Politische Berichte Nr. 6/2020 (PDF)28
Diskussion – Dokumentation

Zur Forderung nach Einsetzung einer neuen Föderalismuskommission

Monique von Cyrson, Berlin, Harald. Pätzolt, Berlin, (12.11.2020)

Jüngst hat sich die Fraktionsvorsitzendenkonferenz der Linken der Forderung des Parlamentarischen Geschäftsführers der Bundestagsfraktion der Linken, Jan Korte, eine neue Föderalismuskommission einzusetzen, angeschlossen.1 Im Kontext des 70jährigen Jubiläums des Grundgesetzes wurde bereits vor Corona wissenschaftlich über den Zustand des föderalen Bundesstaates geschrieben.2 Seit Ausbruch der Pandemie erreichte das Thema eine breitere Öffentlichkeit. Nach einer Durchschau etlicher Stellungnahmen scheinen uns für eine Positionierung der Linken folgende Punkte für die weitere Diskussion über den Reformbedarf unserer föderalen Ordnung wichtig:

I. Klarheit über die möglichen Ziele einer Föderalismusreform in Zeiten von Corona

1. Ein mögliches Ziel könnte es sein, ein stabiles Level im irreversiblen Prozess langfristiger Unitarisierung zu erreichen. Oder, um mit Ursula Münch zu sprechen, temporär eine föderale Balance zwischen „shared rules“ (Mitwirkungsrechte und Einflussmöglichkeiten subnationaler Akteure bei zentralstaatlichen Entscheidungen) und „self-rule“ (eigenständige subnationale wie zentralstaatliche Entscheidungsmöglichkeiten) zu erreichen.3

Nach den Turbulenzen dieses Jahres ließe sich dieses Ziel auch für Linke plausibel begründen. Alle Vorstöße zu einer Überprüfung getroffener Maßnahmen (siehe unten: Aufgaben einer neuen Föderalismuskommission) verfassungsrechtlicher Art sowie der Effektivität kooperativer und kommunikativer Verflechtungen und Verfahren wären hier einzuordnen.

2. Ziel einer Föderalismusreform könne anders auch sein, den Prozess der Unitarisierung zu stoppen und diverse Entflechtungen zu schaffen, wie es Kritiker der Entwicklung, Peter Müller,4 Volker Ratzmann5 u.v.a.m. jüngst forderten. Kompetenzen wieder klar trennen, Ressourcen jeweils neu zuordnen usw. Systematisch wäre dieses Ziel dem unter 1 genannten nachgeordnet, erst einer umfassenden Prüfung und Bewertung der politischen und rechtlichen Praxis während der Pandemie sowie von deren Folgen und Wirkungen könnte zum Ergebnis haben, dass der Trend zur Unitarisierung und Zentralisierung gebrochen werden sollte.

3. Ziel könnte weiter sein, die „Politikverflechtungen“ des mittlerweile entwickelten „Kooperationsföderalismus“ nicht als „Politikverflechtungsfalle“ zu nehmen, sondern weiter auszubauen, zu gestalten. Hieße, die bekannten „Koordinationsmechanismen“ zu qualifizieren. Dabei könnten einzelne Problemfelder (Bildung, Gesundheit, Sicherheit u.a.) abgearbeitet werden.

Auch dieses Ziel dürfte als dem erstgenannten nachgeordnet gelten, bedürfte der umfassenden Evaluation des Geschehens.

Die Ziele 1 und 3 stünden wohl in der Tradition der bisherigen Reformen.

Für eine Reform mit dem Ziel 2 stünden die Chancen eher schlecht. Als Argumente wären einmal die Pfadabhängigkeit der Entwicklung des mittlerweile „unitarischen Bundesstaates“ anzuführen: die Opportunitätskosten für einen Richtungswechsel erscheinen den Akteuren auf Länder- wie auf Bundesebene wohl mehrheitlich als zu hoch. Und es ist zu erwarten, dass, weil „asymmetrischen Macht“ als eine sich selbst verstärkende Komponente der Politik gilt (das dürfte für das Verhältnis Bund-Länder unbestritten sein), dieses Ziel kaum zu erreichen scheint.6

Eher müsste man als Linke wohl die Sorge vor einer „unitaristischen Föderalismusreform“ dieser Tage haben. Eine Novelle des Infektionsschutzgesetzes (IfSG) und Versuche der Anwendung auf weitere Fälle von Krisen und Katastrophen seien nicht ausgeschlossen.7

So oder so, mit welcher politischen Intention, welchem der genannten möglichen Ziele auch immer, könnten sich im weiteren Verlauf der Corona-Krise Gelegenheiten ergeben, im Detail den einen oder anderen Richtungswechsel („Critical Junctures“), Brüche mit der bisherigen Praxis, herbeizuführen.8 Das könnte die Umsetzung des Parlamentsvorbehalts, eine national einheitliche Grundstruktur von Schutzmaßnahmen sein. Die Forderung nach einer „Parlamentarisierung der Pandemie-Bekämpfung“, einem allgemeinen Rechtsrahmen und kohärente Regeln steht ja im Raum. Siehe hierzu im folgenden Abschnitt („Aufgaben etc.“) die Hinweise auf entsprechend zu regulierende Felder an.9

Jan Kortes Vorschlag geht weiter als der nach Parlamentarisierung. Er zielt auf eine Föderalismuskommission mit Akteuren der föderalen deutschen Gesellschaft und denen der Politik. Er fokussiert auf genau die Probleme, die sich aus der politischen Reaktion auf die Pandemie ergeben haben. Das scheint uns das beste Framing für eine linke Positionierung zu sein.

II. Probleme/Mögliche Aufgabenfelder einer Föderalismuskommission:

1. Bestandsaufnahme und Neubewertung vorangegangener Reformen und Reformänderungen – 63 Änderungen hat das Grundgesetz seit 1949 erfahren, 24 davon – darunter sechs mehr oder weniger breit angelegte Föderalismusreformen – betrafen die föderale Machtverteilung. Unter dem Strich haben sie diese kontinuierlich zugunsten des Bundes verschoben. Die zahlreichen Änderungen verstehen sich als Lösung aktueller Herausforderungen, sind zum Teil jedoch zu technisch, gegenläufig und dysfunktional geworden.

2. Zuständigkeitsverflechtungen im kooperativen Föderalismus – Im Laufe der Jahrzehnte hat sich zwischen den Gliedstaaten und dem Bund eine Fülle von Aufgabenverflechtungen ergeben, sodass eine klare Trennung der Befugnisse kaum noch möglich ist. Gleichzeitig besteht die Notwendigkeit zunehmender Kooperation und Koordination hinsichtlich der Umsetzung staatsrechtlich mehrere Ebenen umgreifender Entscheidungen. Das führte zur Einrichtung zahlreicher informeller und formeller Gremien und bundesrechtlichen Vorgaben. In einer komplexen Beziehungsstruktur zwischen den Exekutiven und den obersten Verwaltungsbehörden hat sich ein System von Absprachemodalitäten und Zuständigkeitsverflechtungen entwickelt, dessen Effizienz an Stellen durchaus fragwürdig erscheint, die ursprüngliche Aufgabenverteilung zwischen dem Bund und den Ländern unterläuft und damit auch die Kompetenz der Parlamente schwächt.

3. Verfassungsmäßigkeit und Verhältnismäßigkeit der Corona-Maßnahmen – Es ist die Frage zu klären, ob die umfassenden und grundrechtsbeschränkenden Allgemeinverfügungen der Länder, die auf der Grundlage von § 28 Abs. 1 S. 2 IfSG erlassen wurden, überhaupt verfassungskonform waren. Je schwerwiegender die Grundrechtseinschränkungen sind, um so bestimmter müsste die ermöglichende parlamentarische Rechtsgrundlage sein. Die allgemeinen Polizeigesetze der Länder, das Infektionsschutzgesetz des Bundes oder auch landeseigene Katastrophenschutzgesetze enthalten zwar Möglichkeiten für weitreichende Maßnahmen, diese Allgemeinklauseln sind entweder längst ausgeschöpft, reichen aufgrund ihrer Unbestimmtheit nicht aus, regeln andere Fälle oder geringere Maßnahmen.

Rückblickend sollte außerdem die Verhältnismäßigkeit der auf der Basis von § 32 IfSG getroffenen Maßnahmen bewertet werden, wonach die Landesregierungen unter gewissen Voraussetzungen ermächtigt werden, durch eigene Landesverordnungen entsprechende Gebote und Verbote zur Bekämpfung übertragbarer Krankheiten zu erlassen (Beispiel Zwangsverpflichtungen von Ärzten und Pflegepersonal in Bayern). Zum anderen sollte die Frage geklärt werden, ob ein Landesgesetzgeber angesichts der konkurrierenden Gesetzgebungszuständigkeit des Bundes überhaupt ein eigenes Landesgesetz zum Infektionsschutz erlassen darf.

4. Überprüfung der Gesetzesbindung von Regierung und Verwaltung – Aktuelle Kritik betrifft die Ermächtigung des Bundesgesundheitsministeriums, im Eilverfahren Sonderrechte zu verlängern und auszubauen und zu mittels Rechtsverordnungen, die nicht der Zustimmung des Bundesrates bedürfen, von verschiedenen Gesetzen (unter anderem Arzneimittelgesetz, Betäubungsmittelgesetz, Infektionsschutzgesetz und einer Vielzahl weiterer Gesetze auf dem Gebiet des Gesundheitswesens) abzuweichen. Dadurch wird das Verhältnis zwischen Gesetz und Verordnung umgekehrt und die Gewaltenteilung der föderalen Demokratie verschoben. Dass ein Bundesministerium per Notverordnung Gesetze des Bundestages ändern kann, ohne dass das Parlament Möglichkeiten hat, dies zu verhindern, wirft verfassungsrechtliche Bedenken auf.

5. Novellierung des Infektionsschutzgesetzes – Können Generalklauseln präziser gefasst und konkrete Bedingungen genannt werden, wann Standardmaßnahmen wie die Maskenpflicht, Sperrstunden oder Schulschließungen angeordnet werden können? Rechtsverordnungen müssen befristet sein. Alle wesentlichen Entscheidungen zur Grundrechtsausübung- und Einschränkung sind durch das Parlament zu treffen (Parlamentsvorbehalt). Berichtspflichten zu den Auswirkungen und der weiteren Notwendigkeit von Rechtsverordnung sind einzuführen. Notwendig sind außerdem Begründungspflichten für Rechtsverordnungen, damit transparent wird, mit welchem Ziel eine Maßnahme ergriffen wird und welche Abwägungen ihr zugrunde liegen. Schutzmaßnahmen und Ausgleichs- bzw. Entschädigungsansprüche müssen ausgeweitet werden.

6. Einführung eines eigenen Pandemierechts zur Krisenbewältigung – Anstelle der Novellierung bestehender Gesetze und Rechtsverordnungen, könnte ein umfassendes (Epidemie-)Gesetz entwickelt werden, das in außerordentlichen Lagen besondere Kompetenzen zuweist, Koordinationsgremien bestimmt und Verordnungsermächtigungen für das Bundesamt für Gesundheit enthält, um flexibel und rechtssicher in der jeweiligen Situation agieren zu können. Darin zu regeln wären z.B. bindende Rechtspflichten zur regelmäßigen Abstimmung und Aktualisierung von Notfallplänen in Bund und Ländern.

Der Vorschlag basiert u.a. auch auf der ungeklärten Frage, ob durch das Neben- und Miteinander von verfassungs-, bundes- und landesrechtlichen Bestimmungen und europäischen und völkerrechtlichen Vorgaben Verzögerungen bei der Entscheidungsfindung entstanden sind und die Akzeptanz einiger Maßnahmen in der Bevölkerung hätte gesteigert werden können.

Abb. (PDF): https://techneb.com/, „Flickenteppich handgemacht“ (Werbung).

1 Jan Korte: „Parlament stärken, Regierung kontrollieren, Corona bekämpfen“ (14. Oktober 2020). 2 Exemplarisch dafür: Felix Knüpling, Mario Kölling, Sabine Kropp, Henrik Scheller (Hrsg.), Reformbaustelle Bundesstaat, Springer 2020: Auch Arthur Benz: Demokratisches Regieren im Föderalismus: Neue Literatur zu einem alten Thema. In: Neue Politische Literatur, vol. 64, S. 513-535. Okt.2019 3 Ursula Münch: Die Begründung der bundesstaatlichen Ordnung: „Vielfalt in der Einheit“, https://www.sifo-dialog.de/images/pdf/konferenz-2019/fk19_muench.pdf 4 https://www.bundesrat.de/SharedDocs/downloads/DE/reden/20190919-rede-mueller-70-jahre-br.html 5 Volker Ratzmann: Brauchen wir eine neue Föderalismusreform? In Reformbaustelle Bundesstaat, S. 61-77 6 Dazu siehe Gerhard Lehmbruch: Föderative Gesellschaft im unitarischen Bundesstaat. Pvs $$:Jg: (2003), Heft 4, S. 545-571 7 Frank Decker: Bewährungsprobe für die parlamentarische Demokratien und den Föderalismus, Salzkörner 26. Jg. Nr. 2 April 2020 8 Siehe G. Lehmbruch, a.a.O., S. 553 9 H. M. Heinig/Chr. Möllers: Die Stunde der Legislative, FAZ 21.10.20, S.11