Politische Berichte Nr. 5/2020 (PDF)06
Aktuell aus Politik und Wirtschaft

Blick auf das Reallabor Italien – hart umkämpfte Nutzung der EU-Fonds

Paola Giaculli, Berlin

In Italien wie in anderen Ländern herrscht wieder große Sorge über das erneut schnelle Verbreiten des Corona-Virus. Das könnte zu neuen großen Beschränkungen des öffentlichen Lebens und der Wirtschaft führen. Ein neues Dekret soll Massenversammlungen und Feiern verbieten und Sperrstunden für Bars und Restaurants einführen. Die Menschen haben auch in Italien die Exekutive unterstützt und sich im Grunde an die aufgezwungenen harten Regeln des zwei Monate langen Lockdown gehalten. Die Auflagen sind weiterhin hoch, aber die Gefahr lauert auch hier bei großen Zusammenkünften und Feiern. Jetzt gilt Maskenpflicht in ganz Italien auch im Freien.

Krrise der Fünf-Sterne

Die zentrale Regierung der Fünf-Sterne und der Sozialdemokraten (PD) kann im Grunde eine positive Bilanz aus den Regional- und Kommunalwahlen vom 20. und 21. September ziehen. In der Toskana, Apulien und Kampanien wurden die Mitte-Links-Regierungen (ohne Fünf-Sterne) wiedergewählt. Die populistische Lega ist geschwächt worden, aber sie verlor an die rechte Partei der Fratelli d’Italia (FdI). Salvinis Führung wird in der Partei zu Gunsten eines „gemäßigteren“ Kurses infrage gestellt.

Andererseits herrscht große Ungewissheit über den Kurs der früher stärksten Partei Fünf-Sterne (mit 32,7 bei der Parlamentswahl von 2018), die auch diesmal heftige Verluste erlitt und in eine tiefe Identitätskrise gestürzt ist. Die Führung ist vakant und die politische Linie ein Rätsel. In zweieinhalb Jahren hat sie fast die Hälfte ihrer Stimmen verloren und ist von Lega (bei 23 bis 24 Prozent noch stärkste Partei), PD (19–20 Prozent) und, in einer letzten Umfrage selbst von FdI (bei 16 Prozent) überholt worden. Ein Teil ihrer Wählerschaft ist zum rechten Lager übergelaufen, während sich viele der linksorientierten Wähler_innen entweder enthielten oder insbesondere diesmal die PD wählten, um die Lega zu verhindern. Gegen eine Empfehlung, lokale Bündnisse mit der PD zu schmieden, wehrten sich viele der Fünf-Sterne vor Ort. Die Bilanz ist hier differenziert. In Ligurien verlor der gemeinsame Kandidat gegen Mitte-Rechts, und dieses Bündnis kann die Region weiter regieren. Auf kommunaler Ebene wurde der Fünf-Sterne-Kandidat zum Beispiel im südlichen Matera, der auch von linken Listen unterstützt wurde, mit 67 Prozent gewählt.

Die Krise der Fünf-Sterne könnte ein ernster Instabilitätsfaktor für die Regierung werden, die außerdem die innere Kritik von der PD-Abpaltung Italia Viva, die Formation Renzis, aushalten muss. Die ernüchternden Wahlergebnisse dürften aber Renzis Ambitionen gedämpft haben, denn selbst in seiner Heimat Toskana erreichte Italia Viva nur 4,5 Prozent. Allerdings in einer weiter wegen Corona ungewissen Lage scheint es eher wahrscheinlich, dass die Regierung bis zum Ende der Legislaturperiode im Amt bleibt.

Trotz Wahlmisserfolg trösteten sich die Fünf-Sterne offiziell mit dem Ergebnis eines Referendums, demzufolge die Zahl der Abgeordneten um ein Drittel reduziert wurde (ca. 70 Prozent Ja). Der von den Fünf-Sternen initiierten Reform hatte die PD wegen des Koalitionspaktes im Parlament zugestimmt. Dabei wurde versprochen, ein neues Wahlgesetz zu verabschieden, um die negativen Auswirkungen der Reform auf die Repräsentativität zu korrigieren. Dies steht noch aus. Sowohl das Referendum als auch die für den Frühling geplanten Regionalwahlen in sieben Regionen waren wegen der Corona-Pandemie verschoben worden.

Wie auch auf globaler Ebene ist dies die größte Ungewissheit für das Land, das von Anfang an für eine gemeinsame Lösung bzw. Schuldenaufnahme in Europa zur Bekämpfung der Corona-Pandemie und deren Auswirkungen vehement plädiert hat. Obwohl die beschlossenen Aufbaufonds (750 Milliarden Euro) für Zuschüsse und Kredite aufgrund des Widerstandes der „geizigen“ Vier (Niederlande, Österreich, Dänemark und Schweden) nur 390 Milliarden Euro (statt der vorgeschlagenen 500) an Zuschüssen vorsieht, stellte Ministerpräsident Giuseppe Conte die Beschlüsse des Juli-Sondergipfels des Europäischen Rates als einen Erfolg für Italien dar. Da sei verhindert worden, hieß es, dass die Mitgliedsstaaten ein Veto gegen die nationalen Aufbaupläne einlegen können, die unter Beachtung bestimmter Ziele vorzulegen sind, um die Hilfsmaßnahmen abzurufen. Die Bereitstellung dieser Hilfen, die äußerst notwendig für die durch die Pandemie besonders betroffenen Länder wie Italien sind, zieht sich. Dazu braucht es die Zustimmung des Europaparlaments über den mit den Aufbaufonds verknüpften mehrjährigen Finanzrahmen, und die Ratifizierung der nationalen Parlamente. Italien hat die deutsche EU-Ratspräsidentschaft bzw. Frau Merkel aufgefordert, bei den Verhandlungen mit dem Europaparlament zu vermitteln, das u.a. eine Aufstockung der gekürzten Programme und einen effektiven Schutz gegen Rechtstaatsverletzungen fordert. Das Ringen hält weiter an (Stand 10. Oktober).

Inzwischen bereitet die italienische Regierung ihre Aufbaupläne vor. Vom EU-Paket SURE sollen 27,4 Milliarden ab dem 15. Oktober Ausgaben für Kurzarbeitergelder ausgleichen. Ungewiss ist es noch aufgrund des Widerstandes der Fünf-Sterne, ob die ESM-Kredite, die einen schlechten Ruf wegen der aufgezwungenen Auflagen im Fall Griechenlands haben, abgerufen werden sollen. Insgesamt (MFR + Aufbaufonds) wird Italien über ca. 209 Milliarden (127 an Darlehen, 81 als Zuschüsse) verfügen können, insbesondere für den digitalen und grünen Übergang 65,4 Milliarden (Anmerkung: die 209 Milliarden sind natürlich für den Rahmen 2021–2026 zu verstehen – so wie der MFR es vorsieht – sieben Jahre – und mit dem Aufbaufonds verknüpft, was eine bedenkliche Operation ist, da die Fonds hin und her geschoben werden und im MFR selbst sogar für Gesundheit, Forschung und Bildung gekürzt wurden, wogegen sich das Europaparlament zu Recht auflehnt.) Eines der angekündigten Vorhaben ist die Digitalisierung des Zahlungsverkehrs, um die massive Steuerhinterziehung zu bekämpfen. Angesichts der verheerenden Bodenerosion, der Vernachlässigung von ländlichen und städtischen Gebieten und der Betonierung, die aufgrund des Klimawandels eine immerwährende Gefahr für das Leben der Menschen und die Wirtschaft sind, wäre es dringend notwendig, hier zu investieren. Aber die dazu bereitgestellten Fonds wurden seit 2010 nur zu 26 Prozent (1,5 Milliarden von 5,8 Milliarden Euro) von den Regionen ausgeschöpft. Auf Druck der Unternehmer, deren Verein Confindustria eine besonders aggressive Politik betreibt, sollen aber umstrittene Großbauprojekte wie ein umweltschädliches, obsoletes Tunnelprojekt in den Alpen für die Bahnstrecke Turin-Lyon in die Liste der Infrastrukturvorhaben aufgenommen werden, die auch durch die EU-Fonds zu finanzieren sind.

In einem jüngsten Interview (FAZ, 8. Oktober) erwähnt Ministerpräsident Conte Investitionen auch für umstrittene Infrastrukturen wie Flughäfen. Aber ausgerechnet diese werden am wenigstens gebraucht. Überall ist der Luftverkehr wegen der Pandemie fast zum Erliegen gekommen, und Italien ist keine Ausnahme. Außerdem trägt dies sicherlich nicht zu einer grünen Transformation bei. Dringende Lösungen werden für einen lebenswichtigen Bereich wie den Tourismus erarbeitet. In Florenz und Rom wurden 70 Prozent der während des Lockdowns geschlossenen Hotels nicht wiedereröffnet. Durch die Bereitstellung eines Fonds der Cassa dei Prestiti e Depositi, eine Art KfW, soll verhindert werden, dass ausländische Investoren systematisch Hotels übernehmen oder diese in den Händen der organisierten Kriminalität landen. Gerade davor warnen die Staatsanwaltschaften: Der Tourismus mit 13 Prozent des Bruttoinlandprodukts und 15 Prozent der Beschäftigten stellt eine Goldgrube für illegale Aktivitäten dar.

Angesichts der schwierigen Lage greifen die Industrieunternehmer (Confidustria), die vom Kurzarbeitergeld profitieren, insbesondere die Zuschusspolitik der Regierung an. Die Corona-Hilfsmaßnahmen belaufen sich auf insgesamt 100 Milliarden Euro. Im dritten Quartal ist die Produktion im Vergleich zum zweiten Quartal um 34,6 Prozent gestiegen. Im August ist sie dennoch im Jahresvergleich um 0,3 Prozent gesunken. Beim aktuellen Trend könnte der Stand vom vierten Quartal 2019 nach einer Prognose des Finanzministeriums erst im dritten Quartal 2022 wieder erreicht wird, wenn die Infektionen des Coronavirus durch einen Impfstoff ab dem zweiten Quartal 2021 eingedämmt werden können.