Politische Berichte Nr. 4/2020 (PDF)32
Ankündigungen, Diskussion und Dokumentation

Rezension: Klaus-Jürgen Bremm:

„70/71 – Preußens Triumph über Frankreich und die Folgen“

Hardy Vollmer, Freiburg

Am 19. Juli 2020 jährte sich zum 150sten Mal der Beginn des deutsch-französischen Krieges von 1870/71. Der Militärhistoriker und Oberstleutnant d.R. Bremm stellt in seinem Buch, das anlässlich dieses Jahrestages erschienen ist, als Ergebnis dieses Kriegs fest: „1870 war das Jahr, in dem die Grande Nation, die den europäischen Kontinent seit dem Ende des Dreißigjährigen Krieges mit ihrer verfeinerten Kultur befruchtet und zuletzt mit ihren revolutionären Ideen terrorisiert hat, unwiderruflich in die zweite Reihe der Mächte Europas treten musste“ (S. 8), und schlägt dann folgend den Bogen bis in unsere Zeit weiter: „Frankreich siegte noch einmal im Ersten Weltkrieg, dem Grande Guerre über Deutschland, aber nur mit Hilfe der halben Welt. Im nächsten Krieg siegte es dann gar nicht mehr. Seine Aufnahme in den Kreis der Siegermächte von 1945 war bereits eine politische Farce, …kein geschenkter Platz im Weltsicherheitsrat und nicht einmal seine Nuklearbewaffnung haben an der seit 1871 besiegelten Zweitrangigkeit Frankreichs etwas zu ändern vermocht.“ (S. 10) Ganz anders aber Deutschland: „Dagegen haben selbst zwei verlorene Weltkriege, vier Dekaden der Teilung und zuletzt sogar François Mitterrands fatale Initiative zur Abschaffung der Deutschen Mark den ersten Rang Berlins in Europa bis heute nicht dauerhaft in Frage stellen können.“ (S. 10)

Wunderwaffe Bismarck?

Wir stellen nach diesem Zitat fest: 1. Wer die Welt mit revolutionären Ideen „terrorisiert“, hat kein Recht in der Weltpolitik die erste Geige zu spielen, dafür sorgte der Sieg Deutschlands über Frankreich 70/71 und 2. egal, was das Deutsche Reich, das als Ergebnis dieses Sieges entstand, in der Folge auch an Elend über die Welt brachte, hat es heute noch das Recht im ersten Rang zu sitzen. Und die Entstehung dieses deutschen Reiches haben wir nach Bremm nur einem Mann zu verdanken: Bismarck. Ihm gelang es durch gezielte Provokationen, dass Napoleons III den Krieg gegen die preußische Monarchie erklärte. Bismarck als Kanzler des Norddeutschen Bundes, der von der preußischen Monarchie beherrscht wurde, wusste natürlich, dass die französischen Truppen nicht gegen den Norddeutschen Bund ziehen können, sondern zunächst den Angriff gegen die süddeutschen Staaten richten würden. Diese wären dann gezwungen, zusammen mit dem schon hochgerüsteten preußisch dominierten Norddeutschen Bund zu kooperieren und eine gemeinsame Streitmacht aufzustellen. Mit dem Sieg über Frankreich und dem Ausrufen des Deutschen Reichs in Versailles gelang ihm dann der Doppelerfolg, Frankreich zu demütigen und aus der Phalanx der herrschenden europäischen Mächte auszuschalten und die süddeutschen Staaten in ein Deutsches Reich zu zwingen, die sich vor dem Krieg noch durchaus kritisch zu einem Deutsche Reich stellten. Diese Reichsgründung war nach Bremm aber nötig. Im Kapitel mit dem bezeichneten Titel: „Bismarcks Reichsgründung – Ein europäischer Glücksfall“ heißt es: „In dem seit 1890 zur Weltpolitik mutierten Spiel der Diplomaten, Militärs und Geschäftsleute wäre jedenfalls der alte Deutsche Bund, hätte er tatsächlich über 1866 hinaus fortbestanden, nur noch ein wehrloser Spielball der neuen Supermächte gewesen.“ (S. 287) Nicht Spielball sollte Deutschland sein, sondern selbst als Supermacht agieren.

Volk in Waffen

Aber um Supermacht zu sein, braucht man Soldaten und Waffen. Der Sieg über Frankreich zeigte, dass die beteiligten deutschen Heere mächtig aufgerüstet hatten. Waren bis zum Krieg 1866 die Kanonen aus Bronze und das Geschoss eine Vollkugel, so wurden im Krieg 70/71 auf deutscher Seite nun Gussstahl mit gezogenem Rohr eingesetzt. Das erhöhte die Reichweite der Geschosse, die zudem mit Perkussionszündern ausgestattet wurden, die sich bei dem Aufschlag in bis zu 40 Splittern zerlegten und bei den Soldaten entsetzliche Verletzungen verursachten. Überhaupt wurde mit diesem Krieg das Massakrieren ein fortgesetztes Element der deutschen Kriegsführung, und das nicht nur unter den Soldaten, sondern auch unter der Zivilbevölkerung. „Der Druck der leidenden Bevölkerung, so begründete man von deutscher Seite das zynische Vorgehen, sollte den französischen Befehlshaber zu einer vorzeitigen Aufgabe zwingen.“ (S. 183) Gerade die Behandlung der Zivilbevölkerung, die auf Partisanenart, Franktireurs genannt, gegen die deutschen Truppen kämpften, liefert die Blaupause für die Vernichtungsaktionen gegen die Partisanen durch die deutschen Truppen im Zweiten Weltkrieg. „Das sofortige Erschießen von Heckenschützen sowie das Anzünden von Häusern und Ortschaften, aus denen Widerstand geleistet worden war, entwickelt sich rasch zu deutschen Standardrepressalien.“ (S. 219)

Die Entwicklung der Waffentechnik, das Einbeziehen der Zivilbevölkerung in den Vernichtungskrieg und das Schaffen von Millionenheeren, die einen totalen Krieg ermöglichten, wurden nun in den Jahren nach dem Krieg 70/71, ein Entwicklungsmodell für alle europäischen Staaten. Die Folgen waren absehbar, der große Krieg nur eine Frage der Zeit.

Sozialistengesetz und Festungshaft

Gegen den Versuch, das Deutsche Reich und letztlich alle führenden europäischen Staaten in einen Kasernenhof zu verwandeln, rührte sich der Widerstand durch die europäische Arbeiterbewegung. Mit dem Sozialistengesetz (1878–1890) sollte deren Wirken im Deutschen Reich verhindert werden. Ein Teil der Begründung für die Verbote war ausdrücklich auf das Verhalten der deutschen Sozialdemokratie gemünzt, die im Krieg 70/71 für einen ehrenvollen Frieden mit Frankreich kämpfte. Bebel und Liebknecht wurden schon 1872 für ihre Unterstützung der Pariser Kommune zu Festungshaft verurteilt. Pariser Kommune und Arbeiterbewegung findet man bei Bremm nur marginal. Demonstrationen werden immer vom „aufgehetzten Mob“ organisiert und Marx und Engels werden als „Die ewigen Besserwisser“ (S. 278) tituliert. Kaum gibt es Hinweise auf die Politik der Internationalen Arbeiterassoziation, die Arbeiterklassen Deutschlands und Frankreichs zu solidarischen Friedensaktionen zu mobilisieren, und die ausführliche Artikelreihe von Engels zum deutsch-französischen Krieg wird nur an einer Stelle erwähnt.

Das Nichtbeachten der europäischen Arbeiterbewegung als immer stärker werdendes Korrektiv gegenüber dem aggressiv auftretenden Kasernenhofkapitalismus des Deutschen Reiches und der übrigen europäischen Staaten erweist sich als großes Manko in Bremms Buch. Dass er dazu heute noch diese bismarcksche Reichsgründung einen „europäischen Glücksfall“ nennt, macht die Lektüre doch erheblich unappetitlich.

Abb. (PDF): Cover, Klaus-Jürgen Bremm: 70/71 – Preußens Triumph über Frankreich und die Folgen, wbgTheiss, 335 Seiten, 19,99€