Politische Berichte Nr. 5/2020 (PDF)27
Diskussion/Dokumenation

Covid-19 als Herausforderung linker Politik

Dok: Erhöhte Sterblichkeit durch Covid-19-Erkrankungen

Einwurf: Wie gefährlich ist Covid-19 wirklich?

Covid-19 als Herausforderung linker Politik

Internationale Beziehungen, staatliche Ordnungspolitik und Leistungen der Daseinsvorsorge, Recht auf Arbeit und Teilnahme am Wirtschaftsleben, Chancen der privaten Lebensgestaltung, im Umgang mit Covid-19 ändern sich gesetzte Regeln wie die Richtung persönlicher Entscheidungen. Der Trend kann als Schrittfolge in Richtung einer „verwalteten Welt“ kritisiert werden, die per „Zwangsvergesellschaftung und Anonymisierung von Herrschaft, die auf die Liquidierung des Individuums und die Eliminierung des Nichtidentischen abzielt. Durch die ihr eigene Tendenz, alle Spontaneität abzuwürgen, lässt die verwaltete Welt alle ‚Schlupfwinkel verschwinden‘. Es findet eine totale Kontrolle, eine widerstandslose Integration der gleichgeschalteten Individuen statt.“(Wikipedia-Eintrag „Verwaltete Welt“, nach Adorno.)

Diese, in die linken Diskurse der alten BRD tief eingesunkenen kritischen Begriffe eignen sich zur Kritik von politischen als Sachzwang markierten Diktate und von vorauseilendem Gehorsam geprägter öffentlicher Meinung. Sie begründen ein Recht auf Widerstand auch und besonders durch abweichendes, widersetzliches Verhalten. Ob Gebrauch des Rechts auf Wehrdienstverweigerung, positiven Gedenkens an Wehrmachtdeserteure, Bekenntnis und Ausleben der sexuellen Orientierung, die Reihe der Beispiele ist lang und beeindruckend. Abweichende Meinung, unterstrichen durch demonstrativ abweichendes Handeln, bildet in der hoch arbeitsteiligen, global vernetzten Industrie- und Wissensgesellschaft ein unverzichtbares Gegengewicht zur Macht der Institutionen und der sanktionsbewehrten Logik der Systemabläufe. Diese politischen Strategien sollen und können das Handeln von Institutionen beeinflussen. Die politischen Institutionen sind z.B. beindruckt von Querdenkerdemonstrationen. Das Covid-19-Virus nicht. Oder doch?

Begrenzte Regelverletzung als politische Strategie / Atemluft als geteiltes Gut

Die Weltkarte der Verbreitung zeigt ein weltweites Infektionsgeschehen. Medium der Verbreitung ist geteilte Atemluft, die als Aura bezeichnet wird und sich bildet, wenn Personengruppen auf engem Raum Kontakt pflegen und dann auseinandergehen, um sich in anderer Kombination, mit anderen Leuten, an anderen Orten, neuerlich zu gruppieren. Dieses Bewegungsmuster ist für die hoch arbeitsteiligen Industrie- und Wissenschaftsgesellschaften typisch und eine Voraussetzung für Produktivität durch Spezialisierung. Die damit verbundene Vereinzelung erzeugt den Bedarf an Geselligkeit, die voneinander sonst weit getrennte Leute zusammenbringt. Bei all diesen Gelegenheiten geht es eng zu – Face-to-Face. Im heutigen Siedlungsgeschehen ist eine ökologische Nische entstanden, in der Covid-19 gedeihen kann und sich festgesetzt hat. Das Phänomen ist nicht neu. So wurde die moderne Industriestadt für die Choleraerreger durch Einrichtung von Wasserversorgung und Kanalisation unwirtlich, und dabei wurden Übertragungswege verbaut, die auch für andere Infektionskrankheiten gangbar gewesen waren. Es änderten sich auch die Regeln zum Umgang mit denen eigenen Exkrementen. Inzwischen ist „wildes Urinieren“ ein Skandal und Tüten für den Hundekot Zwang. Der öffentliche Raum trat als geteilter Raum ins Bewusstsein. Vergleichbares geschieht jetzt mit der Wahrnehmung der Atemluft.

Als Zeitschrift für linke Politik muss uns interessieren, welche Maßnahmen zur Reinhaltung der Atemluft in Betrieben und öffentlichen Einrichtungen entwickelt und getroffen werden können. Die Anforderungen an Technik und Organisationsabläufe werden erheblich sein. Das individuelle Verhalten wird mit sanktionsbewehrten Regeln konfrontiert. Lüften und Maske sind lästig. Wer bestreitet, dass solche Regeln zweckdienlich bzw. verhältnismäßig sind, kann die Verfahren der begrenzten Regelverletzung trotzdem nicht anwenden. Weil und soweit die Atemluft geteiltes Gut ist, entsteht daraus ein Übergriff in die Rechte anderer. Wer mich in der U-Bahn anhustet, handelt nicht widerständig, sondern unsolidarisch.

Wer bewertet das Covid-19 Risiko und auf welche Weise?

Konsumentenentscheidungen oder Vorsicht ist die Mutter der Porzellankiste. Die Bewertung eines Risikos ist ein komplexes Geschehen, das auf verschiedenen Felder recht unterschiedlich abläuft. Dazu kommt, dass das Risiko der Erkrankung mit den Risiken abgewogen wird, denen ausgewichen werden kann. Abseits des politischen Raums finden solche Abwägungen millionenfach und täglich statt. Sie werden in Daten über Konsumentenentscheidungen sichtbar. Der Rückgang im Reiseverkehr, bei Luxus, Familienurlaub, Geschäftsreisen usw. mag als Beleg herhalten. Für diese Entscheidungen ist nicht erheblich, wie hoch das Covid-19-Risiko im Vergleich zu anderen Risiken errechnet wird. Daseinsrisiken sind kumulativ, ob hoch oder niedrig, das Covid-19-Risiko ist ein zusätzliches Risiko. Die Vermeidungsbewegungen der Einzelnen wirken sich nicht nur als Verlust von Freiheiten der Lebensgestaltung aus. Betroffen sind auch die Prozesse von Streit und Verständigung, die das politische und kulturelle Leben tragen.

Uns interessiert die Entwicklung von Regeln und Verfahren, die das Covid-19-Risiko minimieren bzw. kalkulierbar machen. So würde z.B. ein Schnelltest manche Zusammenkünfte erleichtern.

Versicherungswirtschaft. Was sagen die Profis – ist die Pandemie versicherbar? Versicherungen entstehen im Lauf des 19ten Jahrhunderts. Sie entlasten die Personen und Wirtschaftssubjekte von Vorsorgeleistungen. Dabei werden, klassisches Beispiel die Brandversicherung, den einzelnen Versicherungsnehmern auch Verhaltensvorschriften gemacht. Versicherungen beruhen auf Versichertenkollektiven. Eine zunächst örtliche oder regionale Brandversicherung kann durch einen Großbrand über ihr Leistungsvermögen hinaus getroffen werden. Auch dieses Risiko lässt sich berechnen, und so sind global agierende Rückversicherungen entstanden. Bei diesen Institutionen laufen die Meldungen über Schadenfälle zusammen. Der exklusive Club der Rückversicherer trifft sich seit 60 Jahren alle Jahre in Monte Carlo, um die Konditionen für die Unfalls- und Schadensrückversicherung auszuloten. Dieses Jahr hat man das Mitte September angesetzte Treffen ausfallen lassen. Schon diese Tatsache enthält eine Botschaft. Für unser Problem wichtiger ist, was der Vorstand der Munic Re in der FAZ vom 8.9. unter der Überschrift „Rückversicherer rufen nach dem Staat. Für Pandemie-Schäden reicht privates Kapital niemals aus, sagt die Munich Re“. Er steht mit dieser Ansicht nicht allein. „Die Munich Re beruft sich dabei auf den Verband der amerikanischen Schaden- und Unfallversicherer (APCIA). Laut dessen Schätzungen wäre das Risikokapital der Versicherer in Amerika binnen weniger Wochen aufgezehrt, wären Corona-Schäden durch Betriebsunterbrechung versichert gewesen.“

Wir schlagen vor, zur Diskussion der mit dem Covid-19 Geschehen verbundenen sozialen Risiken, auch die Aussagen (und tatsächlichen Bilanzen) der Versicherungen heranzuziehen. Dies wäre ein Weg zur Versachlichung.

Wie tickt der Staat? Das erste Risiko der Staatsgewalt ist die Erschütterung ihrer Legitimation. Wenn eine Behandlung der Krankheitsfälle nicht mehr möglich ist, würde das Versprechen von Daseinsvorsorge und Achtung der Menschenwürde hohl. Die nächste Priorität hat die Eindämmung des Infektionsgeschehens, das sich in den täglichen Infektionszahlen abbildet. Die Möglichkeit, das Infektionsgeschehen nachzuverfolgen, belegt oder kontert den Anspruch effektiver Verwaltung. Ein weiterer Punkt sind die Haushaltsrisiken, die durch Ersatzleistungen und Einnahmeausfälle entstehen.

Schon wegen der Achtung der Menschenwürde ist die Gewährleistung der Behandlung ein prioritäres Ziel auch der linken Politik. Ebenso kann die Tatsache einer Covid-19-Infektion nicht als Privatsache behandelt werden. Trotzdem muss ein Weg gefunden werden, die dabei entstehende Datenmasse vor Zugriffen für ganz andere Zwecke der Administration zu sichern. Schließlich bleibt die Frage, wie die entsprechenden Gesetze zu gestalten sind, damit das Publikum die Chance hat, Art und Ausmaß administrativer Maßnahmen zu kontrollieren.

Die Ballung von Risiken und die Gefahr der moralischen Desintegration

Wenn wir die Verteilung der Covid-19-Fälle nach dem Alter der Verteilung der Covid-19-Todesfälle gegenüberstellen, wird die enorme Anspannung deutlich. Es haben sich Klumpenrisiken herausgebildet. Das Verbreitungsmaximum hat sich in Richtung der jüngeren Generationen verschoben, die Übersterblichkeit liegt bei den Älteren. Die Sekundärrisiken – Einschränkungen des Erwerbs- und Berufslebens und der Freiheiten der Lebensgestaltung – treffen die Jüngeren viel härter. Unklar ist bislang das Ausmaß der Spätfolgen bei mildem oder mittelschwerem Verlauf. Sicher ist, dass Spätfolgen auftreten.

Wir gehen davon aus, dass in einer solidarischen Gesellschaft den Menschen, die besondere Risiken tragen, Rücksicht und Schutz der Allgemeinheit zusteht.

Sekundäre Folgen: Vorzeichenwechsel von Freiheitsrechten zur Leistungsverpflichtung

Wenn sich, wie zum gegenwärtigen Zeitpunkt hoch wahrscheinlich, herausstellt, dass auf geraume Zeit nur Eindämmungen und graduelle Verbesserung der Behandlung möglich sind, werden die gesellschaftlichen Kreisläufe unter der Bedingung des Infektionsrisikos ablaufen müssen. Dabei wird sich herausstellen, dass die jetzt eingeschränkte Freiheit zur Berufsausübung umschlägt in eine Verpflichtung, trotz Infektionsrisikos anzutreten.

Gewährleistung von Arbeitsplatzsicherheit durch Arbeitgeber und Anbieter von Diensten. Es steht die Frage, inwieweit Verpflichtungen zu Tests und, wenn denn Stoffe zur Verfügung stehen, zur Impfung akzeptabel sind, ebenso inwieweit ein Anspruch auf Tests und Impfung bei entsprechender Gefährdung besteht.