Politische Berichte Nr. 6/2020 (PDF)19
EU-Politik

Lücken bei Prekären und Wanderarbeit

Rüdiger Lötzer, Berlin

Dass Corona die soziale Spaltung vertieft, ist banal. „Die Corona-Krise verstärkt die Probleme des Niedriglohnsektors“, hat das DIW im Juli in einer Studie für die Bertelsmann-Stiftung festgestellt. „Insbesondere für Haushalte im unteren Bereich der Einkommensverteilung bricht derzeit ein erheblicher Teil ihres verfügbaren Geldes weg.“ 1

Am 4. November meldete der Evangelische Pressedienst, das Land NRW habe beschlossen, den Verein „Aktion Würde und Gerechtigkeit“ des Pfarrers Peter Kossen zu unterstützen. „Kossen und sein Team beraten Arbeitsmigrantinnen und Arbeitsmigranten aus Ost- und Südosteuropa … in der Fleischindustrie, der Logistik oder der Gebäudereinigung … (Kossen) spricht unverblümt von Sklaverei und Menschenhandel.“

Themen des Vereins sind vorenthaltener Lohn, nicht gewährter Urlaub, Kündigung im Krankheitsfall, Mietwucher, Verstöße gegen Arbeitsschutz und Höchstarbeitszeiten.

Hintergrund ist ein Arbeits- und Sozialrecht, das prekäre Arbeit kaum schützt, oft an EU-Binnengrenzen halt macht und so prekäre und Wanderarbeit doppelt verwundbar macht. Hier dazu nur eine Skizze. Viele Branchen (Pflege, Tourismus, Werften, Bau, Schlachthöfe etc.) fehlen.

Minijobber

Eine der ersten Nachrichten im Frühjahr: sieben Millionen Minijobber ohne Anspruch auf Arbeitslosen- und Kurzarbeitergeld. Laut Minijobzentrale 2 lag die Zahl dieser Jobs im Herbst mit 6,6 Millionen etwa 550 000 unter Vorjahr. Nach Altersgruppen waren besonders junge Menschen unter 25 Jahren und Rentner betroffen, nach Geschlecht Frauen. Die Forderung des DGB, alle Minijobs sozialversicherungspflichtig zu machen – bei Befristung auf unter drei Monate sind diese sozialversicherungsfrei – hat die Bundesregierung nicht umgesetzt.

Landwirtschaft

In der Landwirtschaft arbeiten etwa eine Million Menschen. 50 Prozent sind abhängig Beschäftigte, davon 60% Saisonkräfte. Von diesen 300 000 Menschen werden viele jedes Jahr zur Ernte aus Rumänien, Bulgarien etc. geholt. Hier hat Landwirtschaftsministerin Klöckner auf Druck der Landwirte die Sozialversicherungsfreiheit für diese Jobs von bisher drei Monate bis 31. Oktober auf fünf Monate ausgedehnt. Schon bisher kamen jedes Jahr Zehntausende Erntehelfer aus Osteuropa, arbeiteten hier für Mindestlohn und kehrten zurück, ohne Ansprüche auf Rente, Arbeitslosengeld etc. zu erwerben. Dieses Jahr konnten sie nun 5 Monaten so ausgebeutet werden. Zusätzlich lockerte Arbeitsminister Heil das Arbeitszeitgesetz und erlaubte bis zu 60 Stunden pro Woche. Lediglich ein Krankenversicherungsnachweis wird inzwischen verlangt.

Die „Initiative faire Landwirtschaft“ (DGB u.a.) weist darauf hin, dass die Bundesrepublik die ILO-Konvention 184 nicht ratifiziert hat. Diese fordert „bei Feldarbeit u.a. Schatten, Trinkwasser und, bei Aufenthalten über zwei Stunden, getrennte ständig benutzbare Toiletten“. „Diese grundlegenden Rechte gelten in Deutschland bisher noch nicht.“3 Im Oktober rief die EU-Kommission ihre Mitgliedsstaaten auf, die Lage dieser Beschäftigten stärker zu beachten. 4

Logistikbranche

Schon vor Jahren hatten Verdi und der Bundesverband Güterverkehr, Logistik und Entsorgung (BGL) darauf hingewiesen, dass Paketdienste wie Hermes, DPD und GLS nur mit Subunternehmen arbeiten. Dort seien die Bedingungen „vielfach prekär, wenn nicht gar katastrophal“, so die stellvertretende Verdi-Vorsitzende Andrea Kocsis. „Die Menschen dort verdienen schlecht, haben überlange Arbeitszeiten, sind oft nur befristet angestellt“. Die Beschäftigten der Subunternehmen würden oft von Leihfirmen aus Osteuropa angeheuert, kennen ihre Rechte nicht, werden in schlechten Unterkünften untergebracht und bekommen die Kosten dafür vom Salär abgezogen. „Oder sie hausen in Sprinterfahrzeugen“. Der BGL forderte schon 2017 die Regulierung der „Polen-Sprinter“. „Fahrzeuge dieser Gattung, deren Markenzeichen die Topsleeper-Dachkabine und ein osteuropäisches Kennzeichen sind, benötigen keine Güterkraftverkehrslizenz, die Fahrzeuge unterliegen weder der Maut noch dem Sonntags- oder Feiertagsverbot.“ 5 Durch die Zunahme des Onlinehandels dürfte sich das Thema seitdem weiter zugespitzt haben. Die Internationale Transportarbeitergewerkschaft ITF nennt das „Wegwerfarbeit für Wegwerfbeschäftigte“. 6 Mit einer Novelle des Entsendegesetzes hat der Bundestag im Juli versucht, wenigstens der ungleichen Bezahlung und dem Abzug von hohen Wohnkosten Schranken zu setzen und Mindestanforderungen für Unterkünfte zu formulieren. Aber die Novelle gilt nur für Entgelte, die per Gesetz oder in einem allgemeinverbindlichen Tarifvertrag geregelt sind. Und das Speditionswesen ist weiter ausgenommen. 7

Sozialhilfe

Dass „Ausländer“ in den ersten drei Monaten des Aufenthalts keinen Anspruch auf Sozialhilfe haben – eine Klausel, die sich u.a. gegen Saisonarbeiter*innen richtet, gegen Roma, Sinti usw. – sei hier nur erwähnt. Die Ablehnung von Sozialhilfe und ALG 2 gilt auch, wenn „Ausländer“ schon lange hier leben, aber gerade keine Arbeit haben, weil zum Beispiel ihr Kind zur Schule geht. Dieser jahrelangen Praxis der Jobcenter und Sozialämter hat der EUGH in einem Urteil im Oktober erstmals Schranken gezogen. Wenn die Kinder rechtmäßig zur Schule gehen, bekommen Mutter oder Vater nun ALG II. 8

(1) Tagesspiegel, 1.7.2020; (2) Minijobzentrale, 3. Qu. 2020; (3) Initiative Faire Landarbeit, Bericht 2020; (4) EU-Kommission, Dok. 11726/2/20; (5) Eurotransport, 25.7.2017; (6) Internetseite der itf, „prekäre Arbeit. Straßentransport“; (7) BMAS, 19.6.2020, Informationsportal Arbeitgeber Sozialversicherung, 29.7.2020; (8) EUGH, 6.10.2020.