Politische Berichte Nr. 6/2020 (PDF)21
Rechte Provokationen – demokratische Antworten

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Leseempfehlung: Dagmar Fohl: Wer ein einziges Leben rettet, rettet die ganze Welt, Roman, 220 S., 20 Euro, Gmeiner-Verlag

„Kein Held, kein Heiliger, kein Verbrecher“

Mit diesen Worten lässt Dagmar Fohl ihre Hauptfigur sich selbst charakterisieren: Der portugiesische Diplomat Aristides de Soares Mendes wurde bekannt durch seine Tätigkeit als Konsul in Bordeaux. In einer dramatischen Aktion rettete er im Juni 1940 viele Flüchtlinge beim Herannahen der Wehrmacht in den Süden Frankreich vor dem Tode – unter ihnen der überwiegende Teil Juden –, indem er gegen die Anordnung des faschistischen Diktators Salazar innerhalb weniger Tage ca. 30 000 Visa ausstellte.

Lothar Zieske, Hamburg

Mendes wird auch „der portugiesische Schindler“ genannt. Damit werden zugleich moralische Ambivalenzen angedeutet, die in seinem Leben und gerade auch im behandelten Zeitraum von 1938 bis zu seinem Lebensende (April 1954) eine wichtige Rolle gespielt haben: Der Retter Zehntausender war strenggläubiger Katholik, Vater von 14 Kindern aus der Ehe mit seiner Frau Angelina sowie einer Tochter aus einer geheim gehaltenen Beziehung mit einer französischen Musikerin, die zwei Jahrzehnte jünger war als er. Er hatte bis zu seiner herausragenden mutigen humanitären Aktion dem faschistischen Regime Salazars gedient. In Portugal gehörte er zur landbesitzenden Bourgeoisie.

Dagmar Fohls Roman lebt vor allem von der scharf akzentuierenden Heraushebung der biographischen Gegensätze in Mendes‘ exemplarischer Biografie. Sie gibt ihr die Form einer Autobiographie der Hauptfigur, verfasst fünf Monate vor dem Lebensende.

In diesem vor dem Diktator geheim zuhaltenden Rechenschaftsbericht kann er auch komplizierte, aber für das Verständnis wichtige Zusammenhänge wie die Änderungen der Passgesetze behandeln, ohne dass der Schreibfluss des Romans gestört wird.

Auf diese Darlegungen folgen Passagen, die sich in ihrer Dramatik zusehends steigern: beginnend mit der Aufrüttelung durch das Einzelschicksal eines RAbb. (PDF): iners mit seiner Frau und ihren sechs Kindern, über den Entscheidungsprozess, der sich über drei Tage („in Klausur“) hinzieht und der mit der Entscheidung endet: „Es gibt Visa für alle!“. Die Durchsetzung dieser Entscheidung gegen alle Widerstände auf politischer Ebene (Maßregelung durch Salazar) wie gegen materielle Bedingungen (Ausgehen der Formulare, die er schließlich durch Zeitungspapier ersetzt) und gegen die Erschöpfung stellt Dagmar Fohl in einer Weise dar, die an die expressive Sprache ihres letzten Romans „Frieda“ erinnert. Sie zieht ihr Lesepublikum in die fiebrige Atmosphäre eines entschlossen, aber letztlich doch auf verlorenem Posten Handelnden.

Der zweite Teil des Romans behandelt den unaufhaltsamen Absturz der Hauptfigur sowie seiner Familie und darüber hinaus seiner Geliebten. (Erstaunlich unbeschadet verbleibt seine illegitime Tochter.)

Mendes kann sein Handeln auch im Nachherein nicht bedauern. Er fühlt sich gegenüber dem Diktator Salazar im Recht. Doch dieser will an ihm ein Exempel statuieren. Mendes unterliegt in diesem Kampf. Finanziell ruiniert, stirbt er nach mehreren Schlaganfällen, bleibt aber bis zum Ende geistig klar.

Versöhnlich stimmt allein die Nachgeschichte. Mendes wird 1995 vom damaligen Präsidenten Mário Soares zu „Portugals größtem Helden des 20. Jahrhunderts“ ernannt. Mendes‘ Haus wird im Jahre 2000 zu einem Museum umgewandelt.

Dagmar Fohl hat ein Thema gewählt, das seit 2015 aktuell ist wie kaum ein anderes. Mendes‘ Verhalten steht im schreienden Kontrast zum völligen Versagen der Friedensnobelpreisträgerin des Jahres 2012 – der Europäischen Union. Dagmar Fohl hat es konsequent vermieden, ein Heldenepos zu schreiben. Sie hebt hervor, dass Mendes sich seine Entscheidung durch eine dramatische Auseinandersetzung mit seinem Gewissen abringen musste, dass eine solche Entscheidung jedoch auch Kraft verleihen konnte, die andererseits auf mittlere Sicht der Macht des faschistischen Staates nicht gewachsen ist. Aus seinem Scheitern zu Lebzeiten kann aber ein Fanal werden, wenn eine Autorin wie Dagmar Fohl das Leben des Handelnden in allen seinen Facetten einschließlich seines Nachlebens beleuchtet.

Abb. (PDF): Cover