Politische Berichte Nr. 6/2020 (PDF)32
Diskussion – Dokumentation

Voneinander lernen und sich unterscheiden — eine marxistische Stimme zur Sozialenzyklika „Fratelli tutti“

Karl-Helmut Lechner, Norderstedt

Dialog gelingt nur, wenn beide Seiten aneinander Interesse haben und voneinander lernen wollen. Wenn Christen und Marxisten sich heute begegnen, geht es erfreulicherweise nicht mehr darum, alte zweihundertjährige Kämpfe neu aufzubereiten. Dennoch bedeutet Dialog auch immer, sich klar zu machen, worin man sich unterscheidet.

Der Papst ist mit Sicherheit kein Kommunist. Aber die Sehnsucht nach vollendeter Gerechtigkeit auf Erden ist ein hoch aufgeladener religiöser und theologischer Begriff, der viele seiner katholischen Gläubigen umtreibt. Und der Marxismus ist keine Religion. Der Marxismus will religionsfrei und säkular historische und gesellschaftliche Zusammen-hänge begreifen und daraufhin befreiende, emanzipatorische Handlungsmöglichkeiten erarbeiten – wohl wissend, dass es ungelöste Fragen an das Leben gibt. Marxisten wissen, Vernunft und Moral sind nicht einfach verschwistert. Ethische Fragen dürfen deshalb unter keinen Umständen aus der Pflicht zur Begründung entlassen werden.

Ein funktionales Verhältnis

Aus der Perspektive eines säkularen Beobachters ist das Verhältnis zu Erklärungen von Päpsten und Kirchenoberen zunächst funktional. Gemeint ist damit: Es sind nicht die theologisch-religiösen Begründungen dieser Erklärung, die neugierig machen. „Funktion“ fragt: Eröffnen diese Erklärungen für Menschen die Möglichkeit, sich politisch im Raum der Kirchen freier zu bewegen als bisher, sind sie auch für Unreligiöse „anschlussfähig“ zu gemeinsamen konkreten Projekten? Oder wirken diese päpstlichen Verlautbarungen wieder einmal mehr einschüchternd und frustrierend auf Menschen „guten Willens“?

Der Papst ist ein Könner der symbolischen Handlung. Das wurde schnell klar, als er für sein Pontifikat den Namen „Franciscus“ wählte. Keiner seiner 265 Vorgänger ist in der Geschichte der Kirche je auf die Idee gekommen, diesen Namen des Gründers des Bettelordens der Franziskaner (Franziskus, 1182 — 1226) für sich auszuwählen. Die Nachfolge Christi in Armut ist die programmatische Aussage, die mit diesem Ordensgründer verbunden ist. Der jetzige Papst Franziskus will nicht der strahlende Vertreter einer prunkvollen Kirche sein, wie sie der Vatikan-Staat, der mächtige Petersdom in Rom, die prächtigen Gewänder und Ornate symbolisieren. Sein Thema sind die „Armen“ und die christliche Armut. Was aber versteht er darunter?

Eigentum und Menschenrechte

Fragen wir nach der „Anschlussfähigkeit“ von weltlicher emanzipatorischer Praxis an die Verlautbarungen der Kirche, so seien hier zwei bemerkenswerte Gedanken der neuen Enzyklika „Fratelli tutti“ vom 3. Oktober 2020 dargestellt.

Erstens. Der Papst erklärt die Eigentumsfrage nicht mehr für absolut und unveränderlich. Unter der Überschrift „Die soziale Funktion des Eigentums neu denken“ schreibt er: „In diesem Zusammenhang erinnere ich daran, dass »die christliche Tradition« […] das Recht auf Privatbesitz niemals als absolut oder unveräußerlich anerkannt und die soziale Funktion jeder Form von Privateigentum betont« hat. Das Prinzip der gemeinsamen Nutznießung der für alle geschaffenen Güter ist das »Grundprinzip der ganzen sozialethischen Ordnung«, es ist ein natürliches, naturgegebenes und vorrangiges Recht. Alle anderen Rechte an den Gütern, die für die ganzheitliche Verwirklichung der Personen notwendig sind, einschließlich des Privateigentums …, »dürfen seine Verwirklichung nicht erschweren, sondern müssen sie im Gegenteil erleichtern«.“ Die päpstliche Erklärung betreibt nicht mehr die traditionelle kirchliche Verteufelung der sozialistischen Auffassung zum Privateigentum.

Das hat die Kapitalseite in der BRD recht gut verstanden. Nicht zufällig titelt die „Frankfurter Allgemeine Zeitung“ kurz nach dem Erscheinen der Enzyklika am 11. Oktober 2020: „Aus der Kirche austreten? Die Kapitalismuskritik des Papstes wäre ein Grund dafür!“

Zweitens: Der Papst nimmt Stellung zur Frage der Menschenrechte und damit zur Gleichberechtigung der Frauen. Dabei bezieht er sich in der Enzyklika auf die gemeinsame Erklärung mit dem Groß-Imam Ahmad Al-Tayyib aus dem Jahre 2019. Diese Passage lautet: „Im Namen Gottes, der alle Menschen mit gleichen Rechten, gleichen Pflichten und gleicher Würde geschaffen hat und der sie dazu berufen hat, als Brüder und Schwestern miteinander zusammenzuleben, die Erde zu bevölkern und auf ihr die Werte des Guten, der Liebe und des Friedens zu verbreiten …“

Wenn das die gemeinsame Position von Papst und Groß-Imam ist, bedeutet das einen großen Fortschritt. Bisher unterscheidet sich die „Erklärung zu den Menschenrechten“ durch den Islam erheblich von der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte. „The Cairo Declaration on Human Rights“ von 1990 spricht in Artikel 6 der Frau zwar die gleiche Würde, nicht aber die gleichen Rechte wie dem Mann zu. „Woman is equal to man in human dignity, and has her own rights to enjoy as well as duties to perform …“ — „Die Frau ist dem Mann in der Menschenwürde gleichgestellt und hat ihre eigenen Rechte zu genießen sowie Pflichten zu erfüllen …“

Der in der Enzyklika zitierte gemeinsame katholisch-islamische Text dieser Dubai-Erklärung von 2019 macht diesen Unterschied zwischen den Geschlechtern nicht. Es wird in diesem Dialog nicht theologisch darüber räsoniert, ob beide Religionen zum gleichen Gott beten. Sie sprechen von „gleichen Rechten“ für Frau und Mann im öffentlichen und säkularen Raum der Gesellschaft. Dies ist ein Fortschritt im religiösen Dialog.

Das Überleben der Menschheit

Es gibt viel an dieser päpstlichen Verlautbarung zu kritisieren. Vor allem, sie sei in vielem inkonsequent. Der Papst redet über alles, nur nicht über seine eigene Kirche, die dringender Reformen bedarf. Leonardo Boff, der bekannteste Vertreter der Theologie der Befreiung aus Lateinamerika, den der Kardinal Ratzinger „zum Schweigen“ verdonnert und der daraufhin sein Priesteramt niedergelegt hat, sieht die Dinge etwas anders. In einem Interview von 2016 sagte er: „Wissen Sie, soweit ich ihn verstehe, ist das Zentrum seines Interesses gar nicht mehr die Kirche, schon gar nicht der innerkirchliche Betrieb, sondern das Überleben der Menschheit, die Zukunft der Erde. Beides ist in Gefahr, und man muss fragen, ob das Christentum einen Beitrag leisten kann, diese große Krise zu überwinden, an der die Menschheit zugrunde zu gehen droht.“1

(1) http://www.fr.de/kultur/interview-arm-ist-man-nicht-arm-wird-man-gemacht-a-734522Abb. (PDF): „Papst Franziskus öffnet sich mit seiner Person und in seiner Enzyklika den sozialen und politischen Fragen der Welt“

Foto vor dem Vatikan; Osservatore Romano 2020