Politische Berichte Nr. 4/2020 (PDF)29
Ankündigungen, Diskussion und Dokumentation

Thomas Piketty, Kapital und Ideologie –

Versuch einer Geschichte der sozialen Ungleichheit

Rezension: Rüdiger Lötzer, Berlin

Der 1971 geborene französische Sozialwissenschaftler Thomas Piketty ist bekennender Sozialdemokrat. Er tritt für einen „partizipativen Sozialismus“ ein, ein bisschen wie Schweden zurzeit Olaf Palmes. Entsprechend tief ist sein Groll über Fehler, die das „linke Lager“– und da macht er keinen Unterschied zwischen Sozialisten bzw. Sozialdemokraten, Grünen und Kommunisten in Europa und den Demokraten in den USA – in den vergangenen Jahrzehnten beim Kampf gegen soziale Ungleichheit gemacht hat. Wie dieser sozialen Spaltung entgegengetreten werden kann und auch die „unteren Klassen“ ein vielleicht nicht gutes, aber wenigstens besseres Leben erreichen können, ist sein zentrales Anliegen. Schon das macht sein Buch sympathisch.

Dabei ist sein neues Werk im Grunde eine Sammlung mehrerer Bücher, stark komprimiert auf 1300 Seiten. Das macht das Lesen manchmal etwas schwierig. Piketty arbeitet zudem viel mit Schaubildern. Schaubilder zum Anstieg der Lebenserwartung und zum Rückgang des Analphabetentums im Zeitraum 1820 bis 2018 weltweit, zum Anstieg der Einkommensungleichheit in Indien, China, Russland, den USA und Europa von 1980 bis 2018 machen den Auftakt. Viele weitere zum Anstieg sozialer Ungleichheit in zahlreichen Ländern folgen. Auch über das Wählerverhalten nach Einkommensgruppen in den USA und in Europa in den letzten Jahrzehnten bis zur Wahl Donald Trumps bis zu dem Brexit-Votum in Großbritannien enthält das Buch spannende Details. Denn auch das treibt Piketty um: Er will nicht nur die Sozialgeschichte vieler Länder analysieren. Er will auch darlegen, wann, wie und warum sich diese Gesellschaften wandelten, welche ökonomischen, politischen, kulturellen und ideologischen Entwicklungen dabei zusammentrafen und zu neuen Entwicklungspfaden führten.

In vier großen Abschnitten versucht der Autor, seine Themen abzuhandeln. Im 1. Teil „Ungleichheiten in der Geschichte“ analysiert und beschreibt er die dreigliedrigen Gesellschaften (Adel, Kirche, arbeitende Klassen), insbesondere die europäischen Ständegesellschaften ab etwa 1500. Es folgen Studien zum Übergang zu „Eigentümergesellschaften“ in Frankreich, Spanien und Großbritannien, zur Entwicklung der sozialen Milieus in Frankreich nach der Revolution von 1789 bis zur sog. „Belle Epoque“ 1880 bis 1914, zur Schreckenszeit des „Black Act“ in Großbritannien, einem Gesetz, mit dem der britische Hochadel seit 1723 mehr als ein Jahrhundert lang Holzdiebe und Wilderer mit dem Tode bedrohte, zum langen Kampf gegen das britische Zensuswahlrecht im 19. Jahrhundert und zur Geschichte des schwedischen Zensuswahlrechts von 1862 bis 1909.

In Teil 2 folgen die „Sklavenhalter- und Kolonialgesellschaften“. Piketty befasst sich weniger mit der Arbeitsteilung und der „unsichtbaren Hand des Marktes“ von Adam Smith, mehr mit den dunklen Seiten des frühen Kapitalismus – Sklaverei, Sklavenhandel, die Gräuel des Kolonialismus. Wir erfahren von den Grausamkeiten des Sklavenhandels und wie sich 1833 mit dem „Slavery Abolition Act“ knapp 4 000 große englische Sklavenhalter für den Verlust ihrer Geschäftsquelle mit 20 Millionen Pfund Sterling entschädigen ließen. Das entsprach damals 5% des britischen Nationaleinkommens, ein enormer Betrag, der an die ohnehin schon reichen Sklavenhalter floss, finanziert durch eine Staatsanleihe, für die am Ende wegen des britischen Steuersystems vor allem Haushalte mit kleinen und mittleren Einkommen aufkommen mussten. Ähnlich schamlos die Bereicherung französischer Sklavenhalter. Die Bevölkerung Haitis zahlte für die Befreiung aus der Sklaverei bis weit ins 20. Jahrhundert hinein gigantische Entschädigungen an französische Banken und den französischen Staat. Akribisch und detailliert schildert Piketty auch die Geschichte extremer Ungleichheiten in den USA, im von den Niederländern ausgeplünderten Indonesien, in Brasilien, wo erst 1989 erstmals alle Analphabeten an Wahlen teilnehmen durften, und warum es bis 1946 dauerte, bis eine französische Regierung die Konvention der ILO zum Verbot von Zwangsarbeit ratifizierte. Bis dahin war Zwangsarbeit in französischen Kolonien verbreitet.

Unter Bezug auf Edward Saids Studien zum „Orientalismus“ und John Rawls „Theorie der Gerechtigkeit als Fairness“ analysiert Piketty die Vertiefung des Kastenwesens in Indien unter der britischen Kolonialherrschaft ebenso wie die Versuche, diese Ungleichheit nach der Befreiung abzubauen, bis zum Regierungsantritt der extremistischen Hindu-Partei BJP heute, die diese Ungleichheit wieder zugunsten der oberen Kasten vertieft. Es folgen Studien zur sozialen Ungleichheit und Entwicklung in Japan, China und im Mullah-Regime im Iran.

In Teil 3 („Die große Transformation im 20. Jahrhundert“) und Teil 4 („Neues Nachdenken über die Dimensionen des politischen Konflikts“) versucht Piketty, unter Bezug auf Hannah Ahrendts Werk „Elemente und Ursprünge totaler Herrschaft“ „die Gründe für die Selbstzerstörung der europäischen Gesellschaften nachzuvollziehen“ (S. 603). „Für Hannah Ahrendt war es die Hauptschwäche der europäischen Sozialdemokraten in der Zwischenkriegszeit, die Notwendigkeit, den Nationalstaat zu überwinden, nicht wirklich aufgenommen zu haben“, lautet sein Vorwurf (ebenda). Es folgen Analysen des sozialen Absturzes der unteren Klassen in den USA seit 1980, zur EU-Osterweiterung, zur Entwicklung von Oligarchien und Kleptokratien in Russland, China und anderswo. Immer wieder beschreibt Piketty die infame Bereicherung der obersten Spitzen dieser Gesellschaften, insbesondere durch das Steuerrecht. Er plädiert eindringlich für eine progressive Einkommens- und Vermögensbesteuerung und widerlegt mehrfach die bis heute verbreitete Legende, Steuersenkungen würden zu mehr wirtschaftlichem Wachstum führen. Nichts dergleichen stimmt. Es ging immer nur um noch mehr Reichtum für die ohnehin Reichsten.

Hier findet sich auch eine der spannendsten Thesen Pikettys. Anhand von Wahlanalysen aus den USA und EU-Ländern weist er nach, dass sich Parteien, die sich selbst eher links verorten – die US-Demokraten, in Europa Sozialdemokraten, Sozialisten, Kommunisten und Grüne – in den letzten Jahrzehnten Stück für Stück von Arbeiterparteien zu Akademikerparteien entwickelt haben. Eine „brahmanische Linke“ und eine „kaufmännische Rechte“ haben sich, so seine These, in den USA und in Europa in den Jahren seit 1960/70 sukzessive in der Regierung abgewechselt. Beide stützen sich heute fast nur noch auf akademische Wählermilieus, während sich die unteren Klassen zunehmend aus der Politik zurückzogen. Mit Ausnahmen: Farbige und Mexikaner in den USA wählen auch heute noch Demokraten, migrantische Milieus in Frankreich weiter linke Parteien als „Schutzmacht“. Andere Teile der unteren Klassen dagegen werden in den letzten Jahren zunehmend Adressat „identitärer“ Angebote von rechts, die mit Nationalismus, Abschottung und Fremdenfeindlichkeit auf Stimmenfang gehen. Wie diese Entwicklung gestoppt und umgedreht werden kann, bewegt Piketty stark.

„Lesen wir also dieses Buch zu Ende und krempeln wir die Ärmel hoch. Thomas Piketty führt uns vor Augen, dass es an uns ist, Geschichte zu schreiben“, wird Esther Duflo, die Nobelpreisträgerin für Ökonomie, auf dem Klappentext zitiert. Pikettys Buch ist in der Tat nicht nur anregende Lektüre. Es ist auch eine Ermunterung zum politischen Handeln.

Thomas Piketty, Kapital und Ideologie, 1.312 Seiten, C.H. Beck Verlag, 2020, 39,95 Euro.