Politische Berichte Nr. 6/2020 (PDF)22
Rechte Provokationen – demokratische Antworten

Redaktionsnotizen Leseempfehlung Soares Frank Walter – Eine RetrospektiveHamburg: Erfolgreiche Klage gegen Racial ProfilingMünchen: AfD scheitert mit Polemik gegen öffentliche Einrichtungen

Frank Walter – Eine Retrospektive

Anmerkungen nach einem Ausstellungsbesuch

01 Biografie

Olaf Argens, Schmitten

Bis Anfang November wurde im Museum für Moderne Kunst in Frankfurt am Main (MMK) die Ausstellung Frank Walter – Eine Retrospektive gezeigt. Die Arbeiten des in Antigua und Barbuda geborenen Künstlers wurden erstmals in einem Museum vorgestellt. Die Werke stehen in der Ausstellung in einem Dialog mit weiteren Künstlern*Innen1 und zeugen von Geschichte und Gegenwart des Kolonialismus in der Karibik sowie den geistesgeschichtlichen Zusammenhängen kolonialen und postkolonialen Denkens. In der letzten Zeit gab es mehrere Ausstellungen zu verwandten Themen im MMK. So etwa 2019 die Ausstellung „Weil ich nun mal hier lebe“, die sich mit institutionellem Rassismus und struktureller Gewalt in Deutschland auseinandersetzte und sich vor allem an Jugendliche wandte. Die nachfolgende Übersicht beruht auf einem Ausstellungsbesuch und dem Katalog.2

Warum lohnt es sich, in der Rubrik Rechte Provokationen – Demokratische Antworten dieser Zeitschrift auf die Ausstellung hinzuweisen? Weil sie vor allem das visuelle Regime von Rassismen thematisiert, das etwa in einem exotisierendem Blick zum Ausdruck kommt. Das Werk von Frank Walter scheint in Opposition zu den permanenten Zuschreibungen bezüglich Rassifizierung und Nation zu stehen, denen er sein Leben lang ausgesetzt war. Die Kenntnis seiner Biografie ist insofern wesentlich. Seine Kunst erscheint frei von der Brutalität, die in der Zuschreibung des Normativen lag und die außerhalb seines Kunstschaffens permanent anwesend war. Der damit verbundene subversive Akt war für Frank Walter die einzige Möglichkeit, den Anspruch zu erheben, ein eigenes, selbstbestimmtes und selbstdefiniertes Leben zu führen.1 Walters Betrachtungsweise und sein Werk tragen deshalb dazu bei, die Zuschreibung (kollektiver) Identitäten infrage zu stellen und zu kritisieren.

Bis zum Lebensende Walters entstehen etwa 5000 Gemälde und 600 Holzskulpturen, zahlreiche handgefertigte Holzspielzeuge, bemalte Bilderrahmen und Fotos. Er hinterlässt mehr als fünfzigtausend Seiten Prosa, Theaterstücke, Texte zu Geschichte, Philosophie, Politikwissenschaft, Genealogie und Kunst sowie über 450 Stunden Tonbandaufzeichnungen.

Walter wurde in der Kunstwelt vielfach als „Außenseiter“, „visionäre Stimme“ und „universeller Mensch“ beschrieben. Zuschreibungen wie diese überdecken jedoch die Komplexität seines Lebens an der Schwelle zwischen der kolonialen und der postkolonialen Welt. Weit davon entfernt, außerhalb der Strömungen und Veränderungen der Geschichte und gelebten Erfahrung zu stehen, sind Walters Kunstwerke vielmehr Zeugen der gewalttätigen und traumatischen Geschichte von Versklavung, Imperialismus und Kolonialismus, die Europa und die Karibik verbinden.3

Die Auswahl der hier kommentierten Bilder ist eher zufällig, nicht exemplarisch. Sie kann der Komplexität von Walters Werk in keiner Weise gerecht werden.

Abb. (PDF): In diesem Bild (Öl auf Karton) hat sich Walter mit weißer Haut gemalt.4 In einer konzentrierten Passage, in der Selbstbeobachtung und Einbildungskraft bildlich und intellektuell ineinander verwoben sind, schreibt er dazu:

„… Ich gab das erste Set mit vier Bildern in vier verschiedenen Posen zurück, mit einer leicht bronzenen Pigmentierung, aber fast weiß, außer an den Stellen, wo der Schatten meines Hutes auf mein Gesicht fiel. Ich mochte bronzene Gesichter von mir selbst. Ich spürte, wie eine Hand sich hinter meinem Kopf ausstreckte, als ob jemand mich angreifen wollte. Eine weiße Hand bewegte sich hinter meinem Kopf und zog einen dunklen Vorhang zur Seite, der das Licht absorbierte, das vom Kamerabereich auf mein Gesicht fiel. ‚Können Sie nicht sehen, dass Sie ein Weißer Mann sind?‘ … Das könnte sehr wohl zu meinem Besten sein, denn … die Leute aus der Karibik wollen verzweifelt darauf hinaus, dass ich ein Schwarzer Mann bin“5 …

Frank Walters Verhältnis zu seinem eigenen Bild war kompliziert. Es spiegelt sich darin nicht nur ein autobiografisch gut zu begründetes Gespür wider, sondern ein nicht unerhebliches Erbe des abendlichen Denkens im Allgemeinen. Dem Psychiater und Theoretiker des antikolonialen Kampfes, Franz Fanon, etwa waren die Rassismen von Kant und Hegel bekannt. Er schreibt:

„… Das Gewissen impliziert eine Art Spaltung, einen Bruch des Bewusstseins, das einen hellen und einen finsteren Teil hat. Damit es Moral geben kann, muss das Schwarze, das Finstere, das Konzept des ‚Negers‘ aus dem Bewusstsein verschwinden. Folglich kämpft der Schwarze Mann in jedem Augenblick gegen sein Bild“.6

Fanon war ein Zeitgenosse Walters und wird in der Ausstellung an verschiedenen Stellen zur Interpretation der Werke des Künstlers herangezogen. Für Fanon war die neurotische Struktur bei seinen Patienten*Innen die Bruchstelle, an der die Neuschaffung der Kolonialisierten als freie Menschen eingeleitet werden kann:

„Die neurotische Struktur eines Individuums ist ja gerade die Elaboration, die Herausbildung, das Aufbrechen von Konfliktknoten im Ich, die einerseits dem Milieu entstammen, andererseits der ganz persönlichen Art und Weise, wie das Individuum auf diese Einflüsse reagiert“. 7

Abb. (PDF): Das undatierte Selbstportrait zeigt Walter als dunkle Figur zwischen den ausufernden Ästen eines Baumes. Diese besondere Form der Landschaftsbilder lässt sich als Variation oder Neuerfindung der „Rückenfigur“ lesen. Die einsame Gestalt, die auf eine offene Aussicht blickt, wird meist mit den Malern der Romantik des frühen 19. Jahrhunderts in Verbindung gebracht, etwa Caspar David Friedrich oder William Blake. Diese Rückenfigur wird gerne als weißer Mann dargestellt, der – stellvertretend für die Bildbetrachter*innen – auf eine weitläufige Landschaft blickt. Diese Gemälde symbolisch aufgeladener Landschaften, religiöser Vorstellungswelten und persönlicher Vorstellungswelten bieten eine klare Vorgeschichte zu Walters eigenem Werk.8

Der zeitgenössische Künstler John Akomfrah, der sich wie Walter für die Erfahrungen der afrikanischen Diaspora und postkolonialen Migration interessiert, erklärt seinen persönlichen Zugang zur Romantik und seinen fortwährenden Dialog mit der Vergangenheit. Er bietet damit indirekt auch mögliche Erklärungen für Walters ausgeprägtes Interesse an dieser Epoche: „… Als künstlerische und philosophische Strömung ist die Romantik absolut entscheidend, um den Platz des Schwarzen zu verstehen. Denn sie erhebt allerlei Ansprüche – postreligiöse Ansprüche darauf, wo in der Sprache und in der Kunst sich die menschliche Form befinden sollte – was noch immer relevant ist … Mich interessiert sie als Bewegung: ästhetische und narrative Strategien, immer leicht umformuliert, immer mit einem modernem Touch …“9

01

Biografie

1926. Frank Walter wird auf Antigua, einer Insel der Kleinen Antillen, in der Karibik geboren. Antigua wurde im 17. Jahrhundert von der britischen Marine kolonisiert und als Kolonie annektiert. Zucker wurde in der Nachfolge von Tabak zum wichtigsten Handelsgut. Die auf Versklavung und Ausbeutung beruhende Plantagenökonomie entwickelte sich zum wichtigsten Wirtschaftszweig.

1939 bis 1944. Frank Walter besucht die Antigua Grammar School mit ausgezeichneten Leistungen, besonders in Latein, modernen Fremdsprachen und Geschichte.

1946 bis 1948. Walter erwirbt weitreichende Kenntnisse in der Zuckerindustrie durch verschiedene Aufgaben in der Produktion und der Verwaltung. Er besucht zudem Weiterbildungskurse in einem Agrarinstitut Antiguas.

1948. Im Alter von 22 Jahren wird er Manager im Antiguan Sugar Syndicate und ist damit der erste Schwarze Mann,10 der eine Führungsposition in der Zuckerindustrie Antiguas erreicht. Modernere Methoden im Anbau und in der Verarbeitung sowie seine Bemühungen, soziale Ausbeutung und rassistische Ungleichheit zu mindern, verschaffen ihm auch gesellschaftliche Anerkennung. Um seine Vorstellung einer grundlegenden Modernisierung verwirklichen zu können, entscheidet er sich 1953 zu einer auf zehn Jahre angelegten Ausbildungsreise nach Europa. Die Reise hat auch das Ziel, die Geschichte seiner Familie zu erforschen, denn die Vorfahren eines Familienzweiges stammen aus dem Raum Stuttgart. Zeitlebens bleibt für ihn die Familiengeschichte Gegenstand umfangreicher genealogischer Forschungen.

1953. Walter reist zusammen mit seiner Cousine Eileen Gallway nach England. Ihr in London lebender Onkel missbilligt die Verbindung zwischen den beiden und betrachtet Frank Walter aufgrund des in Europa virulenten Rassismus als Hindernis für Eileens Karriere. Als Einwanderer der Windrush-Generation11 erfuhr er einen besonders feindseligen Rassismus.

Den Aufenthalt finanziert Walter als ungelernter Arbeiter im Bergbau und in der Industrie. Er wechselt in Europa dabei häufig den Aufenthaltsort und die Unterkunft. Neben seiner Arbeit betreibt er naturwissenschaftliche und technologische Studien, besucht verschiedene Colleges und ist ein häufiger Gast öffentlicher Bibliotheken. In dieser Zeit entstehen philosophische Texte, literarische Arbeiten, eine Geschichte Antiguas sowie Zeichungen und Malereien.

1957/58. Es folgt ein längerer Aufenthalt in Westdeutschland. Im Rheinland trifft er Freunde und Bekannte von einer vorherigen Reise. In Gelsenkirchen arbeitet er in einer Kohlenzeche von Mannesmann.

1959. Walter besucht erneut Köln und Gelsenkirchen. Er berichtet von Halluzinationen. Die beschriebenen Zustände führen immer wieder zu kürzeren Aufenthalten in Kliniken und zu psychiatrischen Behandlungen.

1961. Seit Jahren notiert Walter rassistische Angriffe, denen er permanent ausgesetzt ist. Der Rassismus und seine ökonomisch prekäre Lage bewegen ihn zu einer Rückkehr nach Antigua. Als er feststellt, dass die Hauptinsel inzwischen weniger agrarisch als vielmehr touristisch geprägt ist, entscheidet er, sich auf Dominica in der Karibik niederzulassen. Walter richtet dort eine Produktion für Holzkohle ein, die bis zur Konfiszierung des Landes für einige Zeit erfolgreich arbeitet. Neben seiner Beschäftigung mit Malerei, Poesie und Musik beginnt Walter in dieser Zeit seine künstlerische Beschäftigung mit Holzskulpturen.

1967/1968. Walter kehrt nach Antigua zurück. Die Insel tritt den Westindies Associated States bei und erlangt die innenpolitische Autonomie von Großbritannien. Walter ist an der Gründung der National Democratic Party beteiligt und kandidiert für die Wahl zum Premierminister. Allerdings erfolglos.

1970. Ab 1970 führt er den Eisenwarenladen seiner Familie und arbeitet weiter kontinuierlich an seinem künstlerischen und schriftstellerischen Werk.

1973/1974. Walter konzipiert und plant umfangreiche Ausstellungen in Großbritannien und Westdeutschland.

1975 bis 1984. Walter pflegt seinen Onkel Stanley Walter bis zu dessen Tod. Tagsüber arbeitet er im Eisenwarenladen und als Fotograf im Press Photo Service. Die Abend- und Nachstunden sind seiner künstlerischen Arbeit gewidmet.

1981. Antigua erlangt die vollständige Unabhängigkeit von Großbritannien.

1993 bis 2009. Nach einem Rechtsstreit verliert er das Haus in St. John‘s, in dem er seit seiner Kindheit immer wieder gelebt hat. Auf einem abgelegenen Grundstück außerhalb von Liberta baut er ein Haus mit einem Atelier, in dem er bis zu seinem Tod am 11. Februar 2009 lebt und arbeitet.

Abb. (PDF): Foto: Frank‘s Photostudio, unbekannte Fotograf, ohne Titel, Ausstellungskatalog S. 413

(1) John Akumfrah, Khalik Allah, Kader Attia, Marcel Broodhaars, Birgit Hein, Isaac Julien, Julia Phillips, Howardena Pindell und Rosemarie Trockel (2) Frank Walter – Eine Retrospektive; Museum MMK für Moderne Kunst, Koenig Books (3) Frank Walter: Rekrut der Moderne, Gilene Tavadros, Katalog, S. 367 (4) Bildnachweis: Axel Schneider (5) Barbara Paca, The Last Universal Man, S. 281 (6) Fanon, Schwarze Haut, weiße Maske; zitiert von Cord Riechelmann, Katalog, S. 363 (7) Schwarze Haut, weiße Masken, zitiert von Cord Riechelmann, Katalog, S. 362. (8) Krista Thompson, Katalog S. 371. (9) zitiert von Barbara Paca, Katalog S. 382. (10) Schwarz ist eine Selbstbezeichnung und beschreibt eine vom Rassismus betroffene gesellschaftliche Position. Schwarz wird hier groß geschrieben, um zu verdeutlichen, dass es sich um ein konstruiertes Zurechnungsmerkmal handelt. Gemeint ist nicht die Hautfarbe. (11) Als Windrush-Generation wird eine Generation afro-karibischer Einwanderer*innen nach Großbritannien ab Ende der 40er Jahre bezeichnet (ein frühes Schiff hieß Empire Windrush). Sie wurden von der Commonwealth-Regierung gezielt angeworben, um die weltkriegsbedingten Lücken im imperialen Zentrum zu füllen. Diese Migrationsbewegung gilt als Auftaktmoment der britischen multikulturellen Gesellschaft. Katalog S. 380.