werden, das hat die Geschichte gezeigt, auch schon mal parlamentarische Umwege in Kauf genommen. Im transnationalen Kontext der EU lernt die extreme Rechte dabei auch, ihre sich gegenseitig ausschließenden Nationalismen ebenso wie eine Vielzahl weiterer Widersprüche auszuhalten. Schon die ENF und ihre Europartei sind ohne größere innere Eklats ausgekommen und haben ein stabiles Fundament für die Fortführung und Erweiterung als ID gelegt. Gerade auch angesichts aktueller politischer Gelegenheiten (Migrationssituation, ökonomische Krise) scheinen die Bedingungen für ihr weiteres Gedeihen günstig. Das Aufatmen angesichts ihrer zunächst nicht erfüllten Ambitionen im Europäischen Parlament sowie einiger nationaler Dämpfer im Jahr 2019 könnte sich daher, wieder einmal, als verfrüht und trügerisch erweisen.

1 Vgl. Plenardebatten. Mittwoch, 12. Februar 2020 – Straßburg. In: Europäisches Parlament, 12.2.2020; https://www.europarl.europa.eu/doceo/document/CRE-9-2020-02-12-ITM-007_DE.html [Übersetzungen Verfasser].

Der Beitrag wurde aus der Zeitschrift Welttrends Nr. 163, Ausgabe Mai 2020, mit freundlicher Genehmigung des Autors und des Verlags übernommen.

Abb. (PDF): Tabelle. Europäisches Parlament: 2019 – 2024 / Konstituierende Sitzung / Verteilung der Fraktionen im Europäischen Parlament

Abb. (PDF): Christine Anderson wurde für die AfD ins Europaparlament gewählt. Sie ist Abgeordnete der Fraktion Identität und Demokratie. Die Fraktion gewann durch Neu-Verteilung der Sitze der ehemaligen britischen Abgeordneten hinzu und ist jetzt viertstärkste Fraktion im EU-Parlament.

www.christineanderson.eu

Abb. (PDF): Europawahl Mai 2019: Kundgebung für ein Europa ohne Faschsmus in Frankfurt am Main. (RSt)