Politische Berichte Nr. 5/2020 (PDF)30
Kalenderblatt

6. Okober* 1820 Schweiz: Lesegesellschaften – Bildung und Weiterbildung für breite Volksschichten

01 „Jetzt musst du lesen lernen.“ Johanna Spyri, Heidi (1880 und 1881)

Rolf Gehring, Brüssel, Eva Detscher, Karlsruhe

Mit den Lesegesellschaften – exemplarisch der „Sonnengesellschaft“ – hat sich im Kanton Appenzell Ausserrhoden eine gesellschaftliche Praxis aus dem ersten Drittel des 19. Jahrhunderts erhalten, die anderswo in dieser Art verschwunden ist. In 13 der 20 Gemeinden des Kantons bestanden im Jahr 2017 noch eine oder mehrere Lesegesellschaften. Sie vereinigen Leute mit unterschiedlichen Ansichten zu einem Austausch in allgemeinbildenden und meist auch in aktuellen politischen Themen und geben so wichtige Impulse für das politische und kulturelle Leben ihrer Gemeinden.“ (1)

Ende des 17., Anfang des 18. Jahrhunderts führt die schwungvolle Entwicklung der Naturwissenschaften und Technik zu neuen Anforderungen an die Arbeitskraft. Eisenbahnen, Tuchproduktion, industrielle Fertigung, Verlagswesen – es braucht den auf Basis eigener Kenntnisse handelnden Menschen. Buchdruck und sich beinahe explosiv entwickelndes Zeitungswesen mit Auflagen in neuem Umfang und weiter Verbreitung, nach Wissensgebieten und sozialen Schichten differenzierte Zeitschriften können ohne kenntnisreiche Arbeiter nicht hergestellt werden.

Schrifttum, Publizistik und Gründungsfieber

Der Umgang mit der Schrift, mehr oder weniger bis ins hohe Mittelalter beim Klerus monopolisiert, war nicht mehr Privileg eines bestimmten Standes. Im Typus des Bildungsbürgers formte sich eine Verbindung von Erwerbsbürger und Gelehrtem, die, beseelt vom Ideal der Gelehrsamkeit und orientiert an den modernen Wissenschaften und Künsten, nach Information aus allen Bereichen des Wissens und des gesellschaftlichen Lebens verlangte. Die Gelehrtensprache Latein wurde von den nationalen Hochsprachen verdrängt, und unterhaltende Literatur und Bücher der allgemeinen Wissensvermittlung traten an die Stelle der theologischen Schriften. Aufklärung und freiheitliche Bewegungen werden zu bildungsmächtigen Motoren. Wie in Deutschland und weiten Regionen Europas entstanden in der Schweiz seit 1700, vor allem aber in der zweiten Hälfte des 18. Jh. viele „Lesezirkel“, „Lesegesellschaften“, „Literarische Gesellschaften“ und ähnliche Vereinigungen, und zwar in solcher Zahl, dass sie nicht als historische Zufallserscheinungen betrachtet werden können.

Die in der Einleitung beschriebene 1820 gegründete „Sonnengesellschaft“ in

Speicher steht am Anfang einer langen und fast kontinuierlichen Gründungswelle, und vermutlich war sie, zumindest am Anfang, auch das regionale Vorbild. Als Initiator gilt Landschreiber und Landsfähnrich Johann Heinrich Tobler, der Komponist des Landsgemeindelieds. Auf seinen Aufruf hin versammelten sich 18 Gemeindeeinwohner, welche „sich zu einer Gesellschaft gebildeter und bildungsliebender Männer zusammenschlossen, die sich die Aufgabe setzte, wöchentlich einmal zusammenzukommen und sich durch das Lesen von Zeitungen, Zeitschriften und Büchern, sowie durch mündliche Aussprache gegenseitig zu unterhalten und zu belehren“.

Eine kommunale Öffentlichkeit entsteht

Auf die Sonnengesellschaft in Speicher folgten rasch Lesegesellschaften in Heiden (1821) und Bühler (1822) und sukzessive im ganzen Kantonsgebiet. Ende des 19. Jahrhunderts hatte jede außerrhodische Gemeinde (außer Schönengrund) ihre Lesegesellschaft, größere Gemeinden sogar mehrere, weil sich die einzelnen Quartiere und Gemeindebezirke eine eigene Vereinigung schufen. Alle verfolgten das Ziel, Literatur zu beschaffen und Zusammenkünfte abzuhalten, an denen belehrende Vorträge gehalten, lokale Angelegenheiten besprochen, allgemein politische Themen diskutiert wurden und auch die gesellige Unterhaltung nicht zu kurz kam. Besprochen wurden Neuerungen in den Schulverhältnissen, ihres Bezirkes, Anlegung von Bezirksstraßen, Verbesserung der Bedienung durch die Post, Einführung der Straßenbeleuchtung. Auch wurde die Finanzierung in die Hand genommen, die Gemeindebehörden für solche Wünsche interessiert und die Ausführung oft selbst übernommen.

Widerstand und Ausdifferenzierung

Die Bezüge zu Bewegungen, die Bürgerfreiheiten erreichen wollten, waren augenfällig. Die Lesegesellschaft von Stäfa z.B. und ein dort vorgetragenes Memorial für die rechtliche und politische Gleichstellung mit dem städtischen Bürgertum, aber auch die Abschaffung des Zehnten und die Wiederherstellung der Gemeindefreiheiten waren Ausgangspunkt für eine scharfe Auseinandersetzung zwischen den ländlichen Eliten und der Zürcher Obrigkeit: Zürich untersagte das Verlesen des Memorials, das inzwischen seine Runde machte, es wurde jeglicher Handel mit Stäfa unterbunden und der Ort schließlich von Berner Truppen besetzt.

Einsetzende Parteigründungen und die Gründung von Arbeiterbildungsvereinen bereicherten das Spektrum und veränderten die soziale Zusammensetzung und Funktion. Die Sonnengesellschaft in Speicher z.B. blieb ein Verein der „Mehrbesseren“, wie die Appenzeller sagten. Die Lesegesellschaft Bissau in Heiden beispielsweise war eine typische Arbeiter-Lesegesellschaft, die seinerzeit bewusst als Gegenorganisation gegen die noblen Leute im Dorf aus der Taufe gehoben wurde.

Gleichwohl entstanden in der Schweiz die Lesegesellschaften in einer Periode, in der eine Diskussion zur Reform des Schulwesens im Gange war: in einigen Regionen bestand die allgemeine Schulpflicht bereits über 200 Jahre (z.B. in Genf seit 1536). Historisch gesehen sind Lesegesellschaften Organisationen von Bürgern, die gutes Einkommen hatten und denen Wissen und Information, aber auch gemeinsame Befassung von Themen ein Anliegen waren, im Prinzip erste Einrichtungen der Erwachsenenbildung und, wie das Beispiel der Sonnengesellschaft zeigt, der kommunalen Selbstverwaltung.

(1) Lebendige Tradition – ein Projekt der Schweizer Eidgenossenschaft. Bundesamt für Kultur – https://www.lebendige-traditionen.ch/tradition/de/home/traditionen/lesegesellschaften.html

Quellen: Dr. Thomas Samuel Eberle: Die Appenzeller Lesegesellschaften im Zeitalter des Fernsehens. Sonderdruck aus: R. Dubs u. a.: Der Kanton St. Gallen und seine Hochschule. St Gallen 1989. Stäfnerhandel – Historisches Lexikon der Schweiz. https://hls-dhs-dss.ch/de/articles/017215/2012-02-27/

Abb. (PDF): svchweizerkarte

dok: „Volksbildung ist Volksbefreiung! Subvention der Volksschule durch den Bund / Die weltliche, unentgeltliche und obligatorische Schule.

Abb. (PDF): Karikatur von Fritz Boscovits, erschienen im Nebelspalter, 1902, Nr. 47 (Schweizerische Nationalbibliothek, Bern, e-periodica).

Mutter Helvetia in Berner Tracht verteilt Brot an ihre Kinder, die Kantone. Der Bundesbeschluss betreffend die Unterstützung der öffentlichen Primarschule durch den Bund wurde am 23. November 1902 vom Volk gutgeheissen. Der Bund hat in allen Kantonen die Aufsichtspflicht über die konfessionell neutralen, unentgeltlichen und obligatorischen Schulen inne und subventionierte diese bis 1985.“

Quelle: Historisches Lexikon der Schweiz: https://hls-dhs-dss.ch/de/articles/010402/2012-06-14/

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„Jetzt musst du lesen lernen.“ Johanna Spyri, Heidi (1880 und 1881)

Johanna Spyri, Heidis Lehr- und Wanderjahre und Heidi kann brauchen, was es gelernt hat. Zahlreiche Ausgaben auch als kostenloses Ebook.

Alfred Küstler, Stuttgart

Die bekannten Heidi-Bücher der Schweizer Autorin Johanna Spyri stehen durch Verfilmungen und Vermarktung für ein romantisches und idealisiertes Bild der Schweiz – zu Unrecht. 1880 erschien der erste Heidi-Roman. Das Waisenmädchen Heidi wird von der Tante Dete zum mit der Welt überworfenen Großvater, dem Alm-Öhi, auf eine Alp oberhalb von Maienfeld (Graubünden) gebracht – die Tante geht auf Dienst nach Frankfurt. Der Großvater fängt an, das Heidi zu mögen und zusammen mit dem Geißenpeter genießt sie das Leben auf der Alp. Die Tante holt dann das inzwischen achtjährige Kind ab. Heidi soll einem gelähmten Mädchen, Klara Sesemann, in Frankfurt Gesellschaft leisten. Heidi freundet sich auch mit dem Mädchen an, nur mit der Hausdame Fräulein Rottenmeier gibt es Konflikte, weil Heidi die gutbürgerlichen Sitten nicht kennt. Heidi fühlt sich immer schlechter und hat Sehnsucht nach den Bergen. Auf Anraten des Doktors der Familie wird Heidi schließlich heimgeschickt, wo es dann wieder glücklich ist.

Im zweiten Band, 1881 erschienen, kommt zunächst der Doktor zu Besuch auf die Alm. Es gefällt ihm und im folgenden Jahr kommt Klara zu einem Kuraufenthalt. Der Geißenpeter ist eifersüchtig und lässt den Rollstuhl von Klara in die Tiefe rollen, wo er zertrümmert liegen bleibt. Klara lernt daraufhin wieder das Gehen. Der Vater und der Doktor sind begeistert und der Doktor nimmt Heidi an Kindesstatt an und der reiche Herr Sesemann verspricht lebenslang für sie zu sorgen.

Soweit die mit literarischer Qualität erzählte Geschichte. Johanna Spyri war mit dem großen Zürcher Schriftsteller Gottfried Keller befreundet. Sie selbst war als Zürcher Stadtschreiber unter anderem zuständig für die Höheren Töchterschulen.

Die Heidi-Geschichten haben eine politische Komponente. 1874 wurde in die Schweizer Verfassung die allgemeine Schulpflicht aufgenommen. Die praktische Umsetzung war aber schwierig, und es gab zahlreiche Widerstände.

In den beiden Heidi-Geschichten spiegelt sich das wider, und Johanna Spyri entwickelt Argumente, warum das Lesen so wichtig ist und dass es alle Kinder, auch die Mädchen, lernen müssen.

Eines der Probleme bei der Schulpflicht war die mangelnde Qualität der Lehrer bzw. dass es vor allem in den Gebirgsregionen oft keine Lehrer gab. Im ersten Roman spiegelt sich das so: Heidi nimmt am Unterricht für Klara teil, dieser Unterricht ist grottenschlecht. Der als Hauslehrer angestellte Kandidat langweilt die Mädchen und Heidi lernt nicht einmal das Abc. Schließlich mischt sich aber die Großmama von Klara ein.

Heidi beklagt sich: „Lesen kann man nicht lernen, es ist zu schwer.“ „Das wäre! Und woher weißt du denn diese Neuigkeit?“ „Der Peter hat es mir gesagt und er weiß es schon, der muss immer wieder probieren, aber er kann es nie lernen, es ist zu schwer.“ „Heidi“, sagte nun die Großmama, „jetzt will ich dir etwas sagen: Du hast noch nie lesen gelernt, weil du deinem Peter geglaubt hast; nun aber sollst du mir glauben, und sage dir fest und sicher, dass du in kurzer Zeit lesen lernen kannst.“

In den katholischen Kantonen und Gemeinden befürchteten größere Teil der Geistlichkeit, dass ihnen die Schäfchen ungehorsam werden. Johanna Spyri hält dagegen: Das erste Buch, das Heidi lesen kann, ist ein Erbauungsbuch über den verlorenen Sohn. Auch später kommt noch einmal der Nutzen des Lesens für die Religion: Heidi liest ihrer blinden Großmutter fromme Gedichte vor, für die alte Frau ein großer Trost.

Die Schulpflicht wurde lange Zeit nur eingeschränkt durchgeführt. Auf dem Land gab es nur eine Winterschule, im Sommer wurden die Kinder meist als Hirten eingesetzt. Der Geißenpeter gehört auch zu diesen Kindern. Im zweiten Band nimmt sich Heidi den Geißenpeter vor:

„Peter, ich weiß etwas“, rief es ihm entgegen. „Sag’s“, gab er zurück. „Jetzt musst du lesen lernen“, lautet die Nachricht. „Hab’s schon getan“, war die Antwort. „Ja, ja, Peter, so mein ich nicht“, eiferte jetzt das Heidi. „Ich meine so, dass du es nachher kannst.“ „Kann nicht“, bemerkte der Peter. „Dann will ich dir schon sagen, was kommt, wenn du nie etwas lernen willst: Deine Mutter hat schon zweimal gesagt, du müsstest auch nach Frankfurt …“

Die Drohung mit der Fremde wirkt, Peter lernt tatsächlich einigermaßen lesen.

Eine ganzjährige Schule überstieg vor allem bei den vielen sehr kleinen Gemeinden die finanziellen Möglichkeiten. Daher kam es vermehrt zu Gemeindeverbänden, die dann gemeinsam eine Schule für ihre Kinder einrichteten.

Am Schluss steht eine Mahnung, die Fähigkeiten der Kinder nicht verkommen zu lassen. Der Öhi sagt, dass er dem Heidi nichts hinterlassen könne, dass es keine Verwandten habe, außer der Tante, „die würde noch ihren Vorteil aus ihm ziehen wollen“. Daraufhin verspricht der reiche Herr Sesemann: „Nie in seinem Leben soll dieses Kind hinaus, um unter fremden Menschen sein Brot zu verdienen.“

Abb. (PDF): cover Heid