Politische Berichte Nr. 6/2020 (PDF)06
US Außenpolitik

Internationale Entwicklungen, die USA und die Nato – nicht Eigenheiten einzelner US-Präsidenten bestimmt den Kurs USA und Internationaler Strafgerichtshof (ICC) Welthandelsorganisation: vom Instrument des Westens zum Streitobjekt von Entwicklungsdiktaturen und traditionellen Kapitalmächten

Welthandelsorganisation: vom Instrument des Westens zum Streitobjekt von Entwicklungsdiktaturen und traditionellen Kapitalmächten

Hardy Vollmer, Freiburg

Anfang September 2020 kommt es zu einer erstaunlichen Entscheidung eines WTO-Gerichts. Die von den USA im Handelsstreit mit China verhängten Zölle über 200 Milliarden Dollar auf chinesische Waren sind nach einer Entscheidung der Welthandelsorganisation illegal.

Das Urteil überrascht. Im fünfundzwanzigsten Jahr des Bestehens der WTO (gegründet am 1.1.1995) scheint sich diese Institution von ihren einstigen Gründerstaaten weitgehendst emanzipiert zu haben. Denn zumindest nach Auffassung verschiedenster Nicht-Regierungs-Organisationen (NGO) war die Gründung der WTO und ihr bisheriges Handeln geprägt von den dominierenden Interessen der führenden kapitalistischen Staaten. Und das Interesse hieß Durchsetzung von Privatisierungen von Grund und Boden, Zugriff auf wichtige Rohstoffe und ungehindertes Agieren von kapitalkräftigen Investoren, die nationale Schutzrechte aushebeln können. Das gelang in den vergangenen Jahrzehnten auch gut. Inzwischen gehören der WTO 164 Länder an, die für 98% des globalen Handels stehen. Trotzdem wird die WTO inzwischen von den kapitalkräftigen Staaten als lahme Ente angesehen. „Die WTO unter Beschuss“, titelte die „FAZ“ und das „Handelsblatt“ sekundiert: „Letzte Chance für die WTO“.

Wo hängt es?

Im Grunde befindet sich die WTO seit 2001 in einer Dauerkrise. Im November 2001 kamen in Doha (Katar) die Wirtschafts- und Handelsminister der Mitgliedsstaaten der WTO zusammen. Die WTO-Ministerkonferenz sollte eine neue multilaterale Liberalisierungsrunde einleiten. Schon Jahre zuvor gab es einen wachsenden Unmut unter den Entwicklungsländern über die Ergebnisse bisheriger Handelsliberalisierungen. Daher gaben einige Entwicklungsländer bekannt, Verhandlungen erst dann wieder zu unterstützen, wenn ihnen Zugeständnisse gemacht und ihre Interessen stärker berücksichtigt würden. Die Positionen der Entwicklungsländer fand eine breite Unterstützung in dem immer stärker werdenden globalisierungskritischen Lager in den kapitalistischen Staaten. Sichtbares Zeichen der Macht dieser Proteste war dann, dass die WTO-Ministerkonferenz von 1999 in Seattle aufgrund massiver Proteste von Globalisierungsgegnern unterbrochen werden musste. Das Doha-Treffen wurde ergebnislos abgebrochen. Seit 2001 gab es bisher zehn weitere Ministerkonferenzen, zuletzt 2015 in Nairobi, die aber außer Kompromissvorschlägen und einigen unwesentlichen Teileinigungen nichts brachten.

Tatsächlich hat sich in den vergangenen Jahren eine Änderung in den Handelsbeziehungen der verschiedenen Länder ergeben, die man als Bilateralisierung der Handelspolitik bezeichnen lässt, also Handelsabkommen zwischen jeweils zwei Staaten. Seit 2001 sind so 210 Handelsabkommen entstanden. Erweitert werden diese zweiseitigen Abkommen durch eine Reihe regionaler Abkommen. Am spektakulärsten sicherlich die vor ein paar Wochen zustande gekommene „regionale, umfassende Wirtschaftspartnerschaft“ oder RCEP, wie der Pakt abgekürzt wird. Er umfasst 2,2 Milliarden Menschen und rund ein Drittel der weltweiten Wirtschaftsleistung. Darunter befinden sich so illustre Staaten wie Australien, Japan, Südkorea, und China, die ersten drei bekanntlich Staaten, die sich in einem heftigen politischen Konflikt mit China befinden. Es war gerade der erstaunliche Aufstieg Chinas zu einer weltweit agierenden polit-ökonomischen Macht, der das vor allem seit dem Zweiten Weltkrieg dominierende Welthandelssystem des Westens in Wanken brachte. Da der US-Imperialismus ja bekanntlich einen erheblichen Anteil am Aufbau dieses Systems hatte, ist es nicht verwunderlich, dass von dieser Seite mit großem Kaliber gegen China geschossen wird.

Was kommt nach Trump. Wie weiter mit der WTO?

Es scheint so, dass die Phase einer dominierenden „Weltherrschaft“ durch den Westen, der die vergangenen Jahrzehnte prägte, sich dem Ende zuneigt. Die Tendenz bilateraler und regionaler Kooperationen wird sich sicher fortsetzen, verbunden mit einem Versuch verstärkter nationalistischen Abschottung. Der Wahlkämpfer Biden sah ebenso wie Trump den Hauptfeind in China und er verwandte Wahlkampfslogans wie „Buy American“ und „Make it in Amerika“ 1

Es ist zu erwarten, dass er die Linie als Präsident fortsetzen wird. Inwieweit die US-Regierung ihre Blockadehaltung gegenüber der WTO lockern wird, ist noch nicht klar. Im Unterschied zu Trump wird er aber eher wieder auf die alten Kooperationen zurückgreifen, aber mit einem konkreten Ziel verbunden: „Er sieht jedoch in der EU aufgrund gemeinsamer Werte und Interessen einen Partner der Vereinigten Statten gegenüber China. Somit könnte das Konzept des ‚Westens‘ eine politische Wiederbelebung erfahren.“ (2) Es fällt auf, das in verschiedenen Artikeln und Spezialpublikationen der unternehmernahen Institute dieses „Konzept des Westens“ hofiert wird. Unter Beachtung der gegenwärtigen geopolitische Lage, könnte sich hier ein altes Lager neu formieren, das die Front zum „Osten“ und „Süden“ aufbaut. Die WTO scheint dabei eher für einen Hemmschuh als für Siebenmeilenstiefel gehalten zu werden. In einem Gutachten des Instituts der deutschen Wirtschaft, beworben als „Handelspolitische Empfehlungen für Bundesregierung und EU“ heißt es zur WTO:

„Die WTO kann ihre Liberalisierungsfunktion kaum noch wahrnehmen… Anders als im GATT übernahmen die Entwicklungsländer in der WTO ab 1995 mehr Liberalisierungspflichten. Dafür erhielten sie Stimmrechte und damit ein Vetorecht, da WTO-Entscheidungen in aller Regel einstimmig getroffen werden … Die WTO-Regeln sind nicht für staatskapitalistische Länder … gemacht. Wenn China das nicht anerkennt, werden die USA einer Reform der Berufungsinstanz nicht zustimmen. Und womöglich wäre auch die Zukunft der WTO per se auf Dauer gefährdet. Die deutsche (EU)-Ratspräsidentschaft sollte daher anregen, in der EU auch über Ultima-Ratio-Szenarien nachzudenken, in denen die WTO sich als nicht zukunftsfähig erweist.“ 2

Die Zukunft der WTO bleibt offen. Als neoliberales Projekt gestartet, das der kapitalistischen Globalisierung die Tore öffnete, ist es nun zum Streitobjekt aufsteigender Entwicklungsdiktaturen und traditioneller Kapitalmächte geworden. Die Frage ist, ob es nicht besser ist, das ganze Welthandelssystem unter die Aufsicht der UNO zu stellen. Wenn man dann auch noch den Weltsicherheitsrat demokratisiert, hat man eventuell ein gutes Instrument zu einem demokratischeren und gleichberechtigten Welthandelssystem zu kommen.

1 Neustart mit Präsident Biden. SWP-Aktuell Nr. 92, Nov. 2020

2 Protektionismus eindämmen und WTO-Reform vorantreiben. IW-Gutachten vom 12.10.2020. Auftraggeber: Initiative Neue Soziale Marktwirtschaft

Abb. (PDF): Protest gegen WTO 1999 in Seattle, Kanada