Politische Berichte Nr. 6/2020 (PDF)18
EU-Politik

Paradigmenwechsel – Neue Initiativen in der europäischen Sozialpolitik

Thilo Janssen, Brüssel

Der interessierte Beobachter europäischer Sozialpolitik reibt sich verwundert die Augen. Ist das noch die vertraute marktradikale EU, an die man sich gewöhnt hatte? Das soziale Bild der EU der letzten 10 Jahre ist ramponiert: Ein Kommissionspräsident Juncker, der 2014 seine Amtszeit mit dem „LuxLeaks“-Steuerskandal beginnt. Eine EU-Kommission, die im Zuge der Bankenkrise als Teil der „Troika“ Regierungen zwingt, sektorale Tarifstrukturen zu zerstören, Mindestlöhne zu senken oder Krankenleistungen zu kürzen. Schuldenfreie Haushalte und Wettbewerbsfähigkeit sind das Primat.

Vor dem Hintergrund dieser EU-Politik im Zuge der Finanzkrise erscheinen die jüngsten Entwicklungen bemerkenswert. 2016 kommt Präsident Juncker auf die Idee, dass EU-Sozialpolitik helfen könnte, die EU aus der politischen Krise zu führen. Er schlägt eine Europäische Säule sozialer Rechte (ESSR)1 vor. Sie wird 2017 in Göteborg von allen drei EU-Institutionen verabschiedet. Die Kritik an der ESSR kommt prompt: Ein Haufen bedrucktes Papier, um Gewerkschaften, Sozialverbände und links-grüne EU-Romantiker zu besänftigen. Viel Aufhebens um Nichts?

Dann folgt die größte Serie gesetzgeberische Initiativen in der EU-Sozialpolitik seit den 1990ern, als durch neue Richtlinie Arbeitnehmerbeteiligung, Arbeitsschutz und Gleichstellung ausgebaut wurden. Den Auftakt macht im Jahr 2018 die Reform der Entsenderichtlinie.2 Entsandte Beschäftigte sollen endlich die gleiche Bezahlung erhalten wie lokale Arbeitnehmer. Eine neue Europäische Arbeitsbehörde wird 2019 gegründet. Sie entspricht noch nicht den Erwartungen der Gewerkschaften. Die Behörde wird aber auch erst 2024 voll funktionsfähig sein.

Mit der Richtlinie über die Vereinbarkeit von Berufs- und Privatleben3 von 2019 werden EU-Mindeststandards für Elternurlaub verbessert, Vaterschafts- und Pflegeurlaub eingeführt. Elternurlaub muss jetzt in allen EU-Ländern bezahlt werde. Mit der Richtlinie über transparente und verlässliche Arbeitsbedingungen4 aus dem gleichen Jahr müssen Beschäftigte von Tag eins an über die Beschäftigungsbedingungen unterrichtet werden, Probezeiten werden begrenzt. Auch die Richtlinie über den Schutz vor krebserregenden Stoffen am Arbeitsplatz wird schrittweise überarbeitet.

2020 wird das Jahr der Covid-19-Pandemie, Gesundheitskrise und Wirtschaftskrise in einem. Die Antwort der EU diesmal: Statt auf Budgetkürzungen, Privatisierungen und Entlassungen zu setzen, werden die Regeln für Verschuldung und Staatsbeihilfen gelockert. Bis Ende Oktober wurden über drei Billionen genehmigt. Die EU setzt nun auf staatlich unterstützte Kurzarbeit und öffentliche Investitionen: Bis 2027 sollen 1,8 Billionen Euro über die EU investiert werden, ein großer Teil davon in den Green Deal5 und in digitale Technologien. Mit Sure werden nationale Haushalte durch EU-Darlehen mit bis zu 100 Milliarden Euro abgesichert, wenn sie Kurzarbeit finanzieren.

Die soziale Gesetzgebung geht unter Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen (CDU) und Sozialkommissar Nicolas Schmit (vormaliger Sozialminister in Luxemburg, Sozialdemokrat) weiter. Für 2021 wird ein Aktionsprogramm zur Umsetzung der ESSR erwartet. Der DGB fordert Initiativen in drei Bereichen:

1. Ein permanentes EU-Kurzarbeitsinstrument, eine EU-Arbeitslosenrückversicherung sowie universellen Zugang zu Systemen der sozialen Sicherheit.

2. Eine EU-Rahmenrichtlinie für die Grundsicherung, europäische Mindeststandards für Arbeitslosenversicherungen sowie eine EU-Mindestlohnrichtlinie.

3. Eine Strategie für die öffentliche Gesundheitsversorgung und die Reform der fiskalpolitischen Regeln.

Im Oktober 2020 hat die EU-Kommission eine EU-Richtlinie über angemessene Mindestlöhne6 vorgelegt. Was rechtlich als unmöglich galt, wird politisch möglich gemacht. Plötzlich will die Kommission angemessene Mindestlöhne durchsetzen, Tarifverträge ausweiten und die Binnennachfrage stärken. EU-Ländern mit weniger als 70 Prozent Tarifabdeckung sollen stärkere Tarifstrukturen aufbauen. Dies beträfe auch Deutschland. Der Europäische Gewerkschaftsbund (EGB) sieht noch einigen Verbesserungsbedarf: Er fordert eine doppelte Untergrenze für Mindestlöhne (60 % des nationalen Median- und 50 % des Durchschnittslohn), das Verbot von Ausnahmen (etwa für Auszubildende) und verbindliche Tariftreue bei öffentlicher Auftragsvergabe, Beihilfen und EU-Geldern.

Die Verhandlungen um die Mindestlohnrichtlinie zeigen zugleich strukturelle Schwierigkeiten der Sozialpolitik in der EU. Der Widerstand der Arbeitgeber ist besonders auf nationaler Ebene stark, wo es um Steuern und Sozialabgaben geht. Der Rat der EU tritt daher meist als Bremser von sozialen Verbesserungen auf. Zudem sind die nationalen Sozialsysteme sehr unterschiedlich. Sie entstanden zur Zeit der Industrialisierung um die vorletzte Jahrhundertwende, nach dem Zweiten Weltkrieg oder in Osteuropa in den 1990er Jahren. Gewerkschaften spielen unterschiedliche Rollen. Entsprechend fallen bei neuen EU-Mindeststandards die Reaktionen aus: Aus Sicht der dänischen und schwedischen Gewerkschaft ist die EU-Initiative zu Mindestlöhnen ein illegaler Angriff auf die Tarifautonomie.

Sollte die EU-Kommission im Anschluss an die Ratsschlussfolgerungen zur Stärkung der Mindestsicherung auch einen Vorschlag für eine neue EU-Richtlinie zu Mindesteinkommen vorlegen – wie von DGB, EGB und Sozialverbänden gefordert –, ist es nicht unwahrscheinlich, dass der eine oder andere nationale Verband ausschert.

Weitere Kontroversen sind zu erwarten. Der Rat hat Anfang Dezember Schlussfolgerungen zu Menschenrechten und menschenwürdiger Arbeit in globalen Lieferketten angenommen. Die Kommission plant eine neue Richtlinie dazu für 2021.

Eine der weitreichendsten neuen Initiativen der EU-Kommission wird die europäische Arbeitslosenrückversicherung. Ein Vorschlag der Kommission wird bis Ende 2020 erwartet. Noch ist nicht viel über den Inhalt bekannt. In jedem Fall betritt die EU Neuland, wenn Teile der nationalen Sozialversicherungssysteme zukünftig über EU-Garantien und Darlehen abgesichert werden.

Die EU hat in den letzten zehn Jahren einige erstaunliche Wandlungen vollzogen. Dies hat mit der rasanten Entwicklung des Wirtschaftssystems (internationale Verflechtung, Digitalisierung, CO2-Ausstoß) und seinen Krisen zu tun, den politischen Krisen (von Brexit bis Orban) und sich neu justierenden politischen Kräften (gespiegelt in der sich wandelnden Kräftebalance im EU-Parlament). Dass die europäische Sozialpolitik im umfassenden Sinne (von Löhnen über die soziale Sicherung bis zu globalen Lieferketten) ein politischer Schlüsselbereich ist, um den Krisen des 21. Jahrhunderts zu begegnen, scheint 2020 auch bei den wirtschaftsliberalen politischen Familien angekommen zu sein. Eine nationalen Systemen vergleichbare Sozialunion wird die EU absehbar nicht werden. Sie muss stattdessen einen Rahmen setzen, der Deregulierungsdruck durch robuste Mindeststandards ersetzt und so schrittweise Harmonisierung nach oben ermöglicht. Sie muss Arbeitsmigration sozial regeln. Und sie muss soziale Standards in globalen Handelsbeziehungen und Lieferketten etablieren. Der Wiederaufbau nach der pandemiebedingten Wirtschaftskrise ist die nächste große Chance, die EU in diesem Sinne sozialer zu machen. Das Beispiel Mindestlohnrichtlinie zeigt, dass für jede einzelne Initiative ein politischer Kompromiss ausgehandelt werden muss.

(1)https://ec.europa.eu/commission/priorities/deeper-and-fairer-economic-and-monetary-union/european-pillar-social-rights/european-pillar-social-rights-20-principles_de (2) https://eur-lex.europa.eu/legal-content/DE/TXT/HTML/?uri=CELEX:01996L0071-20200730&from=EN (3) https://eur-lex.europa.eu/legal-content/DE/TXT/PDF/?uri=CELEX:32019L1158 (4) https://eur-lex.europa.eu/legal-content/DE/TXT/HTML/?uri=CELEX:32019L1152&from=DE (5) https://ec.europa.eu/info/strategy/priorities-2019-2024/european-green-deal_de (6) https://eur-lex.europa.eu/legal-content/DE/TXT/PDF/?uri=CELEX:52020PC0682&from=EN (7) EGB Maßnahmenprogramm 2019 – 2023 https://www.etuc.org/sites/default/files/publication/file/2019-08/CES-14e%20Congre%CC%80s-Action%20Programme-D-02.pdf

Abb. (PDF): Unter dem Titel Ein faireres Europa für Arbeitnehmer hat der EGB ein ganzes Maßnahmenbündel mit Bezug auf die Europäische Säule sozialer Rechte formuliert. (Abb. (PDF): . S. 12)7